Lebensschule auf dem Fünfmeterturm

Ganz schön hoch: Manche Schritte erfordern Mut und Überwindung. (Foto: iStock)

Neulich in der Badi behaupteten meine Söhne, ich würde mich nicht getrauen, vom Fünfmeterturm zu springen. Wie bitte? Voller Tatendrang stieg ich aus dem Becken und kletterte die Leiter hoch. Das wäre ja gelacht! Die beiden Jungs folgten mir euphorisch. Wir würden alle nacheinander ins Wasser springen, ich als Erste, dachte ich – bis ich oben stand und herunterschaute. Ganz schön hoch. «Geh du mal vor», sagte ich, worauf unser Zweitgeborener Anlauf nahm und sprang. «Jetzt du, Mama!», rief es von unten, ich spähte kurz über den Rand hinaus und machte zwei Schritte zurück. Jetzt schien es mir noch höher.

Ich wollte ja springen, aber es ging nicht. Der andere Sohn sprang. Da war eine Barriere in meinem Kopf, und die war auch nicht weg, als beide Jungs schon wieder tropfend neben mir standen. Immer wieder zählte ich leise bis drei, doch kurz nach zweieinhalb verliess mich der Mut. Seit wann hatte ich Angst vor der Höhe? Auch wenn ich meinen Leichtsinn in diesem Moment schwer bereute: Die Leiter war tabu. Ich würde nicht rückwärts heruntersteigen, Barriere hin oder her.

Bloss die Oberflächenspannung durchbrechen?

Meine, aber auch andere Kinder merkten, dass ich tatsächlich etwas unter Stress stand und redeten mir Mut zu. Selten zuvor habe ich so viele gute und wohlwollende Ratschläge bekommen wie dort oben in luftiger Höhe. Die heutige Kindergeneration ist ein Haufen Individualisten, der nur an sich selber denkt? Überhaupt nicht wahr! Die halbe Berner Jugend schien sich auf dem Sprungturm gerade um mich zu kümmern. «Nur ein Schritt, und du bist einen grossen Schritt weiter», sagte mein Sohn. Der andere: «Du musst das Denken ausschalten!» Er würde mit mir ausharren, bis ich mich getrauen würde. «Einfach springen und alles andere ergibt sich von allein», riet ein Mädchen und war weg. «Sie ist bestimmt erst sechs», dachte ich laut. «Fünf», korrigierte mich ihre ältere Schwester, die neben mir stand.

Inzwischen waren über zwanzig Minuten vergangen und ich von der Sonne bereits vollständig getrocknet. «Und was, wenn ich beim Eintauchen ins Wasser einen Kälteschock erleide?», zweifelte ich noch einmal. Die Kinder blickten mich ungläubig an. «So kalt ist das Wasser nun auch wieder nicht», sagte eins kritisch. «Es handelt sich um eine optische Täuschung», erklärte mir da ein Junge. «In Wirklichkeit ist es gar nicht so hoch.» Er würde jetzt vor mir ins Wasser springen, fuhr er fort, dann sei die Oberflächenspannung gebrochen und ich könne leichter eintauchen. Ich klammerte mich an die Worte des rund siebenjährigen Physikers. Doch, das klang gut. Er musste die Oberflächenspannung dreimal durchbrechen, bis ich mich endlich überwinden konnte.

Auf zu den nächsten «Sprungturm-Situationen»

Beim Auftauchen applaudierten die Leute um mich herum – ich hatte es tatsächlich geschafft. Geschafft, ein Publikum anzulocken; tja, Souveränität sieht anders aus. Trotzdem war ich gerührt und ja, irgendwie glücklich. Nicht wegen des Publikums, sondern wegen der Kinderschar, die mich kein einziges Mal ausgelacht oder gedrängt, sondern mich und meine Angst ernst genommen hat.

Wir leben erst seit kurzem in der Schweiz, vieles ist für unsere Kinder neu und ungewohnt. Immer wieder sind sie mit «Sprungturm-Situationen» konfrontiert und müssen erste Schritte ins Unbekannte machen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, ihnen ein ähnliches Gefühl von Sicherheit, Geduld und Ruhe zu vermitteln wie sie es neulich mit mir in der Badi geschafft haben.

