Vorsicht mit «Vorsicht!»
Letzte Woche assen wir in einem dieser Restaurants, in denen man sein Tablett auf einem Wägelchen an den Platz schiebt. Während ich mit dem Brecht am Tisch darauf wartete, dass meine Frau bald das Essen herankarren möge, stelzte ein knapp dreijähriges Kind vorbei. Es schob allerlei Leckereien vor sich her, unter anderem einen Organic Chilled Caramel-Haselnuss-Latte in einem dieser dünnen hohen Gläser. Beide schwankten bedrohlich – Kind und Latte. Obwohl ich meinen Blick kaum von dieser spannungsvollen Kombination abwenden konnte, nahm ich im peripheren Sichtfeld die Mutter wahr. Sie folgte dem Kind mit mehreren Metern Abstand – ähnlich gechillt wie ihr Latte. «Respekt», dachte ich, «die ist aber gelassen». Dann folgte es doch noch, das obligate «VORSICHT, MELODIE-OUCHY!» Vielleicht hiess das Kind auch Melanie-Sushi, aber die Mutter sagte definitiv «Vorsicht». Dabei gab es jetzt keinen Grund mehr dazu. Weder sprang ein ausgemergelter Alligator auf Melodie zu, noch schob sie das Gestell hastig gen Autobahn.
Die grosse Warnungsinflation
Mel-O hatte die Situation so sehr im Griff, wie man eine Situation mit zweieinhalb an einem instabilen, viel zu grossen Tablettwagen mit vier frei drehenden Rollen nur im Griff haben kann. Wäre Mutti ihr Latte heilig gewesen, hätte sie diesen gar nie aufs Tablett stellen dürfen. Das «Vorsicht» war in dem Moment ein reines Routine-«Vorsicht», wie manche Eltern es gefühlt alle drei Minuten aussprechen. Auch ich, übrigens. Ich will mich hier keineswegs über Helikoptereltern lustig machen und mir von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auf die Schulter klopfen lassen. Im Gegenteil: Schauen Sie mich ruhig vorwurfsvoll an. Ich warne den Brecht zehnmal öfter vor Gefahren, als es nötig wäre: «Achtung beim Backofen!» – «Pass auf, die Treppe!» – «Vorsicht mit dem Tankschlauch!» Es würde mich wenig erstaunen, wenn er sich am ersten Kindergartentag mit Vorsicht-Brecht Passdochauf vorstellt.
Kein Kind hört noch hin – zum Glück
Das inflationäre Warnverhalten bringt einige Probleme mit sich. Es ist wie im gelobten Amerika, wo Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem Sie vor jeder Eventualität warnen. Wo am Pool drölfzig Warnschilder hängen, von «Vorsicht, Wasser kann Ihre Frisur beschädigen» bis hin zu «Achtung: Es ist möglich, dass sich der Boden auftut und Sie mit einer Arschbombe, Ihrer lächerlichen Aufblasinsel, Siebzehntausend Gallonen Wasser und dem gesprächigen Garry aus Texas direkt in der Hölle aufschlagen.» Niemand beachtet mehr als ein Warnschild pro Quadratmeter. Niemand liest mehr als eine halbe Seite AGB. Und niemand nimmt mehr als ein «Vorsicht» pro halbe Stunde wahr. Für den Brecht sind meine Warnrufe vermutlich wie Atemgeräusche. Natürlich fällt es uns Eltern schwer, den sorglosen Kindskopf näher als 30 cm an einer Möbelecke zu sehen. Aber Himmel, es ist die abgerundete Ecke aus mittelweichem Holz eines Tisches, der das GS-Zeichen für geprüfte Sicherheit trägt. Trotzdem brüllt manch einer von uns, als würde sein Maximilian-Jason auf Inlineskates ohne Bremsen auf eine rotierende Scheibe mit rotglühenden Rasiermessern, rostigen Nägeln und benutzten Heroinspritzen zurollen.
«Du kannst das nicht, du Lauch!»
