«Vielleicht brennt heute Nacht unser Haus ab»

Steht die Hütte in Flammen, sollte das Kind weder durchdrehen noch allzu gelassen bleiben. Bild: Dave Roth (Flickr, CC BY-NC 2.0)
Vor ein paar Tagen löcherte mich der Brecht bei einem Waldspaziergang mit Fragen, die ich ihm nicht beantworten konnte. Ich war sprachlos. Nicht etwa im übertragenen Sinn, nein: Ich konnte tatsächlich keinen verständlichen Satz mehr äussern. Ein paar Stunden später beschied mir eine Neurologin, dass ich nicht sterben werde – alles in Ordnung. Ausser, dass ich gerade mit der höchsten Wahlfranchise ein paar Stunden in der Notaufnahme lag.
Was aber, wenn ich tatsächlich einen Hirnschlag gehabt hätte? Allein mit dem Brecht im Wald. Was, wenn die Grossmutter beim Hüten plötzlich ohnmächtig wird? Was, wenn der Rauchmelder losheult, während Mutti im Garten Schnecken resettelt?
«Alarmieren – retten – löschen»
Muss ein vierjähriges Kind wissen, wie man in einer Notsituation richtig handelt? Es wäre ja schon wünschenswert, dass der Brecht das Haus verlässt, statt mit dem Rauchmelder um die Wette zu jodeln. Oder dass er Hilfe holt, statt dem bewusstlosen Grosi auf dem Bauch rumzuhüpfen. Und dann ist da noch der Klassiker aller Verhaltensregeln: «Geh nie mit jemand Fremdem mit! Und auch nicht mit Onkel Johannes, dem Säufer.»
Bei aller Liebe zur Vorbereitung auf das Leben und seine Notsituationen sollte man aber zwei Fakten bedenken:
- Kinder können Wahrscheinlichkeiten schlecht einschätzen. Fast noch schlechter als Erwachsene. Die Eltern sagen: «Falls jemals Einbrecher in unser Haus…» – Maximilian-Jason hört: «Heute Nacht kommen 5 dunkle Gestalten und köpfen all deine Plüschtiere.»
- Im gleichen Alter, in dem Ihr Kind endlich Tox-Info 145 wählen könnte, stehen entwicklungspsychologisch auch die grossen Angstphasen an. Da sagen Sie einmal beiläufig «Kreuzotter», und das Kind schwitzt fünf Nächte durch.
Markus und der Kleiderstapel des Grauens
Dazu eine Anekdote aus meiner Kindheit. Jeden Abend sollte ich meine Kleider schön zusammenfalten und auf einen Stuhl legen. Das Argument meiner Mutter: «Falls in der Nacht das Haus brennt, kannst du einfach die Kleider schnappen und rausrennen.» Kein Gedanke hat den jungen Markus so sehr beschäftigt wie der, dass irgendwann unser Haus abbrennen wird. Und ich wünschte, die Angst wäre auf meine Kindheit beschränkt geblieben. Ich sage es mal so: Unsere aktuelle Wohnung ist technisch nicht sehr hochgerüstet, aber wenn einer der 450 Rauchmelder etwas Verdächtiges riecht, dann blinken all unsere Deckenlampen rot.
Es braucht Gefühl, keinen Katastrophen-WK
Ja, wir haben dem Brecht erklärt, wie er sich in gewissen Notfallsituationen verhalten soll. Auch aus psychologischen Gründen: Passiert etwas Schlimmes, soll er handeln können, statt alles hilflos zu erleben. Ob ein vierjähriges Kind eine Handlungsinstruktion im Ernstfall anwenden kann, weiss ich nicht. Das ist schwer zu überprüfen. Ich lege mich nicht testhalber in einen See aus 5 Flaschen Ketchup und spiele den verblutenden Vater. Wir wiederholen das Thema auch nicht regelmässig oder gehen zu sehr in die grausligen Details. Schliesslich gilt es, abzuwägen, was man seinem Kind zumuten kann: Dass sein Zuhause bei 1000 °C abfackelt, findet es bestimmt schlimmer, als wenn Papa in der Küche liegt und in einer lustigen Fantasiesprache spricht.
Ich weiss, wovon ich rede: Kürzlich weckte mich der Brecht mitten in der Nacht: «Papa, ich habe Angst, dass ich verbrenne.» Er war am Vortag bei meiner Mutter. Und so flüsterte ich ihm verständnisvoll zu: «Ich auch, Brecht, ich auch.»
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17 Kommentare zu ««Vielleicht brennt heute Nacht unser Haus ab»»
Genau den gleichen Spruch mit den schön zusammengelegten Kleidern hat meine Tante immer gemacht, wenn ich bei ihnen in den Ferien war, ich war eigentlich sehr gern dort. Aber im zweiten Stock des alten Holzhauses, in dem es immer irgendwo wie Knistern getönt hat, hatte ich nur noch Angst.
Ich habe dort keine Nacht mehr gut geschlafen und war froh, als ich nicht mehr dort übernachten musste.
Super Text, sehr amüsant. Wir leben momentan auch mit entwicklungsbedingten Kinderängsten – somit voll beim Thema – und ich musste richtig schön lachen.
Spitzenfoto: Das Mädchen guckt, als hätte es das Haus angezündet.
Das habe ich hingegen auch gedacht. Der Blick hat etwas von Chucky….
