Jeder ein Hobby-Kinderarzt!

Erdbeerzunge oder Infekt? Krankheitserfahrene Eltern wollen ihr Wissen oft ungefragt weitergeben. (iStock)
Es gibt Leute, die mutieren zu Hobby-Kinderärzten, sobald sie ein Baby niesen hören. Jene, die selbst Nachwuchs haben, bringen schliesslich genug Erfahrung mit; jene ohne haben immerhin genug Folgen der Kinderarzt-Serie «Hallo, Onkel Doc!» im Fernsehen gesehen, um ein Hüsteln fachkundig einzuordnen.
Ungefragt konfrontieren sie die Eltern sogleich mit ihren Diagnosen. Es wäre toll, könnte man die Ratschläge einfach so annehmen – in unserem Gesundheitssystem kommt man selten derart günstig zu medizinischer Beratung. Leider sind die Einschätzungen aus der Distanz in aller Regel so treffend wie die ersten Töpfchenversuche. Zu den verbreitetsten Spontandiagnosen gehören…
Dem Kind ist zu warm/zu kalt
Selbst wenn man zum Beweis den Fiebermesser zückt, sind sich Gelegenheitspädiatristen sicher, den wahren Grund für die erhöhte Körpertemperatur entlarvt zu haben: die zu dicke Kleidung. Hosen über Strümpfe, ja sind wir denn in Sibirien? Es sind dieselben Personen, die im Sommer Eltern schreiender Kinder belehren: «Ein kurzärmliges Body? Das Baby friert doch offensichtlich!»
Das Kind ist allergisch auf XY
Spuckt ihr Kind in der Öffentlichkeit sein Biskuit raus, verweigert den Schoppen oder rümpft angesichts des Milchbreis die Nase, ist aus der Entfernung deutlich eine Allergie erkennbar. Vielleicht ist es auch nur eine Glutenintoleranz. Oder das Kind konnte seinen Eltern noch nicht deutlich machen, dass es sich vegan ernähren möchte.
Das Kind bekommt zu wenig Schlaf
Klar, ein geröteter Rachen ist die Ausgeburt eines aufgeschnappten Erkältungsvirus. Und Durchfall das Markenzeichen einer grassierenden Magen-Darm-Grippe. Dass es aber überhaupt zu einem Infekt kommen konnte, liegt nicht etwa am wenig ausgebildeten Immunsystem des Kindes, sondern an Schlafmangel. Kein Wunder, wenn die Eltern den Nachwuchs abends noch mit ins Restaurant schleppen («Also andere Kinder in dem Alter schlafen schon»). Ihr ausschweifendes Nachtleben ist die Wurzel allen Übels!
Das Kind ist autistisch
Ihr Spross wagt es, fünf Sekunden lang unbewegt auf ein Spielzeug zu starren, statt sich mit sabberndem Eifer darauf zu stürzen? Mit vierzehn Monaten läuft er noch keinen Kilometer am Stück, und wenn Sie neben ihm eine Tischbombe zünden, kriegt er keine Panikattacke? Der Möchtegernmediziner weiss: Ihr Kind ist autistisch.
Und die verbreitetste Spontandiagnose überhaupt…
Das Kind zahnt
Ihr Kind schreit? Es zahnt. Ihr Kind hat Fieber? Es zahnt. Ihr Kind hat eine unregelmässige Verdauung? Es zahnt. Ihr Kind kotzt? Es zahnt. Ihrem Kind ist eben ein Arm abgefallen? Es zahnt.
33 Kommentare zu «Jeder ein Hobby-Kinderarzt!»
…aber die Kinderärzte haben oft auch nicht mehr Ahnung…“geben sie mal 3 Tage Algifor und dann schauen sie“…mhhh…
Sehr schlecht informierter Kommentar. Ärzte können (im Gegensatz zu Ihnen) abschätzen ob eine Symptomatik aktuell oder in Zukunft gefährlich ist, dies ist ein bedeutender Teil ihrer Ausbildung.