Die unnötige Warnung überhören ist das Beste, was das Kind in so einem Moment machen kann. Würde es tatsächlich jedes Mal hinhören, erhielte es gleich noch folgende Botschaften mit: «Du kannst das nicht!» – «Mit der Situation bist du überfordert!» – «Ich traue dir nicht zu, Grossmutters Herzmedikamente richtig zu sortieren.» So ein Vater wollte ich nun wirklich nie werden. Also nahm ich mir in besagtem Restaurant vor, den Brecht künftig nur noch vor echten Gefahren zu warnen. Als wir nach Hause kamen, durfte er sich ein Glas Milch einschütten. Zum ersten Mal komplett selbstständig inklusive Glas aus dem Schrank holen, volle Milchpackung aufschrauben und eingiessen. Ich sagte nicht ein einziges Mal «Vorsicht». Wir waren am Ende beide sehr stolz, dass wir das geschafft hatten.
Dieses Posting könnte Sie auch interessieren: «I ha dr doch gseit du söusch di häbe!»
Die neusten Mamablog-Beiträge können Sie sich auch aufs Handy pushen lassen. So einfach gehts: Die App des «Tages-Anzeigers» aufs Smartphone laden, «Einstellungen/Allgemein» anwählen, danach «Push» und «Mamablog» – fertig. Die App finden Sie im App Store (Apple) oder im Play Store (Android).
23 Kommentare zu «Vorsicht mit «Vorsicht!»»
Während den Sommerferien erlernte ich unsere Zwillinge das Radfahren. Nach etlichen zirkusreifen Kopfrollen in die Dornenbüsche von verwaisten Parkplätzen wagte ich mich auf den Veloweg. Bei jeder Strassenkreuzung beförderte der Luftsog meiner polizeilich-rudernden Arme die Jungs sicher am Quartierverkehr vorbei. Angelangt auf dem Pausenplatz der Grundschule setzte mich erschöpft nieder, jedoch knallte mein Bub frontal in die einzige Basketball-Stange des flughafengrossen Platzes. Als ich näher kam, sah ich bis zu handgrossen Scherben von zertrümmerten Bierflaschen, die nächtliche Trunkebolde am Vorabend gegen die Basketballstange geschlagen hatten. Mein Bub lag innerhalb einer scherbefreien Stelle, der ziemlich genau dem Umriss seines Körpers entsprach. Seither glaube ich an Schutzengel
So häärzig!
„Obacht!“ ist ein schönes Wort. Obacht Brecht wäre übrigens auch ein grandioser Name um in der freien Theaterszene durchzustarten.
Sonst gibt’s auch noch das polnische UWAGA! Das ist immer hilfreich, weil nicht polonophone Menschen nicht genau wissen, ob das Wort doch nicht eventuell vor einem Mammut oder einem Säbelzahntiger warnt.
Reto
Habe keine Kinder, aber der Artikel ist weltklasse, bravo!
Auch ich bin eine Überglucke, welche ihre Kinder am Liebsten bis ins Erwachsenenalter in Watte packen würde. Da dies aber für eine gesunde Entwicklung störend ist, habe ich immer versucht, meine Angst vor den Kindern zu verbergen. Noch heute muss ich mich zu Ruhe zwingen, wenn sich mein 15 Jähriger um ein paar Minuten verspätet, um nicht panisch zu werden. Bei meinem Grossen bin ich entspannter. Es hängt wohl mit dem Unfall zusammen, welcher mein Jüngerer vor Jahren erlitten hat.
Ich konnte auch wieder herzhaft lachen.
Das „Vorsicht“ oder „Achtung“ ist auch nicht für die Kinder gedacht, sondern es hilft uns Eltern, wenn tatsächlich etwas passiert, zu denken „Ich habe mein Möglichstes getan und das Kind extra noch gewarnt“. Ich habe mir mal als Erwachsene beim Wintersport ein Bein gebrochen. Als ich meinen Mann aus dem Krankenhaus anrief, er war gerade einige Tage im Ausland, meinte er als Erstes: „Ich habe gestern noch gemerkt, dass ich Dir vergessen habe, Dir zu sagen, dass Du vorsichtig sein sollst.“ Rein rational war ihm wie auch mir klar, dass ich nicht anders gefahren wäre, hätte er mich noch gewarnt. Aber er hätte sich wohl besser gefühlt.
Aber ein „Vorsicht“ist nicht schlimm, schlimm ist ein „Ich habe es Dir ja gesagt“.
„Aber ein „Vorsicht“ist nicht schlimm, schlimm ist ein „Ich habe es Dir ja gesagt“.“
Das stimmt. Fehlt nur noch der Beisatz „selber schuld“.
