Milchpumpen und eine verpasste Chance


Charlize Theron im Ewig-Loop: Offizieller «Tully»-Trailer. (Quelle: YouTube)

Wahnsinnig viel zugenommen hat sie für den Film. Jetzt sieht sie richtig normal aus. Die Rede ist von Charlize Theron, die in dem neuen Film «Tully» die völlig überforderte dreifache Mutter Marlo spielt. Und das grandios. Allerdings fragt man sich, ob es in ganz Hollywood nicht eine andere ebenso begnadete Schauspielerin mit normalen Massen gegeben hätte. Wäre ein Statement gewesen. Aber klar, es ist natürlich eine wirksame PR-Massnahme, ein dünnes Model auf Normalgrösse aufzupumpen. Wenngleich sich der Effekt mit der Zeit abnutzt.

Egal. Darum geht es nicht in dem Film. Bevor Sie weiterlesen, muss ich Sie jedoch warnen: Ich werde spoilern, die Auflösung verraten. Anders kann ich die Geschichte nicht besprechen.

Sie haben also die Chance, JETZT wegzuklicken.

Sie sind noch da? Ich kann Sie beruhigen: Der Film verliert nicht, wenn man die Auflösung  kennt. Seine Stärken liegen obenhin viel mehr in den einzelnen Szenen und Dialogen als in der Geschichte als Ganzem.

Man erkennt sich wieder…

Unüberhörbar, wie die Frauen im Kinosaal zustimmen, mitleidig oder beklemmt raunen, wenn Sie der 40-jährigen Marlo dabei zusehen, wie sie höchst schwanger mit der Schulleiterin ihres Sohnes zofft, wie sie nach der Geburt schlaff herumliegt, sich Milch abpumpt und im Ewig-Loop vom Babyphone geweckt wird, wickelt, stillt, zwischendurch noch haushaltet und den grösseren Kindern eine Tiefkühlpizza vorsetzt. Oder sich neben ihren Mann ins Ehebett sinken lässt, der jeden Abend mit Kopfhörern zockt. In all diesen Details strotzt der Film von präzisen Beobachtungen und Ironie, man erkennt sich wieder.

Charlize Theron spielt in «Tully» die überforderte Mutter Marlo. (Foto: Focus Features)

Bei einem denkwürdigen Nachtessen bei Marlos sehr wohlhabendem Bruder nimmt das Verhängnis seinen Anfang. Dessen Frau ist die wandelnde Alles-im-Griff-haben-von-Figur-über-Haus-zu-Ehe-und-Beruf-Mutter. Das perfekte Paar will Marlo, der Antithese dazu, mit einer sogenannten Nacht-Nanny Unterstützung schenken. So was hätten heute alle, die es sich leisten könnten.

Die Nacht-Nanny Tully

Marlo sperrt sich erst, lässt sich dann aber vermeintlich auf das Angebot ein. Nun kommt die Nacht-Nanny Tully ins Spiel. Eine Mischung aus Mary Poppins für Mütter, feuchtem Männertraum, Eso-Tante und bester Freundin. Und Marlo blüht förmlich auf. Endlich kann sie sich wieder ausruhen, wie es scheint. Während Tully wie eine Fee das Haus putzt, Muffins bäckt, Lebensweisheiten absondert und mit Marlo Sangria trinkt. Und natürlich ganz nebenbei noch eine begnadete Baby-Flüsterin ist.

Diese Nanny und ihre Beziehung zu Marlo irritiert stets ein wenig. Und das ist gewollt. Denn am Ende des Films stellt sich heraus — Achtung, Spoileralarm! — dass Tully lediglich in Marlos Kopf existiert hat. Sie ist das Alter Ego der vollkommen überforderten Frau, ihr jüngeres Selbst. Alle Wunder von Tully hat Marlo demnach selbst vollbracht. Dass sie sich durch ihre eigene fiktive Hilfsfigur erst recht weit über das Erträgliche hinaus ausgebeutet hat und beinahe bei einem Selbstunfall gestorben wäre, könnte tief berühren. Tut es aber nicht.

