Als Mutter im Einsatz für das Rote Kreuz?

Leiden lindern und Leben retten – im Dienste der Menschlichkeit: Eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes im Kongo. (Foto: Keystone)

Aufschreiben soll ich die Geschichte. Doch ich kann nicht schreiben, mir fehlen die Worte. Wie soll ich die Gefühle, die damit verbunden sind, die Ängste, die Verzweiflung, die Ohnmacht und die Trauer in Worte fassen? Dreizehn Jahre habe ich mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, dem IKRK, im Krieg verbracht, habe gelernt, mit allem, ja, wirklich allem umzugehen, und doch hat mich nichts davon auf diese Situation vorbereitet. Denn nichts bereitet einen je darauf vor, das eigene Kind fast zu verlieren.

«Das ist nicht fair!»

Als ich fünf Tage nach der Geburt nach Hause komme und alles in der Wohnung noch vorfinde wie zuvor, so, als sei nichts geschehen in der Zwischenzeit, bricht es wie ein Sturm, ein Schwall, ein Erdbeben aus mir heraus. Ich stampfe von einem Ende der Wohnung zum anderen und schreie es mir immer wieder von der Seele: «Das ist nicht fair! Das ist einfach nicht fair!» Jahrelang habe ich mein eigenes Leben riskiert, um das anderer zu retten. Habe Entbehrungen in Kauf genommen, im Dienste der Menschlichkeit gearbeitet und habe es geschafft, das Leiden unzähliger Menschen zu verringern und Leben zu retten – und dann stirbt mir beinahe mein Kind weg, vermutlich das einzige, das ich in diesem Leben haben werde. Ich weiss, dass die Welt nicht nach dem Gerechtigkeitsprinzip funktioniert, aber trotzdem. Es ist einfach nicht fair!

Doch meine winzige Tochter kämpft um ihr Leben, und nach drei Wochen kann ich sie endlich nach Hause nehmen. Von da an geht es ihr jeden Tag besser. Und dann liegt dieses kleine Wesen neben mir und schläft friedlich, und ich denke, was für ein Glück, was für ein enormes, grosses, unfassbares Glück wir hatten! Ich bin mir bewusst, dass tagtäglich Tausende von Müttern weltweit so wie ich in den letzten Wochen um ihr Kind bangen und nicht das Glück haben, auf eine funktionierende Gesundheitsversorgung, geschweige denn auf Spitzenmedizin zählen zu können. Einmal mehr bin dankbar für das Leben, das ich geniessen darf.

Familientaugliches Einsatzgebiet

Fünf Monate dauert mein Mutterschaftsurlaub, dann soll ich nach Tiflis zurück in den Einsatz reisen. Georgien ist ein sicheres, familientaugliches Einsatzgebiet. Doch nach jedem Monat, der um ist, wird das Unbehagen in mir grösser. Und dennoch erledige ich alles Nötige: Die Impfungen sind gemacht, der Pass ist ausgestellt, und nur noch die Bescheinigung der Kinderärztin fehlt, dass das Baby gesund ist und mit ins Einsatzgebiet reisen kann. Die Ärztin liest das Papier durch, legt es vor sich hin und schaut mich ein paar Sekunden lang an. Dann nimmt sie tief Luft und sagt: «Sie haben nicht wirklich damit gerechnet, dass ich das unterschreiben kann, oder?» Ich werde etwas kleinlaut. Doch, das hatte ich.

Ich rufe die Zuständige des Gesundheitsdienstes des IKRK an und erkläre ihr die Situation. Sie diskutiert nicht mit mir; für sie ist klar, dass das Baby unter diesen Umständen mindestens ein Jahr lang eine Ausreisesperre erhält. Ich bin sprachlos. Und dann sagt sie etwas, was mich für einige Sekunden verstummen lässt: «Vielleicht ist dies der Zeitpunkt, dir die Frage zu stellen, ob es nicht noch etwas anderes als das IKRK gibt.» Nein, gibt es nicht. Mein Leben ist das IKRK.

Der einzig richtige Entscheid

Doch am Ende traf ich nicht einen Entscheid für oder gegen meine Arbeit. Ich traf einen Entscheid für mich und für ein neues Lebensmodell als Familie, welches mir am meisten entspricht. Es war der einzig richtige Entscheid, und ich habe ihn nie bereut, obwohl ich so manches vermisse aus meinem alten Leben. Zurückhaben möchte ich es dennoch nicht.