Da viele Krankheiten, gerade bei Kindern, selber ausheilen, ist es auch eine gute Idee als erstes Mal abzuwarten. Ist es nach einiger Zeit kann man dann weiter abklären. Aufwendige Diagnostik birgt auch immer Risiken, etwa Strahlungsschäden welche man besonders Kindern nie gerne zumutet.
kenn ich mein Kleiner muss eigentlich schon bei den Weisheitszähnen angekommen sein soviel wie er zahnt.. offiziell sind es erst 7 Milchzähne 🙂
Hobby-Ärzte gibt es aber auch für Erwachsene. „Nimm dieses Mittelchen oder jenes, aber auf keinen Fall das, was Dir der Arzt verschrieben hat.“ „Deine Genesung verläuft aber untypisch, der Arzt hat doch keine Ahnung.“ „Was, eine Operation? Bei meiner Tante/Cousine/Freundin… konnte dies medikamentös behandelt werden…!“
Autismus ist das neue ADHS. Jahrelang wurden laute, quirlige und unangepasste Kinder abgeklärt, therapiert und medikamentiert. Dieser Markt ist nun erschöpft, jetzt gehts den stillen und kreativen an den Kragen. Und dann wundern sich alle, dass die Krankenkassenprämien bei den Kindern steigen. Die Toleranz der Diversität der kindlichen Persönlichkeit und des Entwicklungsstandes haben in den letzten 20 Jahren bedenklich abgenommen. Dabei sind Menschen vor allem eines: Anders.
Wie wahr!
Die Diagnose Autismus ist viel älter (1911) als die des AHDS.
Die Krankenkassenprämien steigen nicht wegen Zu- oder Abnahme von Diagnosen oder Krankheiten. Die Prämien haben vielmehr keinen Bezug zur Morbidität der Bevölkerung.
Auch wenn nächstes Jahr niemand zum Arzt geht, die Prämien werden dennoch steigen, denn das und nur das ist die Aufgabe der Krankenkassen.
Diesen Herbst hat das BAG bekanntgegeben, dass die KK-Prämien bei den Kindern übermässig ansteigen werden. BR Berset hat dazu bloss gesagt: Die Kinder würden mehr KK-Kosten verusachen als bisher. Ob die Kinder vermehrt auf den Kopf fallen, von der Grippe heimgesucht werden oder allgemein kränklicher sind hat er nicht gesagt. Ein Blick in die Statistik zeigt aber: Die Abklärung und Therapierung bei Kinder wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen hat in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen und ist mittlerweilen ein umsatzstarker Bereich im Gesundheitswesen. Im übrigen verweise ich auf Remo Largo.
Wenn es möglich ist, werden diagnostische Epidemien organisiert, das ist schliesslich ganz einfach. Einfach mal einen Grenzwert um 10% gesenkt und schon hat man doppelt so viele Diabetiker als vorher. Bei psychischen Störungen ist das noch einfacher.
Es fällt aber auf, dass die psychiatrische Morbidität in der Schweiz ca. 3x so hoch als im OECD- Durchschnitt ist. Es besteht ganz offensichtlich bei allen Teilnehmern, den Eltern, Schule, Kindergarten, KESB ein starkes Bedürfnis nach psychisch kranken Kindern und dieses Bedürfnis wird bedient.
Meine Beobachtung in ambulanten Langzeitbehandlungen lässt mich einen 10- max. 20% Krankenanteil in der Diagnosegruppen schätzen. Der Rest hat eine Wunschkrankheit, aber Wunsch eben auch der Eltern und der Lehrer.
2/ Aber bezüglich Krankenkassen ist das Morbiditätsargument nur nachgeschoben. Auch die Krankenkassen wollen steigende Umsätze und haben den politischen Auftrag diese zu erzeugen. Es reicht ja, nicht gegen die Überdiagnostik einzuschreiten, wenn man weiss, dass wie in dem Fall die Eltern kranke Kinder wollen. Dann läuft es eben wie geplant – eine diagnostische Epidemie ist geboren und wird von allen Seiten kräftig angeheizt.
ML: Zustimm! Die kranke Kasse ist krank in dem Sinn, dass sie alles bezahlt und niemand einen Anreiz hat, eine Leistung NICHT zu beziehen.