Nicht zufällig, die Dame, der Herr. Das ist das Originalbild eines der bekanntesten Internet Memes des letzten Jahrzehnts: Disaster Girl.
http://knowyourmeme.com/memes/disaster-girl
Was um alles in der Welt ist ein Internet Meme ? Memmen kenne ich zur genüge – aber wer oder was soll jetzt ein Meme sein ? Anglizismen at it’s worst ?
Es ist und bleibt letztendlich ein Foto mit einem Mädchen, dessen Blick diverse Interpretationsmöglichkeiten zu dem dahinter abgebildeten Geschehen zulässt. Nicht mehr und nicht weniger. Meme…….
Unbedingt. Die perfekte Illustration zu Stephen Kings „Firestarter“. Ich sage nur: Pyrokinese.
ja – in Kriegs- oder Waldbrandgebieten (aber darum ging es im Blog ja nun wirklich nicht …. )
dann jagt man dem Kind auch keine Ängste ein – genauso wenig wie Eltern in Afrika einem Kind Angst einjagen, wenn sie „Schlangen auf dem Schulweg thematisieren“
in solchen Umständen würden wir eben das thematisieren und niemand müsste auch einen Blog darüberschreiben, es geht um die Neurosen, welche Eltern auf ihre Kinder übertragen, nicht um das Besprechen der Alltagsgefahren.
Es ist in der Tat schwierig, die richtige Balance zwischen „für Gefahren sensibilisieren“ und „unnötig Angst machen“ zu finden.
Meine Kinder bekamen auf dem Chindsgi-Heimweg einen Kühlschrank-Magnet geschenkt – vom Fahrer einer Tiefkühlkost-Auslieferfirma. 😉 Daheim war das für mich Anlass, ihnen so ernst wir möglich klarzumachen, von Fremden keine Geschenke anzunehmen oder mit dem Versprechen auf solche irgendwohin mitzugehen. Aber es war nicht einfach, ihnen das „Warum nicht“ zu erklären, ohne unnötig Angst zu machen.
Für mich hört sich das alles sehr abwegig an.
Ich kann mich nicht erinnern meinen Klein-Kindern jemals irgendwelche Tipps für „falls es mal brennt“ oder ähnliches gegeben zu haben und ich bin einigermassen erstaunt, wenn das andere tun.
Man sagt: „Nie auf die Strasse rennen, zuerst schauen etc.“ … das Szenario durchgehen, mit dem man tatsächlich konfrontiert wird.
Aber OK – jetzt weiss ich, woher Mitmenschen evt. ihre Neurosen haben…
Schön, wenn sie wenigstens versuchen, sie nicht an ihre Kinder weiterzugeben.
Manche sind eben auch mit dem Szenario „Hausbrand“ konfrontiert.
Aus der Tatsachen, ‚manche‘ werden Lottomillionär, leitet sich keine Notwendigkeit ab, den Umgang damit zu trainieren.
Man kann Kindern beibringen, dass es 3 Ereigniskategorien gibt: Wird passieren, kann passieren, könnte, aber wird nicht passieren.
Bei Kategorie 3 sagt man dem Kind, unser Haus brennt nicht und in 99’999 Fällen von 100’000 stimmt die Aussage. Selten sind prospektive Elternaussagen so genau.
…und weil einige wenige mit diesem Szenario konfrontiert sind, soll nun flächendeckend allen Kindern Angst eingejagt werden?
@Röschü: Nein
@Muttis Liebling – lesen Sie was „13“ dazu schreibt.
Je nach Quelle gibt es in der Schweiz zwischen 12’000 und 20’000 Brandfälle pro Jahr. Und nein, roxy, eben nicht nur in Waldbrand- oder Kriegsgebieten (diese wären ja dann eher nicht in der Schweiz). Die Wahrscheinlichkeit mit einem Brand zu tun zu haben, dürfte damit geringfügig höher sein, als Lottomillionär zu werden.
Es spricht auch niemand von einer jährliche Feuerwehrübung oder so, aber zu thematisieren, wohin sich das Kind wenden soll und kann, nicht nur im Brandfall, sondern auch sonst, macht durchaus Sinn. Und zu wissen, wie man ein Telefon bedient, ist ja auch ohne Notfall ziemlich nützlich. Ich sehe gerade das Problem nicht.
Danke, 13 für die wie immer vernünftigen Worte. Ich sehe das gleich: Niemand will sein Kind mit Horrorszenarien verängstigen. Es schadet aber kaum, dem Kind ein paar sinnvolle Verhaltensweisen mitzugeben. Bei uns bedeutet das zum Beispiel: Zu welchen Nachbarn soll es gehen, falls irgend etwas passiert? Kriterien: Wohnen auf der gleichen Strassenseite, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Hause, können die Erklärungen eines Kindes nachvollziehen.
@ roxy
Bei uns war das ein grosses Thema nachdem das Haus einer Kindergartenfreundin meiner Tochter komplett abgebrannt war. Die Familie war zum Glück nicht zu Hause, hat aber alles verloren. Dieses Szenario ist sogar viel wahrscheinlicher als die Geschichte des Kinderräubers, und trotzdem werden die Kinder darauf häufiger sensibilisiert.
Was ich aber wichtig finde, ist die Aussage im Text, dass auch etwas passieren kann, wenn wir mit den Kindern zusammen sind. Immer wird ja das Bild gezeichnet, man sollte Kinder nie alleine lassen (Haus, Garten, Auto, auch ohne Hitze), weil genau dann etwas passiert. Aber es kann eben auch etwas passieren, wenn wir dabei sind. Gerade ältere Kinder können da reagieren. Meine kennen dafür die Nummer 112. Dramatisieren muss man aber nicht.