Family first

Familienzeit statt Alltagsstress: Viel zu oft muss «eine Zeit» als Erklärung herhalten. (Foto: iStock)

(Foto: iStock)

Die Greisin sitzt auf dem Klappstuhl ganz vorne am Wasser im Sand. Gischt umspült die schrumpeligen Füsse, ein paar Meter weiter vorn in der Brandung quietschen ihre Enkelkinder mit einem Dutzend Erwachsenen jeden Alters. Sie spritzen, spielen mit Bällen und machen Selfies über und unter Wasser. Die alte Frau sinkt derweil im Sand immer tiefer ein. Hin und wieder kriegt sie einen Spritzer ab, sie scheint zufrieden. Sie geniesst mit der Familie, den Bekannten und Verwandten den Tag am Meer.

Es ist eine Szene, wie wir sie auf unserer langen Reise durch Kolumbien oft sehen. Drei, vier Generationen gemeinsam, sitzend vor der Türschwelle am Palavern, im Park, abends auf dem Dorfplatz oder im Restaurant. Familienbande, wohin das Auge reicht.

Es wird lustig, kommt!

«Familie ist in Kolumbien das Wichtigste.» Den Satz hören wir immer wieder. Das erste Mal sagt es Juan, mein Sitznachbar im Flugzeug nach Bogotá. Der Wahlmünchner fliegt mit Frau und Kind heim zu seiner Sippe, um mit ihnen Weihnachten zu feiern – «nonstop, zwei, drei Tage lang!». Als er erfährt, dass wir in Kolumbien weder Verwandte haben noch «richtig» Weihnachten feiern werden, kann er es kaum glauben. Er lädt uns kurzerhand ein, den Weihnachtstag mit ihnen zu verbringen. In Bogotá mit all seinen Verwandten und Bekannten. Es wird lustig, Gabriela; kommt! Eine Einladung eines Fremden zum Weihnachtsfest der Familie, 10 Minuten, nachdem man sich kennen gelernt hat.

Und schon ist es wieder da, dieses Gefühl, alles sei möglich und die Welt läge einem zu Füssen. Man bewegt sich auf neuen Pfaden, spricht mit anderen Menschen, erlebt Unerwartetes und ist offen dafür. Auch das ist es, was ich am Reisen mag. Diese Szenen von Zusammenhalt und Gastfreundschaft widerspiegeln unsere Erlebnisse und Beobachtungen in Kolumbien.

Schluss mit «keine Zeit»

Es sind solche Eindrücke und Bilder, die ich mit nach Hause nehme und die mich nachdenken lassen: Wie kurzsichtig und mit Terminen vollbepackt man oft durch den Alltag prescht und Job, Familie, Haushalt und Sport aneinander vorbeiquetscht. Wie man denkt, man habe keine Zeit, sei zu erschöpft, müsse noch dies und jenes. Einige mir wertvolle Beziehungen bleiben so auf der Strecke. Wollte ich nicht längst meine liebe Tante im Alterszentrum besuchen? Einen Ausflug mit dem Gottemeitli machen? Mit meiner Mutter etwas Schönes unternehmen? «Keine Zeit» soll nicht mehr so oft als Erklärung herhalten müssen, wenn es um die Pflege von Beziehungen mir wichtiger Menschen geht, das habe ich mir fest vorgenommen.

Und nun entschuldigen Sie bitte, ich muss telefonieren.

11 Kommentare zu «Family first»

  • Wittib sagt:

    Das Leben ohne Kinder ist sinnlos. Meine Frau und ich betreiben eine erfolgreiche Anwaltskanzlei in Zürich. Vgl. http://www.wittib-law.ch. Das Leben ist ohne Kinder sinnlos, Erfolg ist wertlos, wenn man seine Früchte nicht teilen kann.

    • Brunhild Steiner sagt:

      offenbar müssen wir nun öfters mit dieser Art Product Placement rechnen…, freut mich für Ihre Früchte, verschlucken Sie sich bloss nicht dran 😉

  • Sportpapi sagt:

    Hm. Und wenn dann eine Frau sagt, für sie sei Familie das Wichtigste, weshalb sie den Job zurückstellt und ganz in ihren familiären Aufgaben aufgeht, ist es auch wieder nicht recht.
    Auch sonst erscheint mir diese Beschreibung eines idyllischen Familienlebens etwas gar einseitig. Es gibt schon einen Grund (eigentlich mehrere), weshalb die meisten Schweizer das so nicht leben, nicht leben wollen.

    • 13 sagt:

      Den Lebensunterhalt verdienen und sicherstellen ist auch Familienarbeit 😉
      Dass die meisten Schweizer so nicht leben wollen, hängt damit zusammen, dass Wohlstand immer zu Individualismus und Unabhängigkeit führt, womit sich auch die Werte verschieben. Das ist nicht nur positiv zu werten.

  • U. Knecht sagt:

    +1

  • 13 sagt:

    „Drei, vier Generationen gemeinsam, sitzend vor der Türschwelle am Palavern, im Park, abends auf dem Dorfplatz oder im Restaurant. Familienbande, wohin das Auge reicht.“

    Das tönt schön. Wenn aber hier mehrere Generationen zusammen unterwegs sind, kommen solche Texte dabei heraus…

    https://blog.tagesanzeiger.ch/mamablog/index.php/74787/die-super-puma-grosseltern/

  • Muttis Liebling sagt:

    Wer das klassische Heimchen am Herd- Bild pflegt, muss das auch mit dem überkommenen Bild der Familie tun. Ich halte es aber eher für wahrscheinlich, dass mit zunehmender Lebensdauer und Mobilität die Familie immer weiter in den Hintergrund gerät.

    • Zufferey Marcel sagt:

      Die Familie ist eine anthropologische Konstante, mein lieber ML. Nebst anderen Lebensformen, wie z. B. der Sippe, nota bene. Ausser man weitet den Betrachtungshorizont bis in den Pleistozän- und darüber hinaus aus ;-)Die heutige Vereinzelung hingegen ist etwas historisch absolut Einmaliges.

      • Reincarnation of XY sagt:

        ML – warum sie als Gesellschaftsphilosoph oder Prophet nie wirklich etwas taugen werden, ist folgender Grund: sie schliessen immer von sich aus.
        Weil Sie früh Kinder hatten, die Beziehung zur Mutter ihrer Kinder nicht überdauert hat und Sie jetzt ein ungebundenes Leben bevorzugen (weil Sie mit menschlicher Nähe nicht allzu viel anfangen können), meinen Sie das sei der Masterplan für die ganze Gesellschaft.

      • Muttis Liebling sagt:

        Wenn schon ist die Familie eine soziale und politische Konstruktion. Anthropologische Bedingtheit gibt es nicht.

        Vielmehr war es so, dass in 99.99% der Menschheitsgeschichte Kinder spätestens ab der Pubertät (falls es die überhaupt vor der Neuzeit gab), Vollwaisen waren. Von Grosseltern ganz zu schweigen.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Was für Erkenntnisse! Welche Relevanz!
        Man nehme als Fokus 200’000-300’000 Jahre Geschichte Homo Sapiens und relativiere alle zivilisierte Lebensformen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte, da sie nun nur noch einen winzigen Bruchteil unserer Geschichte darstellen, und deshalb angeblich gar keine Relevanz haben, da man nun mit so tollen Zahlen wie 99% argumentieren kann.
        Wahnsinnig tiefsinnig und intelligent!

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