Spiel mir das Lied vom Babyblues
Das Kind ist da, seit sechs Wochen schon, und gerade liegt es am Boden auf einer Decke und starrt auf ein Tischbein oder knapp daneben, so genau weiss man das ja nie. Bei sechs Wochen – so unsere Wochenbetthebamme – liegt eine Art magische Grenze in der ersten Zeit mit Kind. In Nepal, wo unsere Hebamme eine Zeit lang gearbeitet hat, werden Mütter und Babys manchenorts in den ersten sechs Wochen von der Gemeinschaft isoliert. Sie waschen sich nicht und verrichten keinerlei anstrengende körperliche Tätigkeiten. Nach sechs Wochen ist die Isolation vorbei, ihre Kleider werden rituell verbrannt und das Leben mit Kind beginnt.
Unsere Isolation alias Wochenbett – im eigentlichen Sinne des Begriffs verbringt man mehrere Wochen im Bett – hat nicht lange gedauert. Sechs Tage nach der Geburt stand ich mit Mann und Kind auf der Rolltreppe bei Migros, und eine andere Frau auf der Rolltreppe riss die Augen auf beim Blick auf das Kind: Wie alt ist es??? Sechs Tage??? Dann sollten Sie aber ZU HAUSE sein und doch nicht HIER! ALL DIE KEIME!

Ich war erschüttert ob so viel Fremdereiferung, und meine Freundin, die bereits zwei kleine Kinder hat, liess mich wissen, dass das von nun an sehr oft so sein werde: Man kriege Tipps oder klare Anweisungen, wie man das Kind zu tragen, zu füttern, anzuziehen habe, und werde zurechtgewiesen, wenn man etwas ganz und gar falsch mache. Ich verfluchte die fremde Frau und fragte mich gleichzeitig, ob sie nicht doch recht hatte. Auch dies, so meine Freundin, ein typischer Zustand als Mutter. Aber zurück zum Wochenbett.
Ohne Vorwarnung
Zweieinhalb Tage nach der Geburt wurden wir aus dem Spital nach Hause entlassen, und als wir zu dritt durch die Schiebetür gingen und ich zurückblickte auf das Gebäude, in dem ich sechzig Stunden zuvor unser Kind auf die Welt gebracht hatte, brach ich in Tränen aus, und da war er, der Babyblues. Zu dritt kamen wir in unserer Wohnung an, und der Mann zeigte dem Kind, wo wir schlafen, essen, kochen würden, und ich fühlte mich bald ähnlich leer wie mein Koffer, den ich ganz langsam ausgepackt hatte.
Ein paar Stunden später dann wurden meine Brüste betonhart und heiss, und da war er, der Milcheinschuss. Und während man uns im Spital zwar gesagt hatte, dass dieser körperlich heftig erlebt werden könne, hatte uns niemand davor gewarnt, dass man als Frau zu diesem Zeitpunkt möglicherweise kurzzeitig nicht mehr existieren wolle. Ich weinte und die Milch lief, die Brüste schmerzten und das Kind schrie, und ich dachte mir: Nein, das schaffe ich nicht, dieses neue Leben, niemals.
Rausgehen hilft
Nach einer Nacht mit Schüttelfrost und Quarkwickeln auf den Brüsten verliessen wir am nächsten Tag zu dritt das Haus, und ich staunte: Die Welt da draussen, sie stand immer noch! Wir setzten uns in unser Lieblingscafé, und ich stillte das Kind und noch nie, nie in meinem Leben hat eine Tasse Kaffee so gut geschmeckt. Ich hatte in diesen letzten Stunden den schwarzen Abgrund überlebt. Dieses Gefühl, das so existenziell bedrohlich an mir gezogen hatte, bis ich dachte, es sei nichts mehr von mir übrig: Du wirst hier nie mehr wegkönnen, du wirst nun bis ans Ende deiner Tage gebraucht werden von diesem kleinen, schreienden Wesen, das ohne dich nicht existieren kann.
Und so nippte ich an meinem Kaffee und beschloss, dass das mit der Isolation im Wochenbett nichts ist für mich und dass die Welt da draussen mir und dem Kind besser tut als das Schlafzimmer. Doch um dies zu erklären, ist eine Rolltreppenfahrt zu kurz.