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41 Kommentare zu «Lebensschule auf dem Fünfmeterturm»

  • rodolfo sagt:

    Danke, völlig nachvollziehbar, war für uns Kinder/ Jugendliche jeden Sommer eine j
    kleine Mutprobe, nach einiger Zeit Badi dann die grössere, Köpfler vom 5m .. Turm
    Immer gelungen, immer Herausforderung.
    Dieses Jahr mit einer der Töchter auf dem Turm, bisschen Zeit gebraucht, aber sie sprang ihr Beipiel und bisschen verbale Motivation durch uns und andere verhalfen 2 anderen zum 1.Sprung Erlebnis.. wir waren alle sehr einfühlsam und kreativ dabei, niemand genervt, niemand wutde ausgelacht.. einfach grosse Zufriedenheit und glückliche Augen ab dem vollbrachten.

  • Doris Aerne sagt:

    Wenn (meistens) Frauen und Mädchen aus grösserer Höhe ins Wasser hüpfen und sich dabei die Nase zuhalten, machen sie das, damit kein Wasser in die Nase kommt. Das ist nämlich äusserst unangenehm und fühlt sich an, als würde einem das Chlorwasser direkt ins Hirn steigen. Welche Technik wenden die Buben/Männer an, die ihre Nasen beim Sprung nicht zuhalten? Würde mich schon seit Jahren interessieren.

    • Peter Vögeli sagt:

      @Doris Aerne: Als ich noch vom 5 Meter Turm sprang, war meine Technik während des Falls einschnaufen und vor dem Eintauchen ausschnaufen. Es sieht wirklich doof aus, sich die Nase beim Hüpfen zuzuhalten.

    • Markus sagt:

      Eigentlich ist es sinnlos sich die Nase zu zuhalten. Einatmen und die Luftanhalten genügt…..

      • Aquila Chrysaetos sagt:

        Da Luft komprimierbar ist kann simples Einatmen und Luftanhalten nicht der Grund sein, dass kein Wasser in die Nase eindringt.

  • Jessas Neiau sagt:

    Was für ein Sprung das dann schliesslich war dürfte klar sein. Eine verunglückte Arschbombe – das entspricht auch ungefähr dem völlig überflüssigen letzten Absatz dieses Artikels. Immerhin ist der Rest recht lustig geschrieben.

    • ralfkannenberg sagt:

      Man möchte meinen, dass Sie dabei waren. – Nein: ich bewundere diese Frau, die nach so langem Zuwarten doch noch den Mut fand, hinunterzuspringen. Und ich bin von den Kindern beeindruckt, die liebevoll Ratschläge gegeben haben statt die Mutter zu verspotten. Aber das sind wir Erwachsene , die das tun und andere wegmobben – die Kinder sind da noch „unschuldig“ und dieser widerliche Konkurrenzkampf, der unter uns Erwachsenen mittlerweile üblich ist, entspricht offensichtlich auch nicht ihrer Art zu denken.

      • Sportpapi sagt:

        Natürlich gibt es auch Konkurrenzkampf unter den Kindern und Jugendlichen auf dem Sprungturm. Nur wird die ältere Mutter ausser Konkurrenz gesehen.

  • extraterrestre sagt:

    Ich finde diesen Artikel sehr schön und ich teile die Meinung oder Erfahrung mit der Autorin. Wenn ich mal in einer echten Stress-Situation bin, oder einfach echt traurig oder enttäuscht – ich bin noch nie von meinen (oder anderen) Kindern ausgelacht worden, keines war ungeduldig oder hässig. Schon oft habe ich gedacht, so sollten wir Erwachsenen viel öfter unseren Kindern in Stresssituationen begegnen, denn es ist das, was wirklich hilft: Druck wegnehmen, gut zureden, Mut machen, Zeit lassen. Einmal mehr etwas, was wir von unseren Kindern lernen können!

