Der Jö-Effekt und die grosse Verantwortung
Ende März war Welt-Down-Syndrom-Tag. Im Netz grassierten zahllose Posts von süssen kleinen Trägern des zusätzlichen Chromosom 21. Der Jö-Effekt war gesichert. Und das, obwohl die meisten solchen Kinder wohl gar nie zur Welt kommen, weil sie abgetrieben werden. Und wenn doch, dann ist er garantiert, der Jö-Effekt.
Als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom bin ich darüber eher empört als erfreut. Wenn alles so niedlich wäre, könnte man die Diskussion über pränatale Diagnostik in diesem Falle streichen. Oder?
Man darf also durchaus den Hut ziehen vor all den Müttern und Vätern, die ein Kind mit einem Down-Syndrom ins Erwachsenenleben begleiten.
Der Einsatz ist gross
Meine Tochter ist 23 Jahre alt. Sie ist kein Kind mehr – immer öfter wenigstens. Doch ganz erwachsen, total unabhängig und in jeder Situation zurechnungsfähig wird sie wohl nie sein. Als Kind war sie sehr pflegeleicht. Ich habe sie überallhin mitgeschleppt, sie war immer ziemlich anpassungsfähig. Ich hatte Glück und dazu zwei wilde Jungs, die mich umso mehr forderten.
Doch bin ich mal ganz ehrlich mit mir, dann hat es mich doch sehr viel Einsatz gekostet, zweimal die Woche mit meinem Mädchen in die Therapie zu fahren, sie zwei Jahre lang tragen zu müssen, weil sie spät laufen lernte, sie bei Wanderungen und langen Spaziergängen weiterhin in einem Jogger-Buggy herumzustossen, weil sie nicht so kräftig auf den Beinen war wie ihre Brüder, sie in den Regelkindergarten zu integrieren und nachher in die Schule.
Nach der vierten Klassen mussten sie in die heilpädagogische Schule gehen, da sie in der Regelschule nicht mehr optimal gefördert werden konnte. Mit siebzehn dann wollte sie in eine Wohngruppe ziehen. Das bedeutete, genau dieses Kind als erstes loszulassen, bevor es – oder eher wir Eltern? – richtig abgenabelt war.
Schuldgefühle
Als Mutter fühlt man sich schlecht und schuldig, wenn man all das aufzählt, was schwierig ist. Schliesslich liebt man sein Kind und in den meisten Fällen haben sich Eltern von speziellen Kindern sehr gut mit ihrer Situation arrangiert. Dazu gehört – für mich jedenfalls – das Leben mit diesem Kind als Normalität zu sehen.
Doch ganz normal läuft es nie. Mach ich es einigermassen gut?, frage ich mich. Und: Was würde meine Tochter tun und wollen, könnte sie frei entscheiden? Das ist die wichtigste Frage überhaupt.
Ein Platz in unserer Mitte
Die Herausforderungen sind für alle Eltern dieselben – und irgendwie doch nicht. Nie wird meine Tochter ganz auf eigenen Beinen stehen. Wenn es gut kommt, kann sie eines Tages in einer Aussenwohngruppe leben, die nur teilweise betreut ist. Nie wird sie ihren selbstgewählten Weg alleine gehen können. Immer wird sie gewissen Einschränkungen unterliegen, den eigenen kognitiven und den daraus entstehenden. Sie wird davon abhängen, was Betreuungspersonen, Eltern und Beistände ihr zugestehen.
Menschen mit Down Syndrom können also nur teilweise ein selbstbestimmtes Leben führen. Dahin begleiten sie im besten Falle ihre Mütter und Väter. Dafür haben diese zumindest ein Schulterklopfen verdient. Und diese fröhlichen, direkten, liebenswerten und speziellen Menschen mit dem zusätzlichen Chromosom einen festen Platz in unserer Mitte!
Weitere Texte der Autorin zum Thema: Bemuttern ohne Ende, Wie viel Eigenständigkeit ist möglich? und Auch ich hätte wohl kein behindertes Kind gewollt.
35 Kommentare zu «Der Jö-Effekt und die grosse Verantwortung»
Guten Abend Frau Liedtke
Ihr Text hat mich sehr berührt. Ich finde, Kinder gross ziehen ist eine der grösseren Herausforderungen im Leben. Kinder mit einer Behinderung zu erziehen noch eine grössere. Ich hätte den Mut und die Kraft wohl nicht gehabt, wenn ich mich hätte entscheiden müssen.
Alles Gute
Ich verstehe nicht, warum Eltern von speziellen Kindern mehr Schulterklopfen verdienen als Eltern von weniger speziellen Kindern, die sich genauso bemühen, möglichst viel für ihre Kinder zu tun. Allenfalls das Wie, nie das Was rechtfertigt Schulturklopfen.