Aber der Punkt des Autors ist schon noch wichtig. Kinder lernen so früh, auf Durchzug zu schalten. Eine Form des Selbstschutzes, die ihnen später im Leben durchaus zugute kommen kann. 😉
Wir halten das mit unserem Nachwuchs genau umgekehrt. Ueber Gefahren klären wir zwar (auch detailliert) auf, halten uns dann aber mit all den „Vorsicht“ und „pass auf“ soweit zurück wie es nur geht. Ausser das Vorgehen ist dann offensichtlich falsch oder gefährlich, oder der Nachwuchs sucht nochmals unseren Rat.
Das andere, und damit auch die Projektion der eigenen Aengste, muss man als Eltern aushalten können.
«VORSICHT, MELODIE-OUCHY!» Vielleicht hiess das Kind auch Melanie-Sushi, ….
Hat ein Mensch, der sein armes unschuldiges und wehrloses Kind Brecht nennt, irgend ein Recht, sich über die Namen andrer Leute Kinder zu mokieren?
Natürlich. Jeder darf das. Und Melodie-Ouchy hiess selbstverständlich nicht Melodie-Ouchy.
Also,Brecht ist ja nicht Irgendwer.Brecht darf das!
Selbstverständlich. Seit die Auswüchse des Kevinismus bereits die Welt der Erwachsenen erreicht hat (Nachbar heisst Jeremy Pascal Rüdisüli), bleibt nur der öffentliche Verriss der Namensgebung.
Nur wenn der Name Brecht ein Pseudonym ist…..
Vorsicht! Dass Sie nun nicht plötzlich zu unvorsichtig werden. 🙂
Mein Lob:
Ich finde es wohltuend, dass Sie sich nicht über den Rest der Eltern stellen.
Da haben Sie aber den Sinn der Warnschilder nicht erkannt, speziell die in Amerika. Würde z.B. am Pool kein Schild mit einem Warnhinweis hängen, das Wasser die Frisur beschädigen kann, würde der Poolbesitzer über kurz oder lang mit einer Klageflut von Frauen mit zerstörter Frisur überhäuft sehen. Oder war das ganze nur ein Artikel über die Sinnhaftigkeit von Kindernamen ?
In Amerika haben Sie völlig recht!!
In der Achweiz stimmt das zum Glück nicht. Der Artikel ist super!
dann wäre der Sinn der Warnschilder in den USA aber vor allem:
„ändert endlich mal das Rechtssystem, ihr Ignoranten!“
Die Konsumenten(Schützer) wollen das. Wir sind in der Schweiz leider auch auf dem Weg dahin. Schritt für Schritt geht es in diese Richtung.
Doch doch, den Sinn der Warnschilder habe ich schon erkannt. Aber der spielt ja keine Rolle bezüglich der Wirkung: Je mehr Schilder, desto weniger nehme ich das einzelne Schild wahr. Übrigens etwas, dessen sich Verkehrsverantwortliche in der Schweiz durchaus bewusst sind. Zumindest das Exemplar, mit dem ich beruflich mal ein interessantes Gespräch darüber führte.
„Je mehr Schilder, desto weniger nehme ich das einzelne Schild wahr. Übrigens etwas, dessen sich Verkehrsverantwortliche in der Schweiz durchaus bewusst sind.“
Ich weiss, Sie belieben zu scherzen Herr Tschannen.
Ausser ihr ‚Exemplar‘ hält sich weit weg von der Stadt Zürich auf…. 😉
Das meinte ich in diesem Fall durchaus ernst. Es geschah allerdings in der Stadt Bern: Ich wollte beschildern, ein Herr von der Stadt hat mir die Idee ausgeredet mit der Begründung, meine Schilder wären zwar sinnvoll, in der Gesamtsicht seien dann aber zu viele Schilder auf Platz.
Bei den Warnschildern ist es im Prinzip dasselbe wie bei Packungsbeilagezetteln, bei AVBs usw. Geschrieben von Juristen für Juristen, damit die etwas zum beissen haben. Dafür muss man nicht in die USA reisen.
Herrlicher Kommentar – danke für den Aufmunterer heute morgen. Musste mich – als 3-fache Mutter von abenteuerlustigen Söhnen und mittlerweile Grossmutter 3er ebenso abenteuerlustigen Grosskindern an der Nase nehmen. Wirklich super Input.
Super geschrieben – und ein wahrer Schlusssatz (…“dass WIR das geschafft hatten“)