Beim Zahnarzt ist das ganz anders. Zahnärzte wollen allen Teenagern eine SPange in den Mund klemmen, weil das Umsatz erzeugt. Da die Eltern das aber selber zahlen müssen (der KK-Zusatz ist ja auch nicht gratis), kann man hier sagen: „Nein, da ist mir das Preis-Leistungs-Verhältnis zu schlecht = zu viel Geld für zu wenig Wirkung. Womit sich die angeblichen „Abweichnungen von der Normalität“ als reines Wohlstandsphänomen entuppen: Zahnspangen werden verschrieben, weil sie jemand bezahlen kann.
Still und kreativ hat mit Autismus herzlich wenig zu tun: Schreiben Sie nicht einfach so dahin. Autismus schränkt ein, die Betroffenen und die Angehörigen. Zeit, dass aufgeklärt wird und – so weit möglich – auf die besonderen Bedürfnisse Rücksicht genommen wird. Sorry, Ihre Schreibe ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die mit autistischen Menschen näher zu tun haben und ein Leben mit ihnen teilen.
„Still und kreativ hat mit Autismus herzlich wenig zu tun“. Genau das meine ich ja. Einem solchen Kind eine Autismusstörung zu unterstellen ist verantwortungslos. Das hält die Kinderpsychiater aber nicht davon ab. Ich habs selbst erlebt.
Das allerwichtigste haben Sie vergessen: Es isst zu wenig / es hat Hunger. In meinem Umfeld habe ich manchmal das Gefühl, dass die Ursache jedes Übels diejenige ist, dass das Kind nicht genug isst oder das falsche oder was auch immer.
Aber über diese unqualifizierten Aussagen kann man eigentlich recht einfach hinwegsehen. Schlimmer finde ich es, wenn dann selbsternannte Ärzte der Überzeugung sind mehr zu wissen, als richtige Ärzte, also solche, die wirklich über ein Diplom verfügen….“Ach das Kind braucht doch die Antibiotika nicht, eine warme Hühnersuppe und ein Heilungstanz reicht auch…“
Kenne das Problem von meinen Eltern sprich den Grosseltern von unserem Kleinen. Er fürchtet sich vor dem Regahelikopter der immer wieder mal über unsere Köpfe fliegt. Sie sind da auch sehr schnell mit pathologisieren.
Ist eigentlich schön wenn es Leute gibt die sich Sorgen um ein weinendes/leidendes Kind machen. Hab mal Leute erlebt die sich über ein leidendes Kind sogar lustig machen. Ja, das gibt’s auch.
Wir kennen Eltern die mit ihren Kindern wegen jedem Furz in die Notaufnahme des Kinderspital fahren. Sind wahrscheinlich schon mit allen per Du dort. Leider fehlt es den Eltern heute an einem Grundgespür was wirklich bedrohlich ist und was von alleine vorüber geht. Oder dann ist halt die grosse Angst das man mal was zu wenig gemacht hat. Früher hat einem die Grossmutter noch mit Rat geholfen.
Hier sieht man exemplarisch, wie das mit der Nennung der weiblichen Form gehandhabt wird: Ist es irgendwie positiv, MUSS dort die weibliche Form stehen, ist es aber negativ, wird NUR die männliche benutzt. Gerade bei diesem Artikel hier müsste es wohl eher heissen:
„Jede ein Hobby-Kinderärztin!
Das ist ganz subtil, aber es wirkt: Vorsicht vor Dieben, nicht Vorsicht vor Diebinnen. Raser statt Raserinnen, usw.
Ich habe kaum je Männer vernommen, die sich solchermassen wie im Artikel beschrieben benehmen.
Das nennt sich ganz einfach generischer Plural. Nicht in jeden Text muss man eine negative Konnotation hineininterpretieren.
Leider ist der Einwand korrekt, obwohl dies die richtige Verwendung der deutschen Sprache ist.
Nur SONST wird man nicht müde, frau statt man zu schreiben und wird nicht müde zu betonen, dass der generische Plural die Frauen nicht nennen würde etc. und deshalb absolut mühsam überall ein IN hinzukleistern. Es ist schon interessant, dass man bei negativen Nennungen plötzlich wieder zur normalen Sprache zurückfindet. Und nicht schreibt:
„selbst wenn frau den Fieberthermometer zückt“
„da ist dann jede die MöchtegernmedizinerIN“
Also, wenn man hier im Text ganz natürlich alle Leute (also Mann und Frau) versteht, dann kann man diesen ganzen Unsinn auch sonst lassen.
