Gespalten zwischen Glück und Trauer

Der eine steht am Anfang seines Lebens, der andere am Ende. Foto: iStock
Um diese Jahreszeit spüre ich besonders intensiv, wie nahe Glück und Trauer beieinanderliegen. Auf der einen Seite ist da mein Sohn, der mich ständig fragt, wie lange es noch gehe, bis er eeendlich Geburtstag habe. Und auf der anderen Seite rückt mit seinem Geburtstag jeweils auch der Todestag meines Vaters näher. Die grosse Freude über die Geburt meines Sohnes überwiegt. Doch die Trauer ist und bleibt ebenfalls da, wenn auch im Hintergrund.
Ich erinnere mich noch genau an jenen sonnigen Montagnachmittag vor sechs Jahren, als ich meinen Vater zu einer Untersuchung ins Spital begleitete. Damals war ich mit dem zweiten Kind schwanger, und er konnte seit einigen Wochen seine linke Hand nicht mehr richtig bewegen. Abgesehen davon wirkte er mit 76 Jahren kerngesund – kein Grund zur Sorge also. Dachten meine Mutter und ich. Doch während der Untersuchung verlor mein Vater das Bewusstsein. Er musste umgehend in die Notaufnahme gebracht werden. Ob er jemals wieder aufwachen würde, war ungewiss.
«Wissen Sie, warum Ihr Vater hier ist?»
Nach bangem Warten kam endlich ein Professor zu uns, schloss den Vorhang und sah uns lange an. Dann zog er aus seinem Arztkittel etwas hervor, das aussah wie ein Ball. «Sie wissen, warum Ihr Vater hier ist?», fragte er. Nein, das wussten wir nicht. Da streckte uns der Professor den Ball hin. Erst jetzt erkannten wir, dass es sich dabei um ein Mini-Hirn-Modell handelte. Der Professor drückte mit seinen Fingern auf diverse Stellen und sagte: «Da, da und da hat Ihr Vater einen Hirntumor. Er hat noch ein halbes Jahr zu leben, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger, das weiss ich nicht.» Dann war er weg.
Innert weniger Minuten hatte dieser Mann uns den Boden unter den Füssen weggerissen.
In den folgenden Wochen weinte ich viel. Sehr viel. Mein Körper war wie gespalten. Auf der einen Seite war da die Trauer um meinen Vater und auf der anderen Seite die Vorfreude auf mein Kind. Hinzu kam die Sorge, das ungeborene Kind könnte sich nicht willkommen fühlen, weil es meinen grossen Kummer spürte.
Ein letztes Mal nach Paris
Wir hatten Glück im Unglück. Mein Vater wachte wieder auf, und als er realisierte, dass er bald sterben würde, wollte er noch möglichst viel Schönes erleben. Sein geradezu legendärer Lebenshunger hatte ihn noch nicht verlassen. Er wollte mit uns noch mal Paris sehen.
So fuhren meine Mutter, mein Mann, unser Sohn und ich mit XXL-Babybauch in die Stadt der Liebe. Mit Rollator und Buggy erlebten wir ein paar gemeinsame Tage, die schöner nicht hätten sein können. Uns war stets bewusst, dass dieses Glück endlich war, die wunderbaren Erinnerungen werden uns für immer bleiben.
Damals in Paris teilten wir meinem Vater mit, dass wir seinen Namen an unseren ungeborenen Sohn weitergeben würden. Das war einer der berührendsten Augenblicke dieser Reise.
Beide ohne Haare, ohne Zähne
Kurz nach unserer Rückkehr verlor mein Vater sein Gedächtnis und wusste weder seinen Namen noch den unseres Sohnes.
Ehe wir uns versahen, war das halbe Jahr prophezeiter Lebenszeit um. Unser zweiter Sohn wurde geboren, und mein Vater lebte weiter. Noch.
Als der Kleine eine Woche alt war, wollte ich ihn seinem Grossvater zeigen. Ich legte das Baby zu ihm ins Bett. Beide brabbelten zufrieden vor sich hin. Beide ohne Haare, ohne Zähne. Einer war winzig, der andere gross. Der eine hatte eingefallene Wangen, der andere volle Baby-Pausbacken. Der eine stand am Anfang seines Lebens. Der andere am Ende. Beide schienen glücklich.
Wie ich die beiden so sah, sich auf eine wortlose tiefe Weise nah, begriff ich mehr denn je, dass alles zwei Seiten hat. Die eine bedingt die andere – und umgekehrt. Wir müssen akzeptieren, dass alles zwei Seiten hat. Zur Freude gehört die Trauer. Zum Mut die Angst. Zum Frühling der Herbst und zum Leben der Tod. Wenige Wochen später starb mein Vater. Draussen war es Frühling.
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26 Kommentare zu «Gespalten zwischen Glück und Trauer»
Mutig erkannt und geschrieben wie das Leben verläuft. Dieser Beitrag kann helfen das Leben von der Sinnseite des Dasseins zu verstehen. Wir sind ein Gast dieser Welt und hoffentlich dankbar für alles Gute was wir erleben.
Wir sind von Erde und kehren zur Erde zurück.
Es wurde schon dutzendfach geschrieben, aber nicht dutzendfach genug: Danke für diesen Text.
Merci pour votre texte très touchant!