Auch sollten weder Eltern grundsätzlich Schultern geklopft bekommen, noch solche, die darauf verzichten, Eltern zu werden.
Ist doch nicht wie in der Steiner Schule, wo alle für alles Schultern geklopft bekommen.
Blöder Kommentar!
Haben die Eltern, welche sich dazu entschieden, ein solches Kind abzutreiben, Schelte verdient? Erscheint mir die logische Konsequenz aus dem Schulterklopfen für die anderen.
Sie verstehen es wahrscheinlich nicht weil sie selber kein „spezielles“ Kind haben.
Ob sich Eltern für oder gegen ein Kind (eben so eines) entscheiden, sie alle haben grossen Respekt verdient, weil sie eine lebenslange Entscheidung treffen mussten.
Es stimmt schon: wieso bekommen wir an diesem Tag nur Jööö-Fotis zu sehen? Keine Bilder von Halbwüchsigen und Erwachsenen mit ihren Problemen und den Problemen, die ihre Eltern und Betreuer haben? Wäre das wohl etwas zuviel „nicht heile Welt“?
Im Gegensatz zu der Natur, will man unbedingt alle Kinder behalten bei der Geburt. Auch solche die niemals sich erfreuen werden. Ich finde dies falsch. Zuerst sind evtl. die Eltern da aber nachher ?
Menschen mit einer Trisomie-21 können sich durchaus des Lebens erfreuen…
Z.t sogar mehr als solche ohne Trisonomie 21.Man kann unglaublich viel von solchen liebenswürdigen Menschen lernen!
Als betroffene Mutter und Mitinitiantin vom Welt Down-Syndrom Tag Schweiz (2007), weiss ich wie wichtig positive Bilder für werdende Eltern sind. Ich selber wurde in der Schwangerschaft mit der Diagnose DS meines ungeborenen Sohnes konfrontiert. Was mir gefehlt hat, waren positive Bilder von Kids und Babys mit DS. Es ist noch nicht so lange her, da wurden Menschen mit DS versteckt. Da darf nun auch ein Jö-Effekt Platz haben – wie bei andern Babys auch. Übrigens sind auch Erwachsene mit DS auf den Poster-Aktionen zu sehen! Das Ziel des Tages ist, mit verschiedenen Aktionen (nicht nur Poster) die Öffentlichkeit auf die besondere Lebenssituation von Menschen mit DS hinzuweisen… Wir alle sind das Umfeld der Familien und tragen dazu bei, ob und wie Menschen mit DS unter uns willkommen sind!
Ich bin mir nicht sicher, aber soweit ich weiss erfreuen sich mehr Menschen mit Down Syndrom dem Leben, als vermeintlich gesunde Menschen, von denen viele finden, dass es auch nicht geschadet hätte, wären sie nie geboren. Viele menschen schleppen sich durchs leben, weil sie halt leben – Freude am Leben ist was anderes.
Und um keinen falschen Eindruck zu machen: Heute kennen wir Geburten, wo ein Kind bis zum Erwachsensein Kosten von über einer Million Franken verursacht. Das Durchbringen solcher Kinder zeigt den hohen medizinischen Stand, den wir in der ersten Welt erreicht haben. Aber mit dieser Million für ein einziges Kind bei uns hätte man tausende von Kindern mit kleinen Einschränkungen anderswo in der Welt ein besseres Leben schenken können.
Was ist ein Menschenleben wert? In der Ersten Welt gibt es dafür keinen Betrag. Weltweit gesehen liegt der Preis wohl bei durchschnittlich 5’000 USD. Während wir einen Schwangerschaftsabbruch für moralisch verwerflich halten, selbst bei Behinderung, lassen wir geborene Menschen sterben. Unsere Medizin ist inhuman, egoistisch, selbstverliebt.
Kosten sind eben vollständig gleichgültig.
sind nicht bei uns die kosten für die altersgruppe ab 70 besonders hoch? wobei ja immer mehr menschen mit 70 noch voll leistungsfähig sind! wer anfängt zu rechnen, welches leben man einsparen sollte um andere leben zu sichern, der könnte ja mal seine eigenen kosten ähm reduzieren
Wenn das so einfach wäre mit rechnen: Jedes Kind das bei Geburt absolut normal ist, kann durch einen Unfall oder Krankheit zu ebenso einem Kind wie sie beschreiben werden. Sollen da andere Standards gelten?
Wieso kann die Gesellschaft nicht so aufgestellt werden, dass sie mit einer kleiner und mehr oder weniger konstanter Quote von Kinder mit erhöhtem Betreuungsaufwand zurechtkommt? Schliesslich kann es jede Familie mit Kindern treffen.