  • ralfkannenberg sagt:

    Sehr schöner Artikel. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten solchen Sprung, allerdings habe ich mir hierfür einen Tag ausgesucht, an dem ich alleine im Schwimmbad war. Mehrfach bin ich die Leiter wieder hinuntergestiegen und vom nicht wesentlich weniger unangenehmen 3m-Brett ins Wasser gehupft, bis ich es irgendwann einmal geschafft hatte vom 5-er runterzuhoppsen. Tatsächlich lebte ich noch und ich weiss noch, wie ich sofort wieder hoch und noch ein zweites Mal runtergehoppst bin. Danach aber war auch schon gut, man(n) muss ja nicht übertreiben …

  • Thomas Külling sagt:

    Die Quintessenz am Schluss ist wirklich schön. Die Art der Kinder, der Autorin Mut zu zusprechen ist das Natürlichste, das Menschlichste. Die „the winner takes it all“-Mentalität, die durch die Elite in der Wirtschaft gepflegt wird, ist dagegen unnatürlich und widerlich. In der Erwachsenenwelt sind Verbesserungen sicherlich denkbar.

    • tststs sagt:

      Ich weiss schon, weshalb ich mein Geld in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen (und ab&zu Kindern) verdiene.
      Bedeutend angenehmer als mit Erwachsenen….

  • Rita Cansino sagt:

    Was für ein schöner Artikel!

  • Michael Berger sagt:

    Ich bin dieses Jahr nach mindestens 10 Jahren wieder einmal vom 5-Meter Brett gesprungen. Um meinem Sohn die Angst zu nehmen. Während ich als Kind viel und wohl ohne Furcht gesprungen bin, kam es mir plötzlich auch recht hoch vor. Wie ein Kind im Text vorschlägt, habe ich also das Denken abgeschaltet und bin gesprungen, bevor ich Zeit hatte, über die Höhe nachzudenken. Und danach habe ich meinem Sohn genau denselben Tipp gegeben. Das scheint tatsächlich zu nützen.

  • Muttis Liebling sagt:

    Man hat nichts im Leben verpasst, wenn man nie in einem Schwimmbad war und nicht weiss, was ein Sprungturm ist. Auf die Nase fallen kann man unter viel einfacheren Bedingungen lernen.

    • Roxy sagt:

      Noch weniger hat man im Leben verpasst, wenn man gar nicht erst anfängt zu leben.

      • Muttis Liebling sagt:

        So sahen es die Stoiker. Das Beste ist es, gar nicht erst geboren zu werden. Aber wenn es denn schon passiert ist, sollte man es kurz fassen.

    • Emil Eugster sagt:

      Doch man hat vieles verpasst. Besonders als Kind und noch spezieller während der Sommerferien wenn man als Kind fast jeden Tag hin darf. Kinder sind sehr soziale Wesen.
      Da entwickelt sich ein ganz eigene gesellschaftliches Mikroklima in einem Schwimmbad. Kinder lernen mit fremden umzugehen. Kinder lernen aufeinander Rücksicht zu nehmen. Kinder lernen Konflikte zu überwinden. Kinder lernen vom Fünfer zu springen. Kinder lernen sich frei zu bewegen. Kinder lernen Kinder aus anderen Kulturen kennen und vieles mehr.
      Man hat vieles im Leben verpasst, wenn man nie in einem Schwimmbad war.

    • tststs sagt:

      Doch, man verpasst im Minimum die Badi und den Sprungturm…
      Man kann freilich darüber diskutieren, wie entscheidend dies nun für das Leben, das Universum und den ganzen Rest ist, aber verpassen tut man definitiv etwas 😉

      • Muttis Liebling sagt:

        In dem Sinn verpasst man auch etwas, wenn man keine Drogenerfahrung sammelt. Ein umfassendes gegenständlich- kulturelles Verständnis bleibt damit verschlossen. Nur kommen die meisten Menschen ohne dem aus. Wie auch ohne Sprungturm.

    • Brunhild Steiner sagt:

      … und abgesehen vom schon Erwähnten,
      gehts ja auch nicht drum wie man möglichst effizient lernt auf die Nase zu fallen; sondern wie wir uns (ausserhalb der Kernfamilie und eigenen vier Wände) gegenseitig ermutigen&beistehen können…

  • Reincarnation of XY sagt:

    Ja, so ist doch die heutige Jugend: Interessiert, hilfsbereit und verständnisvoll.
    Die Welt wird immer besser. Der Fortschritt ist unaufhaltsam. Darüber wird einfach viel zu wenig berichtet, darum glauben es die Wenigsten.