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30 Kommentare zu «Spiel mir das Lied vom Babyblues»
Herzliche Gratulation zur Geburt. Ich wurde ebenfalls im März zum ersten Mal Mami und kann Ihnen gut nachvollziehen! Jedenfalls freue ich mich auf weitere Artikel von Ihnen. Schon spannend wie das Umfeld (und auch man selbst) mit Babythemen umgeht, und wie man plötzlich eine andere Perspektive zu vielen Themen kriegt.
die alte frau die mit den augen schaut ist lustig (video)
@ku: Womit könnte sie Ihrer Meinung nach denn sonst noch schauen, ausser mit den Augen?? Und finden Sie nicht auch „alte Frau“ sei dann doch etwas übertrieben?
Auch beim 2.Kind war der Milcheinschuss bei mir ziemlich fies. 7 Tage gings, bis sich‘s langsam eingereiht hat mit Milchmenge. Das wichtigste ist doch, ein gutes Umfeld zu haben. Verständnisvoll und Zuvorkommend, damit man dran glauben kann aus dieser bekackten Situation wieder rauszukommen. Ich zog dann 2 Wochen lang den Schlaf allen anderen Aktivitäten vor, besonders weils nun 24h/d circa alle 3 Stunden zu stillen galt, dazwischen Schlaf & Körperpflege & Nahrungsaufnahme & viele weitere oft mühsame Dinge mit Baby.
Und doch, ich empfinde es als grosse Entschädigung nun so ein kleines Wunder in den Armen zu halten und tragen. Es ist eine wunderbare Zeit, die Babyzeit. Voller zauberhafter Momente und tiefer Liebe.
Der Milcheinschuss könnte mir aber echt gestohlen bleiben!
Auf den Hormonabfall und Milcheinschuss war ich überhaupt nicht vorbereitet. Leider waren auch die Hebammen im Spital alles andere als einfühlsam. Ich war sehr froh um meinen Mann, der bei beiden Kindern Urlaub nehmen konnte. Entlastung war vor allem bei meinem zweiten Kind sehr wichtig. Genau deshalb braucht es dringend einen Vaterschaftsurlaub. Es gibt viele Frauen, die nach der Geburt auch körperlich nicht unversehrt sind und dringend Unterstützung brauchen.
Herzlichen Glückwunsch zur Geburt. Ich finde den Beitrag meinerseits anschaulich und transparent, zudem sehr passend wenige Tage vor dem Muttertag.
Ein Babyblues gehört zu den vielen Erfahrungen, die man als „frischgebackene“ so machen kann und teils auch muss, leider oft dazu. Erfahrungen, auf die einen weder Ratgeber noch all die mehr oder weniger gut gemeinten Ratschläge vollumfänglich vorbereiten können. Im besten Fall wird man dadurch nicht noch mehr verunsichert. Dazu gehören auch irgendwelche mystikumwobenen Hinweise, wie man wo auf diesem Planeten was auch handhabt. Die Kunst dürfte wohl sein, die wirklich wichtigen Informationen zu erkennen und anzunehmen, sich ansonsten aber nicht beirren lassen, Grenzen zu ziehen und va weiter auf das eigene Bauchgefühl zu hören.
*frischgebackene Mutter* selbstverständlich
Mit den Reaktionen anderer hat Frau Krähenbühl sicherlich recht. Aber trotzdem … Sie soll sich glücklich schätzen. Offenbar klappt es a) mit dem Stillen , b) mit dem Kinderwagen und c) klingt es nach Anfängerbaby . Da haben andere Mütter ganz andere Sorgen …
Es geht doch nicht darum, wie objektiv und im Vergleich zu anderen die Situation aussieht, sondern wie sie sich in dem Moment fühlt. Es gibt Menschen, die über einem „objektiv“ gesehen kleinen Problem fast zusammenbrechen. Was man dann sicher nicht braucht, ist der Hinweis, anderen ginge es ja wohl schlechter.
Ich habe ihr nicht abgesprochen, dass es für sie von Bedeutung war. Dennoch… Als Mutter von 2 Kindern, die jeweils länger als 3 Mte mehr als 3h pro Tag schrien, sich nicht ablegen liessen, im Kinderwagen schrien wie am Spiess … Und viele andere Mütter kennt, wo es ein Riesenknorz mittlerweile dem Stillen war (was bei uns GsD klappte )…. finde ich die Probleme dieses Mamis jetzt wirklich wenig gravierend aus meiner ganz subjektiven Sicht. Sorry . Und ja, mir ist klar , dass es noch schlimmer ginge, ich bin sehr dankbar für meine 2 Kinder.
