Was wir von Kindern lernen können

Jetzt ist alles: Niemand kann so gut im Moment leben wie Kinder. Foto: unsplash.com/Annie Spratt

Letzthin erzählte mir eine Freundin, dass sie zwischen zwei Familien vermitteln müsse, die miteinander in einem Konflikt stehen. «Erzähle ihnen doch das Buch ‹Die Kinderbrücke›», schlug ich ihr vor. «Nein, ich arbeite mit Erwachsenen, nicht mit Kindern», entgegnete sie kopfschüttelnd. «Aber Erwachsene können ja bekanntlich von Kindern lernen. Vielleicht müssen wir uns ab und zu wieder daran erinnern. Es ist nämlich einfacher, als wir denken», antwortete ich.

Mein Sohn, der unser Gespräch aufmerksam verfolgte, rief dazwischen: «Sag ihnen einfach, dass, wenn sie nicht aufhören zu streiten, sie sich alle in Vampire verwandeln. Und das wollen sie sicher nicht, weil sie Angst vor Vampiren haben. Sie hören dann bestimmt schnell auf zu streiten.» Ja, so einfach ist das.

Ansichten meines Kindes

Wie die Kinder die Erwachsenen beobachten, um von ihnen zu lernen, so geht das auch umgekehrt – wenn man sich darauf einlassen will. Ich will, das habe ich entschieden, so gut es geht. Und so lerne ich von meinem Kind, wie gewisse Dinge auf der Welt einfacher sind, als ich dachte. Zum Beispiel teilte mir mein Sohn letzthin mit, dass er jetzt einen Bruder habe, nämlich den Nachbarsjungen nebenan. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, fügte er hinzu, dass Kinder eben besser als die Erwachsenen wüssten, wer ihre Geschwister seien. Oder als er mir stolz erzählte, dass er mit seiner Grossmutter gekocht habe und er alles alleine gemacht habe; ausser den Rest, den habe seine Grossmutter gemacht. Oder dass ein Freund auch ein Halbfreund werden kann.

Ich lerne aber auch von meinem Kind, (aus)gelassener zu sein; den Abwasch einfach stehen zu lassen, um stattdessen zusammen in der Küche zu tanzen. Miteinander laut zu lachen und vor Lachen fast vom Stuhl zu fallen. Ich lerne mehr Fragen zu stellen; sie halten mich in Bewegung, sie klären und helfen mir das Leben zu verstehen.

«Ich bin im Fall kein Zauberer»

Ich lerne von meinem Kind, die kleinen Dinge zu sehen und zu hören; zum Beispiel unter dem grossen Baum oder auf dem Weg zum Bahnhof stehen zu bleiben, um dem aufgeregten Vogelgezwitscher zuzuhören; den Tannenzapfen am Strassenrand aufzunehmen, um festzustellen, dass er wie jeder andere Zapfen aussieht; oder im Zug mit einem Menschen zu reden, einfach weil dieser Mensch so nett aussieht. Ich lerne von ihm, eine Stunde lang ein Mandala auszumalen, ohne dabei zu reden, und dass der heutige Streit nichts mit dem morgigen Tag zu tun hat.

Ich lerne von meinem Kind aber auch, dass nicht alles so einfach geht, wie ich denke; zum Beispiel meine Multitasking-Erwartung an ihn. Als wir mal wieder am Morgen gestresst aus dem Haus gehen mussten, setzte er sich auf einmal hin und sagte verzweifelt: «Mama, was soll ich denn jetzt zuerst machen? Die Jacke anziehen, den Znüni in den Schulthek packen oder meine Wangen eincremen? Ich kann doch nicht alles gleichzeitig machen!» Ich setzte mich zu ihm auf den Boden, atmete tief ein und tief aus. «Du hast recht, das geht nicht.» «Ja genau, Mama, das geht nicht, ich bin im Fall kein Zauberer.»

Nein, das ist er tatsächlich nicht. Genauso wie die beiden Familien, die sich beim Weiterstreiten nicht in Vampire verwandeln werden, ist er auch kein Zauberer. Und dennoch ist es: so einfach.