Wenn es nach Rothacher geht? Einschläfern.
Den Artikel unterschreib ich, auch als der Baz unfreundlich gesonnene Person. Der Platz in der Mitte der Gesellschaft für Menschen mit zusätzlichem Chromosom und ihre Betreuungpersonen ist wichtig, wegen uns allen. Als Kind mochte ich meine Tante in ihrer eigenen, lustigen-traurigen, emotionalen und kinderfreundlichen Welt besonders, als Erwachsene habe ich zusätzlich Respekt vor dem Engagement, das ihre Betreuungspersonen zeigten und zeigen.
Das liest sich jetzt eher wie eine Rechtfertigung dafür, dass man der Zivilgesellschaft eine grosse, finanzielle Last auferlegt hat, dass man jedoch persönlich auch sehr viel investieren musste, und dass sich diese Zivilgesellschaft deshalb mit der finanziellen Last abzufinden habe.
Da finde ich das „Jö“ weitaus stilvoller und sinnvoller, denn es zeigt Mitgefühl und Anteilnahme und damit ein Bekenntnis für behinderte Menschen. Aber ehrlich gesagt: bei 7,6 Milliarden Menschen und einem Wachstum von 80 bis 100 Mio. pro Jahr ist die pränatale Untersuchung und der Abbruch einer Behinderten-Schwangerschaft keine Frage des Herzens, sondern ein Gebot des Verstands. Sonst fällt die Zivilgesellschaft irgendwann auseinander.
Die Zivilgesellschaft fällt eher auseinander wegen Menschen wie Ihnen.
Herr Rothacher, beim Lesen Ihres Kommetars läuft‘s mir eiskalt den Rücken runter.
Vor 80 Jahren hatte schon mal einer solchen Gedanken..
Das Einzige, was es weltweit im Überschuss gibt, ist Geld. Es fehlt an allem anderen, an Moral, Verstand, an Wissen und Anstand. Nur Geld ist soviel da, das man es im Kamin verbrennen könnte.
7.6 Mrd. Menschen kann die Erde locker vertrage. Nur eines können 7.6 Mrd. nicht, sie können nicht im Überfluss, im masslosem Wohlstand leben.
Schön wieder was von Ihnen zu Lesen!
In Spanien gibt es einen Dozenten mit Trisomie-21.
Hätte man den auch abtreiben sollen?
Und was ist mit den ganzen Kindern mit Allergien die dann auch noch immer ins Spital gebracht werden? Abtreiben?
Ich habe mit behinderten Kindern gearbeitet. Was die Kosten angeht muss man sich fragen, wie man erklären soll, diese nicht tragen zu wollen, aber andere Sozialleistungen auf keinen Fall kürzen zu können.
Man soll also Menschen umbringen um Geld zu sparen, gleichzeitig aber auf keinen Fall bei Leuten sparen oder etwas einfordern die arbeiten könnten?
Ich hätte eine Idee, für wen man eine Zeitmaschine erfinden könnte um ihn abzutreiben 🙂
„ein Bekenntnis für behinderte Menschen…“ – aber seien wir doch ehrlich: Dieses Bekenntnis gilt nur für die Menschen mit den „richtigen“ Behinderungen. Sobald sie nicht die süssen, immer lachenden und nie lügenden Sonnenscheine sind, die man sich so vorstellst, sobald sie stinken, lärmen oder andere Kinder hauen, will sie niemand mehr haben, dann soll man gefälligst dafür sorgen, dass niemand sie sehen, riechen oder hören kann.
Diese ganze Geschichte ist doch bigott bis zum Geht-nicht-mehr. Meine Bewunderung gilt den Eltern und Pflegenden, die in diesem Spannungsfeld irgendwie das Beste für sich und ihre Schützlinge herausholen müssen.
Da haben sie völlig recht. Es gibt durchaus Menschen, die für ihr Umfeld eine nicht tragbare Belastung sind – nicht, weil das Umfeld so verweichlicht wäre, sondern weil halt nicht alle Behinderungen so „jööö“ sind. Auch unter Kindern mit Down-Syndrom gibt es einzelne, die unkontrollierbare Wutanfälle haben und deshalb nicht in der Familie bleiben können (die Gotte einer Freundin wurde von ihrem 12-jährigen (!), bis kurz vorher friedlichen Sohn spitalreif geschlagen).
Der medizinische Fortschritt hat nicht nur die Pränataldiagnostik gebracht, sondern auch die Lebenszeit von Down-Kindern verlängert – noch vor 30-40 Jahren haben sie relativ selten das Erwachsenenalter erreicht, und die zusätzliche Aufwand war absehbar. Heute ist dies eine Verpflichtung für die Eltern bis an ihr Lebensende.