Auszug aus dem Buch «In jeder Hölle ein Stück Himmel – 13 Jahre in Kriegs- und Krisengebieten», erschienen im März 2018 im Buchverlag Lokwort. Mehr zur Autorin erfährt man im Artikel «Sucht nach Menschlichkeit», erschienen Anfang April in der «Berner Zeitung».

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22 Kommentare zu «Als Mutter im Einsatz für das Rote Kreuz?»

  • Tamar von Siebenthal sagt:

    Nunja, wenn der Job das Leben ist, könnte man ja verhüten…

  • markus kohler sagt:

    Bei Leuten, die solche Einsätze machen ist das humanitäre Engagement ein Deckmantel für „sensation seeking“. Es muss immer noch ein bisschen krasser und schwieriger sein . Es gleicht sehr dem Extremalpinismus, nur ist man bei den Ultrasportlern ehrlicher, wenn es um die Motivation hierzu geht. Platz für echte Freundschaften und wirkliche Verbindlichkeit hat es bei diesen Lebensentwürfen nie, am Ende sind die zu Hause „Wartenden“ immer alleine. Vielleicht ist Alleinsein am Ende das grössere Abenteuer.

    • Muttis Liebling sagt:

      Humanitäre Arbeit ist bezogen auf Problemlösen unter den schlechten Lösungen die Beste. Unter dem Strich schadet humanitäres Engagement mehr, als es hilft. Wenn man sich die Staaten anschaut, welche am schnellsten dem Mittelalter in die Neuzeit entflohen sind, dann sieht man, dass dies umso schneller ging, als es keine oder wenige äussere Einflüsse gab.

      Mahatma Gandhi nannten Entwicklungshilfe deshalb die Kolonisation Methode des 20. Jahrhunderts. Das Beste, was entwickelte Staten für weniger entwickelte tun können, ist sie unberührt zu lassen, vor allem wirtschaftlich.

  • Marco Meyer sagt:

    Ich vermute mal, es besteht beim IKRK ein gewisses Suchtpozenzial nach dem Kick als Delegierte(r). Ich kenne eine, die hat den „Ausstieg“ zu spät geschafft um Familie zu haben. Trotz eindrücklicher Vitae bereut sie dies sehr. In diesem Sinne Gratulation an die Autorin.

  • Dreifachpapi sagt:

    Ein schöner Artikel. Und es ist mehr als nur o.k. wenn man nach einem langen Lebensabschnitt der Aufopferung für eine gute Sache einen Schnitt macht und sich für ein anderes Leben entscheidet. Anderes Leben, nicht schlechteres Leben.
    Niemand soll meinen, es gäbe nur zwei Optionen: „lebenslanger Einsatz“ versus „kein Einsatz“. Mit solch starren Vorgaben setzt man sich nur selbst unter Druck.
    Einzig was mir im Text fehlt, ist der Bezug zum Vater. Jedes Kind hat einen Vater.

    • Muttis Liebling sagt:

      Kinder haben einen Vater, aber der gehört hier nicht zur Geschichte, welche erzählt wird.

  • 13 sagt:

    Schöner Beitrag.
    Es ist immer mal gut, wenn auch andere Lebensweisen aufgezeigt werden. Und wer weiss, vielleicht gibt es immer mal wieder Möglichkeiten für ähnliche Einsätze. Ich kenne zwei Familien, die trotz Kindern in der Entwicklungshilfe tätig sind. Nicht mehr an erster Front als Nothelfer, aber in der Projektarbeit bei NGOs. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

  • Dani sagt:

    Vielleicht wäre es auch besser gewesen sich einzugestehen, dass eben nicht das Kind der Traum ist, sondern der Beruf. Dann hätte man eher auf das Kind verzichtet und weiter den Traumberuf ausgelebt. Es lohnt sich nicht etwas zeugen zu wollen, nur aus dem Druck heraus, dass man es später nicht mehr haben kann. Der Mensch kann auch ohne Kinder glücklich altern.

  • Reincarnation of XY sagt:

    Danke für den Beitrag.

    Es wird wohl wenig Kommentare geben, weil man nur darüber diskutieren könnte, wenn man eine ähnliche Biographie hat. Aber wertvoll ist er allemal.

    • Reincarnation of XY sagt:

      Ich korrigiere: man KANN tatsächlich nur darüber diskutieren, wenn man eine ähnliche Biographie hat.