    In diesem Sinne besten Dank.
    Auch wenn es kein 5Meter „Brett“ gibt und ich meine Sprungturmkarriere schon lange an den Nagel gehängt habe.

    • zysi sagt:

      So war zumindest auch in den 80-er Jahren bei uns die Jugend – das 10m Turmspringen war jedes Mal ein Ereignis, wo sowohl Kinder die Eltern oder umgekehrt einander unterstützt und ermutigt haben.

      Scheint mir also in unseren Breitengraden keine Weltverbesserungsentwicklung zu sein…

      Hingegen sind die Unterhosen Träger doch häufiger anzutreffen.

      • Reincarnation of XY sagt:

        In der Schweiz trugen auch schon in den 80er Jahren die meisten Menschen Unterhosen (allerdings nicht auf dem Sprungturm). Aber ich bin überzeugt, dass weltweit sich heute tatsächlich mehr Menschen Unterhosen leisten können, als vor 30 Jahren.

  • Sportpapi sagt:

    Fünfmeterbrett? Wo gibt es so etwas?

    • Blog-Redaktion sagt:

      Die gibt’s in zahlreichen See- und Freibädern.

      • Sportpapi sagt:

        Ich will ja nicht kleinlich sein. Aber wenn ihr mir ein Beispiel zeigen könntet?
        Normalerweise gibt es Bretter nur bis 3m, danach ist es ein Turm.
        Aber ändert ja nichts an der Geschichte.

      • Christoph Bögli sagt:

        Alles über 3m sind normalerweise keine Sprungbretter, sondern Sprungtürme. Sprungbrett bezieht ich effektiv auf „Bretter“, also flexible Sprungvorrichtungen, die ein Federn zulassen. Weil man damit bis zu einigen Metern zusätzlicher Höhe gewinnen kann, ist das für grössere Höhen recht gefährlich und wird darum m.W. auch kaum irgendwo verwendet..

      • Blog-Redaktion sagt:

        Ahaaa. Turm statt Brett. Nun denn, wieder was gelernt, danke sehr. /gb

    • Regula Portillo sagt:

      Ja, Sie haben natürlich Recht. Kein Brett, sondern Turm! Sehr hoher Turm;)!

  • Karl-Heinz sagt:

    Auf dem Sprungbrett können Kinder lernen, mit überschaubarem Risiko auch mal auf den Bauch zu fallen. Eine Lehre fürs Leben.

  • Brunhild Steiner sagt:

    Freut mich sehr mal sowas erfrischend-mutmachendes von der Elternfront zu lesen! 😀 (es wird mich schätzungsweise jedoch nicht dazu bewegen das selbst auszuprobieren, gehöre ich doch zur Sorte die beim 3m-Brett die Angelegenheit per Leiterrückzug beendet hat…)

    Gutes Eingewöhnen und weiterhin so viel Wohlwollen/Unterstützung!

  • Stefan W. sagt:

    Ich wäre wohl trotzdem nicht gesprungen. Und das obwohl die Kommentare der Umstehenden bei einem Mann wohl weniger freundlich ausgefallen wären, als bei einer Frau (Gleichberechtigung, wo bist du, wenn man dich braucht?)
    Wie auch immer. Nebst der Weisheit „Man muss sich auch mal überwinden“, versuchte ich eigentlich immer, meinen Kindern auch die Weisheit nahezubringen: „Wenn du merkst, dass du auf dem falschen Weg bist, dann kehr um, egal was die Anderen sagen“.

    • Sportpapi sagt:

      @Stefan W: Von einer Frau wird halt weniger erwartet, dass sie vom Sprungturm springt. Aus Erfahrung.
      Die Frage ist viel mehr: Warum springen Mädchen so viel seltener als Jungs, und wenn, dann meist nur auf die Füsse?
      Und, ein Mysterium für sich: Warum halten sie sich dabei noch die Nase zu?

    • Tina sagt:

      Toller und sympatischer Kommentar Stefan W.!

  • Keksi sagt:

    Danke – Ihr Artikel hat mir den Morgen versüsst!

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