Danke für diese Zeilen.
Ein wunderschöner und berührender Beitrag.
Wunderschöner Beitrag! Mein vater ist schon lange nicht mehr hier und dennoch bei mir! Ich vermiss ihn jeden Tag! Und meine Tochter, damals 2 Jahre alt ist heute eine blühende wunderschöne junge Frau!
Vielen Dank für diesen Text, ich fühle mit. Bei meiner Tochter war es ähnlich. Die Krebsdiagnose meiner Mutter stand seit 4 Jahren. Wir legten ihr das 3 Tage alte Babymädchen in ihr Krankenbett. Am gleichen Abend starb sie.
Danke für die berührenden Worte. Meine kleine Tochter lernte das Robben in den Tagen, als mein todkranker Vater nur noch im Bett liegen konnte. Da hatte ich einen ähnlichen Moment – der mich zutiefst erschüttert und zugleich unendlich getröstet hat. Das eine Leben endet, ein neues nimmt seinen Lauf. Zum Glück konnte er seine winzige Enkelin noch begrüssen.
Liebe Martina….
Danke für diese Zeilen…..
2 Wochen vor der Geburt meiner Tochter starb mein Vater unerwartet an einem Herzinfarkt. Es war und ist noch immer das Schlimmste was ich erlebt habe.
Meine Tochter ist mittlerweilen eine wunderbare junge Frau…oft denke ich aber, sie hat die unendliche Trauer in meinem Körper so intensiv miterlebt, das ein kleiner melancholischer Teil an ihr hängen geblieben ist….
Ich drück dich….auf bald
Einer der besten MB-Beiträge seit langem, berührend, authentisch und sehr offen. Danke dafür.
Danke für den Text Martina. Berührend und echt.
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Liebe Martina
Ihr Beitrag hat mich sehr berührt . Es ist schön zu sehen, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die mit so viel Liebe und Innigkeit ihren Eltern gedenken.
„Vergiss nie, dass deine Eltern deine Hand gehalten haben, als du deine ersten Schritte gingst.
Also halte ihre, wenn sie ihre letzten Schritte gehen“
Charlotte
Ein berührender, schön zu lesender Text – vielen Dank.
So ist es nun Mal von der Natur angelegt ! Und ich kann nicht sagen, das ich das gut finde. Zumal je älter man wird, desto mehr häufen sich diese Ereignisse. Die Eltern sterben, gute Freunde auch. Da bekomme ich immer so einen Hals wenn einem die Werbung das Alter als eine tolle Zeit verkaufen muss. Ich verstehe jetzt meinen alten Vater immer mehr der kurz vor seinem Tod sagte – ist ja keiner mehr da….
Ist das nicht auch eine Frage der inneren Haltung zum Thema Sterben? Und wie es einem im Alter gesundheitlich geht? Mein Vater ist über 90, und als ich vor ein paar Tagen mit ihm telefonierte erzählte er von zwei Beerdigungen von ehemaligen Arbeitskollegen, beide waren jünger als er. Auch ein Klassentreffen steht an – mit den «übriggebliebenen» 4 Kollegen, wovon zwei an Demenz erkrankt sind. Es macht ihm schon auch zu schaffen «dass keiner mehr da ist» – andererseits lebt er immer noch gern und will nicht sterben. Aber es geht ihm gesundheitlich gut, er hat eine grosse Familie und hat im Alltag «genug zu tun». Ich bin sehr dankbar, dass er seine letzten Jahre (?) noch mitten im Leben stehend verbringen kann. Aber dass der Tag des Todes näher rückt, ist uns allen auch bewusst
Vielen Dank für den berührenden Text. Ich habe ein paar Tränen in den Augen. Bald ist der erste Todestag meines Vaters.
Sehr schön geschrieben, sehr rührend. Bei uns war es ähnlich. Gleich dreimal fiel der Tod einer geliebten Person mit der Geburt unserer Kinder zusammen (jeweils nur wenige Tage vorher resp. nachher). Meine Grossmutter sagte mir jedes Mal, es sei so, dass das alte Leben, dem neuen Platz macht. Das empfand ich jeweils als traurig und tröstend zugleich.
Ihr Kommentar berührt mich gerade unglaublich.
Vielen Dank für diesen berührenden Text! Ich fühle mit Ihnen. Fünf Tage nach der Geburt meines ersten Kindes erhielt meine Mutter fast die gleiche Diagnose. Sie starb am Tag, an dem mein Kind sechs Monate alt wurde. Man lernt, mit den Erinnerungen umzugehen. Der Schmerz aber bleibt.
Endlich mal ein schöner, authentischer Beitrag im Mamablog.
ja, so ist es. leben und sterben liegt so nah beieinander. immerhin konntest du deinem vater das kind noch zeigen. das ist sehr schön. meine mutter starb an krebs wenige tage bevor mein erstes baby zur welt kam.
deshalb sollten wir jeden Tag und jeden Moment geniessen, den wir haben
unsere Sterblichkeit sollte uns, unser Leben umso mehr geniessen lassen
Genauso ist es. Es ist Frühling und Ende Woche jährt sich zum zwölften Mal der Todestag meines Vaters.
Sehr rührend… Ich wünsche alles Liebe.
Vielen Dank für Ihren Beitrag (meine erste Lektüre heute).