Es wird zwar erwähnt, dass Marlo nach der zweiten Geburt eine postnatale Depression durchlitten hat. Aber irgendwie scheint das keinen so wirklich zu kümmern. Auch nicht die Macher. Sonst würde nicht nur schlampig am Schluss des Films angedeutet, dass Marlo nach der dritten Geburt eine Psychose erleidet und ihr Umfeld das erst nach ihrem Unfall bemerkt.

Das Thema hätte viel mehr zu bieten

Schade. Denn es tut wirklich not, dass sich jemand filmisch und fundiert mit psychischen Problemen nach der Geburt auseinandersetzt. In «Tully» passiert leider nicht viel mehr, als dass Marlos Mann sich dafür entschuldigt, nichts bemerkt zu haben und zum Schluss gemeinsam mit ihr Geschirr spült.

Das ist platt und wird dem Thema in keiner Weise gerecht. Und so scheitert ein in seinen Einzelteilen so einfühlsamer, kluger und humorvoller Film daran, dass die Macher zwar ein sehr ernstes Thema abhandeln, sich dabei aber nicht die Hände schmutzig machen wollten.

Ich wünsche mir noch einen mutigeren, tieferen Film über Überforderung, Perfektionismus, Erwartungen, postnatale Depression und psychische Störungen nach der Geburt. Von mir aus sehr gern wieder mit Charlize Theron. Und es ist auch nicht nötig, dass sie dafür wieder PR-wirksam futtern und dann hungern muss. Dass sie das hinkriegt, wissen wir ja jetzt wirklich.

Weitere Postings zum Thema: «Wir ausgebrannten Mütter» und «High Heels direkt nach der Geburt».

4 Kommentare zu «Milchpumpen und eine verpasste Chance»

  • Adina sagt:

    „Sehr wohlhabende alles-im Griff-habende“ Eltern vs. Marlo die Tiefkühlpizza auftischt und sich nur eine fiktive Hilfe leistet: Spielt Geld hier eine Rolle?
    Hat Marlo wegen ihren Kindern auch ihre Stelle verloren? Allein schon das würde für eine postnatale Depression reichen. Und wenn andere Problemen noch dazu kommen, dann Gott helfe! Oder eben Tully. Aber sicher nicht der Vorwurf man habe den Anspruch eine perfekte Mutter zu sein.
    Apropos perfekte alles-im-Griff-habende Mütter: Diese holen sich Hilfe. Sehr gut so. Aber wieviele dieser Frauen beneiden eine Marlo dafür dass diese sich so liebevoll es geht um ihre Kinder kümmert? Die Intensität der Mutterliebe ist nicht bei allen Frauen gleich. Und Schuldgefühle („Ich liebe meine Kids nicht genug“) machen auch unglücklich.

  • Widerspenstige sagt:

    Ausgezeichneter Artikel von Andrea Fischer und ja, auch ich warte noch auf eine vertiefte Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft ‚über Überforderung, Perfektionismus, Erwartungen, postnatale Depression und psychische Störungen nach der Geburt‘. Können Diskussionsplattformen sein real oder virtuell. Kann natürlich auch ein Spielfilm sein. Am Besten von einer Regisseurin, die schon mal Mutter geworden ist.

    P.S. Wieso wird ausgerechnet so ein Bild mit frischgeborener Mutter mit zwei Milchpumpen gewählt von der Redi?! Ich fasse es nicht, was wir Mütter uns alles gefallen lassen müssen von zuständigen Werbeleuten! Es gibt bestimmt andere Bilder aus dem Film.

  • tina sagt:

    das ging mir jetzt zu meinem eigenen erstaunen sehr nahe.
    aber schön, dass es hier wiedermal einen text von andrea fischer gibt 🙂

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