Ach, das kinderlose Leben…
«Mama, als du jung warst und wir am Sternliputzen, gab es da noch Dinosaurier?», fragt mein Sohn.
Ich glaube, für Kinder liegt das Vorleben ihrer Eltern in einem diffusen Nebel, ist jenseits ihrer Vorstellungskraft. Schwierig, ihnen zu erklären, was da vorher mal war, im Leben A, in der kinderlosen Zeit. Denn von dem Moment an, wo ein kleines schreiendes Etwas in unser Leben dringt, verschwindet dieses Leben A. Man wird in das pralle Leben B mit Kindern katapultiert – wunderschön und sinngebend, intensiv und herausfordernd.
Und doch gibt es die Prä-Kinder-Ära immer noch. In Form von Erinnerungen, die manchmal helfen, Tage im Hamsterrad zu erleiden und die «Wollte ich das alles und kann ich das alles wirklich?»-Momente mit Kraft und einem Lächeln anzupacken.
Ölüdeniz, Kirgistan, Adam’s Peak
Wir sind am Burgenbauen im Sandkasten des Freibads. Ich lasse den Sand zwischen meinen Zehen durchrinnen, als mein Dreijähriger eine volle Giesskanne mit kaltem Wasser über meinem Kopf auskippt.
Ich werde nass – und tauche in meinen Erinnerungen auf am Strand von Ölüdeniz, Türkei, 17 Jahre zurück: Frühstück am Campingtischchen. Weites Meer. Unser oranger VW-Bus direkt im Sand geparkt. Ausgeschlafen – bis neun Uhr, durch die Hitze der bereits prallen Sonne aufgewacht, nicht durch einen verlorenen Nuggi im Bettli. Parat für den Gleitschirmflug? Parat. Fast. Nochmals eine Tasse Kaffee und die Füsse beim Nippen an der Tasse im Sand vergraben…
Grosse Aufregung bei den Kindern: Die erste Nacht im neuen Zelt – vorerst im eigenen Garten. Der frisch gemähte Rasen duftet nach Abenteuer. Etwas zu viel Abenteuer: Mama muss mit aufs Mätteli im Zelt – man hat dann doch etwas Angst, dass sich wilde Tiere bei Nacht reinschmuggeln könnten. Nach fünf Minuten schlafen die Kinder, ich nicht. Der 6-Jährige presst sich an mich, die Grosse rammt mir zum dritten Mal in fünf Minuten ihren Ellbogen in den Magen. Das Schmatzen des Nuggis vom Kleinsten lullt mich nicht in den Tiefschlaf, erinnert mich aber im Halbschlaf plötzlich an den Flügelschlag des Adlers, der über dem Himmel von Kirgistan kreiste, damals, vor 19 Jahren:
Wir sitzen vor einer Jurte, dem Zelt der Kirgisen. Bei Kerzenschein reden wir über den Ausritt mit den Pferden, lachen über meinen Sturz über das Hinterteil des Hengstes, als wir plötzlich den Adler sehen, der über uns kreist, so nah! Wir halten den Atem an. Schweigen. Staunen. Doch ich erinnere mich auch an meinen Po, der noch tagelang nach dem Sturz schmerzte. Aber warum tut mir plötzlich die Rippe weh? Ach so: Meine Tochter…
A für Assoziationen
«Gab es nun Dinos, als du klein warst?» fragt mein Mittlerer nochmals hoffnungsfroh. «Nein, Dinosaurier nicht», antworte ich, «aber einmal, in Sri Lanka, vor 12 Jahren, trat aus dem Dickicht vor uns plötzlich ein Elefant. Wir mussten sehr schnell unseren Jeep wenden, denn er rannte bereits wütend auf uns zu, und wir entdeckten neben ihm sein Junges. Eine gefährliche Situation, denn…» Der Kopf meines Jungen fällt schwer an meine Schulter. Eingeschlafen.
Ich bleibe noch einen Moment in Gedanken im Dschungel von Sri Lanka sitzen, am Fusse der Treppe zum Adam’s Peak, dem heiligen Berg. Und während sich die Steinstufen allmählich wieder in den Holzrahmen des Kinderbettes zurückverwandeln, gestehe ich mir ein, dass mich hie und da eine leise Wehmut befällt und ich mit sehnsüchtigem Lächeln an das Leben A zurückdenke, in welchem Selbstbestimmtheit regierte und die Freiheit unendlich schien. Und die Destinationen abenteuerlicher klangen als Lauchernalp und Tessin.
Aber natürlich ist es der unglaubliche Reichtum sowie das Glück von Leben B mit seinen kunterbunten Ereignissen wert, dass dieses Leben A nur noch in Form von Assoziationen zum «Jetzt» für gewisse Momente zurückkehrt.
Und der Sternenhimmel über dem Lago Maggiore, der ist auf der Terrasse und mit Kindern im Arm auch ganz schön. Vorläufig.