Ich kenne die Situationen im oberen Artikel zu gut. Das Problem sehe ich aber eher darin, dass Frauen und Männer ziemliche Egoisten sind. Alles muss immer so weitergehen wie vorhin. Man lässt den Kleinen kaum Zeit auf die Welt zu kommen und man muss schon am 6. Tag (!) unbedingt in ein Kaffee. Klar, jedes Baby ist anders. Meinen Sohn hätte dies völlig „Reiz überflutet“. Glaube man sollte den Kinder Zeit lassen anzukommen – ich rede nicht von Monaten, aber wenn man mal 2-3 Wochen ein wenig ruhiger nimmt, fällt einem wohl keinen Zacken aus der Krone und es sollte sich doch aushalten lassen?!
Unglaublich! Sich am 6. Tag nach der Geburt einen Kaffee gönnen! Sowas hab ich ja noch nie gehört. *Ironie off*
Die Beschreibung von Frau Krähenbühl dürfte jetzt wohl angepasst werden. 😉 Alles Gute! Und natürliche ein sehr gut geschriebener Beitrag, danke!
Danke, ist angepasst.
Herzlichen Glueckwunsch zur Geburt! Die Redaktion duerfte nun den Footer „erwartet im Fruehling ihr erstes Kind“ aktualiesieren… 😉
Finden Sie heraus, was Ihnen gut tut in dieser Zeit… Mit kleinen Babies kann man z.B. ziemlich gut reisen – sei brauchen keine Breilis und koennen im Kinderwagen uebernachten. Ich hab mit meinem 3Monatigen mal eine kleine „Tour de Suisse“ gemacht, als mein Mann im Ausland war und sich die Wohnzimmerdecke langsam ueber mich und die Krabbeldecke herabsenkte… Den Rucksack gepackt und Freunde entlang der Bahnlinie Zuerich – Lausanne besucht. Stillen kann man ueberall und Windel-Nachschub gibt’s in jedem Supermarkt… Lassen Sie sich von Rolltreppen-Gespraechen nicht die Laune verderben!
Man darf davon ausgehen, dass 97% der in der Schweiz geborenen und sozialisierten Menschen in ihrem gesamten Leben niemals eine Ausnahmesituation erleben werden. Das Leben wird in trister Langeweile vor sich hin plätschern, bis der Tod der Ödnis ein Ende setzt.
Trotz beruflicher Exposition habe ich in den letzten 5 Jahren genau einen weiblichen Neuzugang an die Diagnose Depression erlebt. Es ist schon ausserordentlich selten, im Alltag eines Mittelzeitmenschen (20 – 65 Jahre) auf eine Depressive zu stossen. Und wenn, merken es die meisten noch nicht einmal, die Betroffenen eingeschlossen.
Darf ich Ihnen meinen tiefempfundenen Respekt vor der Formulierung aussprechen? Ich habe Ihren Kommentar laut meiner Tochter vorgelesen. Danke für dieses Highlight!
Leider verstehe ich Ihren Kommentar nicht wirklich. Was soll ein „weiblicher Neuzugang an die Diagnose Depression“ sein? Was mich gerade deprimiert sind ein paar Kommentare auf dieser Seite, einschliesslich der Ihrige. Leben ist immer da, auf Ausnahmesituationen müssen Sie nicht warten. Ja, nicht allen ist ein positiver Blick auf das eigene Leben gegeben, aber ein wenig Mut, das eigene Leben mitzugestalten und das Bemühen, drei Mal am Tag sich etwas Konstruktives zu überlegen, sollte eigentlich drinliegen.
Menschen die zu wissen glauben wie das Leben aller anderen aussieht sind mir immer sehr suspekt. Und Menschen die sich von schöner Retorik blenden lassen und dabei nicht erkennen dass es sich bloss um Geschwurbel handelt möchte ich bestenfalls als naiv bezeichnen.
Und solange man nicht klinisch tätiger Psychiater ist oder effektiv eine Hausarztpraxis führt kann man die Häufigkeit von depressiven Erkrankung gar nicht beurteilen.