Ja dafür haben sie und alle Eltern von besonderen Kindern allerdings ein Schulterklopfen verdient. Schön geschrieben, danke.
Das Wissen darum, dass das eigene Kind nie ganz alleine wird entscheiden und vor allem nie ganz auf eigenen Beinen stehen wird, das eigene Leben aber endlich ist und so Gott will vor dem des Kindes zu Ende geht, empfinde ich als Vater einer besonderen Tochter als belastend. Es bleibt einfach eine andere Art von Beziehung und Bindung, als zu einem normal begabten Kind und Menschen. Irgendwann wird sie nicht mehr auf die Eltern zählen können, sondern „fremden Menschen“ vertrauen müssen.
Dieser Jö-Effekt an Welt-xxx-Tagen hat einen Namen: Heuchelei.
Ich finde es auch heuchlerisch. Schliesslich ist es kein Kunststück ein Kleinkind herzig zu finden. Dieser wichtige Awareness-Tag sollte vielmehr betroffenen Erwachsenen, deren Angehörigen und den alltäglichen Problemen und Ängsten von beiden gewidmet werden. Ich glaube auch nicht, dass sich Schwangere schweren Herzens für einen Abbruch entscheiden, weil sie Angst haben, ihr Baby würde nicht süss gefunden werden. Die Ängste sind sicher viel komplexer und weitreichender.
achdumeinegüte. aber wenn ich doch dieses kleine kind auf dem foto herzig finde und ich darum jööö mache, dann hat das wirklich nur damit zutun, dass es herzig aussieht. andere kinder sehen auch herzig aus, aber was schon tatsache ist: kinder mit trisomie21 wirken einfach besonders süss.
ich verstehe die autorin voll in dem was sie schreibt und bedanke mich fürs vor-augen-halten! ich habe höchste achtung vor der leistung von eltern von kindern mit wasauchimmer, es ist ja schon so schwierig genug. grosses schulterklopfen.
aber wenn ich dieses kind da zum beispiel herzig finde, dann ist das null geheuchelt. und wenn man jöö macht, meint man doch auch keine leistung der eltern.
Hallo Tina, mein Kommentar war auch nicht als Kritik am Artikel gemeint, sondern eher als Bekräftigung: Da gibt es einen Awareness-Tag, und die Medienwelt schafft es nicht über die Herzigkeit der Kleinsten hinaus. Ich frage mich, wie sich die Erwachsenen dabei fühlen, die nicht mehr automatisch süss gefunden, sondern eben ausgegrenzt werden, weil es Berührungsängste und Unverständnis gibt. Ihnen sollte mit dem Awareness-Tag geholfen werden.
Schwierig. Was wäre denn die Alternative anlässlich dieses Tages? Gar keine posts, bloss Text, bloss Aufnahmen von Erwachsenen?
Ich bin gar keine Anhängerin von „virtueller Photoplatzierung“, eine Gratwanderung zwischen Sensibilisierung/Sichtbarmachen des Anliegens und nicht „dem Zuckereffekt zudienen“.
Grundsätzlich misst sich, mMn, eine gesund-gerecht-wertschätzende Gesellschaft am Umgang mit den Schwächeren und Schwächsten. Ob es dazu die verschiedensten Thementage benötigt, und wie sie gestaltet werden sollten damit gegenseitiges Verständnis/Unterstützung wachsen kann ist ein anderes Thema.
Die Moderne lagert Probleme in Symbolik aus. Es gibt Wort- und Spiegelfechterei bis hin zu sog, Shitstorms, welche in weiten Kreisen der Bevölkerung gar nicht bemerkt werden. Der Sinn des Ganzen besteht darin, im Kern nichts ändern zu müssen.
Ich bin dafür, mal 100 Jahre ohne Symbolik, ohne Gedenken, ohne Denkmäler und ohne die inzwischen wohl 500 Welttage für X zu leben und statt dessen Probleme da zu bearbeiten, wo sie existieren: In der Wirklichkeit, nicht im gesellschaftlichen Überbau.
@Muttis Liebling
vielleicht sollten wir einen Tag des nicht-irgendetwas-gewidmet-seins einführen? Teilweise sind die ja schon mehrfach besetzt weil es zuwenige Tage hat 😉
Das da von 10:18h: „Das Einzige, was es weltweit im Überschuss gibt, ist Geld. Es fehlt an allem anderen, an Moral, Verstand, an Wissen und Anstand. Nur Geld ist soviel da, das man es im Kamin verbrennen könnte.
7.6 Mrd. Menschen kann die Erde locker vertrage. Nur eines können 7.6 Mrd. nicht, sie können nicht im Überfluss, im masslosem Wohlstand leben.“
kann ich nur unterschreiben!