27 Kommentare zu «Ach, das kinderlose Leben…»
Schöne Erinnerungen tun der Seele gut, das Jetzt (als Mamma) ebenfalls. Das sind dann einmal auch schöne Erinnerungen für deine Kinder. Und, Nadine, sei gespannt auf deine Zukunft. So lebendig und ehrlich wie du schreibst, freue ich mich auf deinen nächsten Blog.
Das Leben in seinen Polaritäten
Wie Tag und Nacht……Mann/Frau…….starr/bewegend….kinderlos/kinderintensiv….vorher/nachher……… Polaritäten unseres Lebens. Mittendrin spielt sich diese Lebendigkeit ab, wo unser Leben mit Kinder oder ohne lebendig hält… Danke Nadine….ein lebendiger Text.
Freitag, 20. Oktober 2017, 10.45 Uhr
Marilou
Begeistert habe ich deinen Beitrag gelesen. Konnte dabei ein Schmunzeln und ein frohes Lachen nicht unterdrücken. Reif an Jahren (74) darf ich auf ein Leben mit tollen Reisen zurückblicken. Dann kam Leben A – die Familienphase mit zwei Kindern und spannenden Zeiten. Ich genoss Leben C mit meinem Mann wieder allein, wo wir vieles nachholen konnten. Schmerzvoll endete vor fast zwei Jahren Leben C, weil mein geliebter Mann an Krebs gestorben ist. Ich darf nun – im Leben D – immer wieder drei herzige Enkelkinder hüten und viel Schönes mit ihnen erleben. Bin dankbar, Kinder und Enkelkinder zu haben!
Schöner Text. Alles hat seine Zeit…
Habe kein Mittleid mit Menschen die bis 40 warten um Leben B zu starten und dann nur noch rummjammern! Mein Leben A endete mit 27 und ging grandios mit 43 weiter und weiter und weiter ….
Die heutige „Familienplanung“ ist, mit verlaub, einfach behämmert!
Lieber Gruss von einem „lebenden“ 🙂
Lieber Diego
Haben Sie den Text überhaupt gelesen?
Besser hätte man diesen Artikel nicht kommentieren können. Bin absolut derselben Meinung! Alles auf den Punkt gebracht!
Wo lesen Sie, dass die Autorin spät Mutter wurde? Und wer sehr früh Kinder bekommt und denkt, er könne dann später alles nachholen – stimmt sicherlich, aber es wird nicht mehr dasselbe sein. Mit 25 oder mit 43 vor dem VW-Bus sitzen ist einfach nicht vergleichbar. Wenn man solche Reisen mit 43 überhaupt noch ins Auge fasst.
Ich habe – mit Verlaub – nicht ganz verstanden was Sie uns mit Ihrem Kommentar eigentlich mitteilen wollen.
Nach Leben B kommt ja nicht wieder A, sondern hoffentlich C. Mir tun Menschen eher etwas leid welche sich mit Mitte 40 wieder wie Mitte 20 benehmen. Was sie mit 43 nun nachholen haben andere halt in ihren 30ern schon gemacht. Zeitlich ein Nullsummenspiel.
Diese Erinnerungen sind doch super! Wenn die Kids grösser sind, kann man sie auch mitnehmen – z.T. an die gleichen Orte, oder sonst wo hin.
Man kann ihnen Bilder zeigen und sie „gluschtig“ machen. Unsere Kids zelten gerne – auch in den CH Bergen auf 2600 m. Es braucht in den ersten Jahren mit Kindern Geduld – doch dann fährt man halt mit dem Auto auf einen Pass, trägt die Kids zu einem Seeli und übernachtet z.B. im Zelt. Die Kids lernen den Sternenhimmel kennen und finden es cool.
Und wenn sie grösser sind, kann man coolere Sachen machen (wir zelteten am 1. Okt. am Nordkap und bestaunten die Nordlichter).
Sehr treffend und mit viel Gespür, bravo!
Schöner Artikel! Kann ich sehr gut nachempfinden, auch wenn ich in Leben A nie so weit gereist bin.
So ist das Leben, einmal abenteuerlich und hektisch. Dann etwas ruhiger und beschaulicher. Phasen des gelebten Tuns und in Erinnerungen schwelgen, jeden Augenblick im Hier und Jetzt versuchen zu geniessen.
Schön geschrieben und etwas Wehmut darf auch sein, vielleicht sogar mit Vorfreude, was sein wird, wenn diese intensive Kinderphase auch mal vorbeigeht. Ändern würden es die meisten ja ohnehin nicht mehr.