Wenn man ehrlich ist, ist das Leben mit Kindern eigentlich gelaufen. Für manche mag das berühmte Kinderlächeln das kompensieren, für andere nicht. Darüber reden dass man den oder die Balgen noch so gern wieder hergeben würde für das alte Leben tut niemand. Gesellschaftlich verpönt so was. Vorbei ists nach dem Wochenbett nicht mit den Gefühlen, dass das alles ein furchtbarer Fehler war. Nur hören möchte es danach erst recht niemand.
Ich bitte Sie. Wer in den letzten 40 Jahren geboren wurde, lebt prospektiv 90 Jahre und länger. 20 davon braucht es, um die notwendigen Fertigkeiten zu einem selbst bestimmten sozialen Leben zu erlangen, weitere 20 investiert man, um diese Fähigkeiten weiter zu geben. Bleiben immer noch 50 Jahre ganz für sich selbst. Das reicht doch.
Die meisten Leute, die ich kennen, können selbst mit diesen 50 Jahren nicht viel anfangen, denen würde auch 50 Monate reichen, um ihr Potential ab- und auszuspielen.
Das tut mir leid für Sie (ohne Sarkasmus). Bei mir ist und war es nicht so. Ich bin alleinerziehend (bereits pränatal) und meine Tochter ist jetzt 16 Jahre alt. Und ich möchte keine Sekunde missen, wiewohl es Momente gibt und gab, in denen ich genervt war. Aber ich finde, jede Frau sollte ihre Gefühle – auch die der Reue über die Mutterschaft – frei äussern können. Vielleicht war das Alleinsein ein wichtiger Punkt: ich habe meine Tochter überall hin mitgenommen – sonst hätte ich ja nicht gehen können. Also hat sie ihre ersten 800km mit 2 Wochen abgespult und ist eine gute Reisebegleiterin. Mit 10 war sie mein Co-Pilot auf Cuba, mit Landkarte, nicht mit Google Maps. 🙂 Sie hat auf Jackenbergen und unter Heizkörpern geschlafen. Mein Leben ist durch reicher, nicht ärmer geworden. Alles Gute!
Das Leben mit Kindern gelaufen? Ich bin über Ihren Kommentar gestolpert und musste ihn – ungläubig – gleich zwei Mal lesen. Das Leben ist doch definiert dadurch, dass sich Dinge verändern. Und wenn Sie den Eindruck haben, dass Kinder haben ein furchtbarer Fehler war – dann hoffe ich, dass Sie auf irgendeine Weise das Leben wieder sinnvoll finden. Ob mit oder ohne Kinder: das Leben soll kein Gefängnis sein, und in der Regel haben wir in unserem Land das Privileg, bewusst und willentlich unser Leben zumindest mitgestalten zu können.
Welches Spital/Geburtshaus entlässt Mutter und Kind am zweiten Tag?! Für mich waren bei beiden Geburten der dritte Tag / Nacht am schlimmsten. Voll der Hormonsturz und Milcheinschuss. Wie froh war ich um die Zuwendung und Hilfe der Hebammen.
Alles Gute und viel Freude mit dem Baby!
Kann man auf eigenen Wunsch eigentlich immer. Ist ja auch hip, möglichst „natural“ und schnell nach hause.
Wenn ich gewisse Begriffe hier lese wie „Hormonsturz“, „Milcheinschuss“ „der dritte Tag/Nacht am schlimmsten“, „drei Monate nur geschrien“ und der grauenhaften Dinge mehr, läuft es mir eiskalt den Rücken runter, auch wenn ich weiss, dass ich mich bestimmt niemals in eine solche Situation hineinmanövrieren werde. Da gehe ich lieber Steine klopfen.
Das nennt sich ambulante Geburt.
ich fühle mit der autorin. und finde. kinder zu bekommen und auszuhalten ist unzumutbar für die äh-moderne… frau. lassen wir das doch. vielleicht gibts dann weniger „mimimi?“
Schön, dass Sie auch bei diesem Thema mitdiskutieren, Herr Rittermann. Dann beschreiben Sie doch mal wie’s bei Ihnen persönlich so war, beim Milcheinschuss und den hormonellen Veränderungen. / gb
Klassisches Mansplaining… klasse Antwort, danke!