  • Sportpapi sagt:

    Wie so oft sollen wir über eine Geschichte diskutieren, zu der wir die entscheidenden Faktoren nicht kennen. Insbesondere: Wo ist der Vater des Kindes?
    So gesehen bleibt: Ja, mit einem Kind kann man nicht im Krisengebiet arbeiten. Und: man wundert sich, dass diese Erkenntnis von aussen an die Mutter herangetragen werden muss. Zu einem sehr späten Zeitpunkt.

    • anna lou sagt:

      Das verwundert mich gar nicht. Auch ich habe jahrelang im ruralen Afrika bei den Ärmsten gearbeitet. Man steht am Morgen auf und die Motivation, dass für diese Menschen jede Stunde, in der man medizinische Versorgung leistet, wirklich zählt, ist der einzige Treiber. Das kann man sich hier vielleicht nicht vorstellen, aber bereits morgens um 7 warten Menschen vor der Klinik, die mehr tot als lebendig sind und sich Dutzende Kilometer durch den Busch in ein Dorf geschleppt haben. Man stellt sich als Person vollkommen in den Hintergrund und trotz des Elends, dass man jeden Tag sieht, macht man weiter. Und zurück in der Schweiz merkt man, dass es einerseits ein grosser Luxus ist, in einem solchen Land zu leben, aber trotzdem vermisst man oft die eigene Wirksamkeit.

    • 13 sagt:

      Eigentlich dachte ich immer, die Diskussion ist eine Nebenerscheinung des Blogs und nicht „Bitte bloggt nur Sachen, die wir danach diskutieren können“.
      Ansonsten: Georgien ist ein Krisengebiet? Und du weisst genau, welche Abklärungen/Vorbereitungen die Mutter gemacht hat? Dass der Vater nicht vorkommt zeigt eher, dass es entweder keinen gibt oder er mit den Plänen einverstanden war. Ansonsten wäre der Konflikt doch sicher erwähnungswert.

    • Seeländer sagt:

      Man kann auch einmal die Finger still halten und einfach nur lesen. Es muss nicht alles und jedes zu Boden diskutiert werden.

    • mila sagt:

      Ich schätze, im MB ist es eher ein positives Zeichen, wenn für einmal nicht alles durchkommentiert wird… sondern einfach für sich stehen kann, als Bericht von einer (etwas) anderen Lebens-Erfahrung. Eine lesenswerte Abwechslung.

    • Sama Moldowan sagt:

      In Georgien kann man als Westler mit einem Kleinkind leben und arbeiten, das ist kein Problem – sofern dieses Kind gesund ist.
      Das Kind kam aber nicht gesund zur Welt – weshalb es anders kam, als geplant.

    • Sportpapi sagt:

      Ah, ich wusste natürlich nicht, dass es ein Qualitätskriterium dieses Blogs ist, möglichst wenig Diskussionen auszulösen.
      Die Geschichte der Frau ist sicherlich sehr spannend. Das Buch würde ich gerne lesen. Aber das ist ja nicht eigentlich die Geschichte, die sie uns hier erzählen wollte.
      Sondern, dass sie wegen des Kindes ihren Traumjob aufgegeben hat. Nur fehlen jegliche Erklärungen, wie es zum Unbehagen kam, warum das Kind das Land nicht verlassen konnte, warum der alte Job auch nach einem Jahr (also sieben Monaten längerem Unterbruch als geplant) nicht mehr in Frage kam, warum kein Vater da ist, der sich allenfalls auch vorübergehend hätte um das Kind kümmern können. Usw.
      Die Geschichte, um die es eigentlich geht, wird gar nicht erzählt.
      Schade.

      • Brunhild Steiner sagt:

        @Sportpapi
        ist doch aus dem Zusammenhang ersichtlich, offenbar braucht das Kind spezifisches medizinisches Monitoring und den dafür verantwortlichen Ärzten scheint das Risiko zur Auslagerung der Behandlung zu gross.

        Gibt es auch andersrum, dass die „auf-dem-Feld-Engagierten“ aufgrund gesundheitlicher Probleme heim müssen.

    • mila sagt:

      Sie sagen es ja selbst, SP: wir haben zu wenig Informationen, um in die üblichen pro-contra-Diskussionen zu fallen. Dies war einfach ein Aspekt der Geschichte, quasi auf der ‚Brille‘ (Empfindung) der Mutter heruntergeschraubt. Auf die Kürze eines Blogartikels kann man keinen Roman (mit allen möglichen Aspekten) verdichten. Kann man auch einfach mal so lesen (und bei Interesse das angeteaserte Buch kaufen, wo sicherlich Ihre Fragen eine umfassende Beantwortung finden).

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