Der Artikel ist ja gut geschrieben und ich verstehe den dramaturgischen Kniff. Trotzdem erscheint mir es merkwürdig, dass die Autorin – wie so viele – eine derart grundlegende Diskrepanz zwischen vorher und nachher sieht. Natürlich verändert sich so manches. Trotzdem ist man doch mitnichten nur noch an die heimische Badi und den eigenen Garten gebunden. Man kann auch mit Kindern alles mögliche unternehmen und erleben, wenn man will auch in Sri Lanka oder Kirgistan. Diese Idee, dass man sich mit Kindern plötzlich daheim einigeln muss und das Leben da draussen abhaken muss, wirkt für mich recht seltsam..
Das sehe ich genauso. Ausserdem verbringen mein Mann und ich etwa 2-3 mal pro Jahr ein verlängertes Wochenende alleine (dank den lieben Grosseltern). Klar, man kommt an einem verlängerten Wochenende nicht bis Sri Lanka, aber um eine schöne Zeit zu zweit zu verbringen und sich ein paar neue Erinnerungen zu schaffen reicht es.
Ja, wenn der Geldbeutel das hergibt… einen Flug mit Kindern nach Sri Lanka oder Kirgistan könnten wir uns definitiv nicht leisten. Als Single gehörte das zum „normaleren“ Jahres-Urlaub…
Ich bin aber mit ihnen einig, dass man Ferien auch so spannend gestalten kann. Um es schön zu haben, muss man definitiv nicht um den halben Globus fliegen.
Finanziell wirds natürlich bei einer Familie schwieriger. Aber wo ein Wille ist, ist meist auch ein Weg. Letztlich hängt das zumindest in der Wohlstandsschweiz aber auch oft eher von den Prioritäten ab. Und es muss ja nicht gleich zweimal im Jahr dicke Ferien mit Fernreise und Luxusressort sein. In der Nähe, gerade wenn man etwas genügsam und abenteuerlustig ist, kann man grundsätzlich so verreisen, dass das kaum teurer kommt als der Alltag in der Schweiz.
Liebe Nadine, herrlicher Text aus dem Herzen geschrieben. Bin grade im Tessin und versinke gerne in spannende Schweizerkrimi (auf dem Spielplatz) oder denke ebenfalls an tolle Reiseerlebnisse mit meinem Mann. Meine Söhne 5 Jahre und 9 Jahre kommen sich doch sehr oft in die Haare oder finden die Wanderung scheisslangweilig. Unsere Bedürfnisse als Eltern werden oft zurück gesteckt. Aber die strahlenden Gesichter beim gesammelten Marronisack entbeert so manche Unannehmlichkeiten. Herzlich Yvonne
Ah ja,die schöne heile Welt. Gruss vom Realisten.
Ja, Erlebnisse dieser Art hatte ich auch und ich denke auch gerne daran zurück. Manchmal erzähle ich auch meinen Kindern davon, das finden sie schon spannend.
Dann gab es aber auch die harzigen Momente: langweilige Pärchen-Abende, einsame, verkaterte Single-Sonntage, das nagende Gefühl, dass es doch noch mehr als „nur“ Reisen/Selbstverwirklichung/Paarbeziehung/Arbeit geben muss.
Das Reisen mit Kindern wird glücklicherweise wieder spannender, wenn sie grösser werden. Man bleibt nicht ewig im Sandkasten hängen 🙂
Gut geschrieben, danke.
Es lohnt sich jedes Leben!
Sie haben eindrückliche Sachen erlebt,als die Kinder noch am „Sterne putzen“ waren. Sachen,die man auch sehr schön den Kindern erzählen kann.
Ich bin ein wenig hin und hergerissen,was man den Kindern sagen soll,wenn sie einem z.B. fragen,ob man auch mal gekifft hat.Sagt man ja,dann werden sie dies wahrscheinlich als Freibrief sehen,es auch zu tun.Auf der anderen Seite haben Lügen kurze Beine und man sollte zu dem stehen,was man gemacht hat.Selbstverständlich kann man mit den Kindern über das Kiffen ein offenes Gespräch führen (Risiken: z.B. bezüglich zukünft. Führerausweis,wenn sie auf dem Töffli mit Gras erwischt werden, Lehrstelle, Gesundheit….) und z.B. sagen, weshalb man dann doch irgendwann damit aufgehört hat.Ich tendiere schon dazu offen die Wahrheit zu sagen,sehe aber die Risik
Ja, das kenne ich, aber auch meistens friedlich! Unterdessen habe ich ein Leben C, das nach dem Auszug der Kinder sich an Leben A reiht, wo wir wieder alleine Ferien machen können, wohin wir wollen. Dafür habe ich ein süsses Enkelkind (bald 3J.), das ich einmal pro Woche hüte und mir viel Freude bereitet. Es lohnt sich allemal Kinder und dann Enkelkinder zu haben!
Es lohnt sich jedes Leben!
Es „lohnt“ sich wohl auch, keine zu haben. Letztlich in allen Fällen bloss immer die Frage, was man möchte und was man daraus macht. Ein „richtig“ oder „falsch“ gibt es m.E. in der Frage nicht.