11 Kommentare zu «Was wir von Kindern lernen können»

  • Gubelmann sagt:

    Herbert Grönemeyer beschreib in seinem Song „Kinder an die Mach“ sehr gut worum es geht. Er beschreib, dass die Welt schlecht ist. Die Erwachsenenwelt zerstören die Welt mit Armeen und Panzern, auch unschuldige Menschen sterben. Doch alles könnte so viel besser sein – wenn Kinder an der Macht wären. Nahezu genauso alt ist die Diskussion über die Verankerung von Kinderrechten. Einen Meilenstein bedeutete die Verankerung in der UN-Kinderrechtskonvention, die am 20. November 1989. vgl. https://www.rundschau-online.de/politik/kinderrechte-im-grundgesetz-die-eltern-bestimmen-ueber-das-kindeswohl—pro-und-contra-29336930 und http://www.familienrecht-anwalt.attorney/elternschaft-und-kinder/

    • Vroni sagt:

      Ja genau. Weil Kinder doch so friedfertig sind, niemals streiten, immer alles teilen, nie egoistisch sind……Jedenfall offenbar in den Ideologien gewisser Träumer.
      Tatsächlich sind die heutigen Kinder wesentlich egoistischer und alles andere als friedfertig, denn die Erziehung, die die Zivilisation ausmacht, findet nicht mehr statt.

  • Karl von Bruck sagt:

    Nicht nur von Kindern, auch von Tieren sollte dringend wieder gelernt werden. Eine Katzenmutter wuerde weder ihre „Kinder“ aussetzen, noch nur ewig beglucken, ohne ihnen sobald moeglich zu lehren selber zu fliehen und zu jagen. Es wuerde auch keiner Katze einfallen, mehr zu jagen, als sie in vernuenftiger Zeit fressen kann, oder gar Vorraete von Milliarden Meusen anzuheufen, derweil viele Artgenossen (ver)hungern muessen….

    • Michael sagt:

      Vorsichtig ! Katzenmütter kümmern sich nur um die starken. Schwache Kätzchen überleben ihre Kindheit kaum. Löwen ( auch eine Katze ) beissen die Kinder seines Vorgängers tot, wenn er die Mutter besteigt. Mensch und Tier kann man nicht vergleichen.

      • Lichtblaul sagt:

        K.v.B.: Nun ja, was unsere Katze bis vor kurzem alles anschleppte – darunter eine riesige weisse Ratte (aus dem Labor der nahen Uniklinik abgehauen?), war nicht wirklich Notvorrat. Da habe ich von meinem im Vergleich wirklich grundguten Kind doch weitaus mehr lernen können.

    • Christoph Bögli sagt:

      Ihr romantische Anthropomorphik in Ehren, aber es ist gerade bei Katzen nicht selten, dass diese ihren Wurf dem Tod überlassen wenn die Bedingungen gerade nicht passend sind. Ebenso sind Katzen bekanntlich meisterhaft darin, aus reinem Jagdtrieb (und somit „Spass“) oder für die Anerkennung zu töten, ohne überhaupt irgendwas davon zu verzehren. Und dabei ist es denen natürlich völlig egal, ob irgendwo eine andere Katze gerade verhungert. Tiere bzw. die Natur dienen leider nur sehr begrenzt als Vorbild, zumindest wenn man irgendwelche Tugenden im Sinn hat..

  • Anh Toàn sagt:

    Kinder können vieles, was wir verlernt haben:

    Sie sind im hier und jetzt. (Wir müssen Vorsorge fürs Alter betreiben)
    Sie sind sorglos. (Wir müssen Verantwortung tragen)
    Sie sind neugierig auf Fremdes. (Wir sind ängstlich vor Fremdem)
    Sie suchen in Allem und Allen etwas Positives, einen Nutzen, irgend ein Spiel, dass man damit spielen kann. Sie hüpfen in die Pfützen bei Regen. (Wir ärgern uns über das Negative, den Regen)
    Sie sind ehrlich. (Wir reden in Euphemismen, politisch korrekt, von Hinten durch die Brust)

    Wir nennen Erziehung, die Kinder all dies zu vergessen. Sie sollen werden wie wir, erwachsen, verantwortlich, vorsorgend („im Voraus sorgend“), vernünftig halt.

  • 13 sagt:

    Ein sehr schöner Text. Ich fühle mich ein bisschen ertappt, da es mir immer mal wieder passiert, dass ich das Kind, welches ich 20 Sekunden zuvor zum Jacke anziehen geschickt habe, noch während es diese anzieht, anmotze, weil es immer noch keine Schuhe anhat. Und dann stelle ich fest, dass die knappe Zeitplanung nicht der Fehler des Kindes ist, sondern mein eigener. Ab jetzt wird mir da wohl der Satz „Ich bin im Fall kein Zauberer“ immer wieder in den Sinn kommen. So einfach.

  • Boris Laplace sagt:

    „Meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe, und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor, und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so ganz! – immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! […] Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündet. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht.“ Johann Wolfgang Goethe 1771

  • CoffeeToffee sagt:

    Ein sehr schöner, bewegender Text. Das Pflichtbewusstsein nimmt in der Tat oft die Ueberhand.
    Morgens stressen müssen wir zum Glück nie. Dafür stehen alle einfach (zu) früh auf.

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