(Man muss sowieso in den wenigsten Fällen unterscheiden zw. Möchtegern und Möchtegernin).
@roxy, auch wenn das jetzt OT ist: Der Unsinn mit „frau“ statt „man“ und „IN“ sollte in Texten wirklich nicht stehen. Und sieht man in professionellen Texten zum Glück auch kaum. Denn leserfreundlich ist das nicht. Oder sollte ich jetzt besser „leserINenfreundlich“ schreiben 😉 Ich habe täglich beruflich mit Texten zu tun, und es ist Wahnsinn, was für ein Quatsch da manchmal verzapft wird, nur um „gendergerecht“ zu wirken. Da macht das redigieren dann so richtig Spass 😉 In unserer Firma verwenden wir auch nicht den generischen Plural, sondern müssen die Geschlechterberechtigung berücksichtigen. Aber das geht auch lesefreundlicher und ohne übertriebenen Feminismus. Gewissermassen aus Trotz verwende ich aber privat den generischen Plural – und das als Frau 😉
Bei uns in der Gemeinde ist jede Lehrerin und jeder Lehrer eine Lehrperson. Ich verstehe ja, dass man von „Lehrpersonen“ spricht, wenn mehrere Lehrinnen und Lehrer gemeint sind. Der einzelne ist halt aber doch nur ein Lehrer. Auch Kindergärtnerinnen sind consequent Kindergartenlehrpersonen, auch wenn alles Frauen sind…..
danke k.miller – es braucht zivilen Widerstand gegen dieses orwellsche Neusprech.
Lustig, dass sich die Gegenseite nicht gemeldet hat. Sonst bekommt man sofort neunmalklugen Widerspruch. Aber die Realität ist nun mal, dass sich die Befürworter selbst nicht an ihren Unsinn halten.
Ein weiteres Beispiel: ich habe noch NIE, NIE in der Umgangssprache/Dialekt gehört, dass man so redet: z.B. statt „döt chan mer jetzt au am Sunntig go poschtä“ „döt chan frau jetzt au…“
oder statt „alli Chindergärtler sind vor Freud umäsprungä“, „alli Chindergärtler und Chindergärtlerinnä sind vor Freud umäsprungä“
Es ist aber so, dass viel mehr Diebinnen Diebe sind und viel mehr Raserinnen Raser. Verstehe ja Ihr Anliegen, aber mit diesen Beispielen beweisen Sie genau das Gegenteil von dem was Sie möchten.
Ach, das kennen wir zu gut.
Geht auch nahtlos weiter, es sind oft die Gleichen welche den eigenen Nachwuchs masslos überschätzen und für jeden noch so kleinen Rückschlag sofort eine Diagnose bereit haben.
An den schlechten Noten sind dann die Lehrer schuld, oder die Allergie, oder das Wetter, das Zahnen… oder das Kind ist einfach zu kreativ für Mathematik.
Die Kinder sind in der Schule sowieso unterfordert und deswegen so unruhig oder unmotiviert, sonst sind sie nie so, wenn sie zuhause sind.
Also an den zwei Abenden in der Woche, sonst wird tschuttet, Geige gespielt, gemalt und getanzt…
und bei kleinen Babys sinds dann abwechslungsweise die Zähne…..oder – auch immer wieder beliebt- „sie/er hat bestimmt Bauchweh“ 😀
Meine Tochter ist jetzt knapp halbjährig, hat de Fakto noch keinen Zahn aber wenn ich nach der Anzahl Mal gehe, wo ich das schon gehört habe, müssten bald die Weisheitszähne durchbrechen 😉
Den meisten Menschen wird unwohl, wenn ein Baby/Kleinkind weint und ich glaube diese Erklärungsversuche sind doch meist eine Art Selbstberuhigung. Nur manchmal hats schon einen ziemlich besserwisserischen Beigeschmack.
Lustig geschrieben aber überhaupt nicht meine Erfahrung. Ausser vielleicht das mit dem Zahnen und ausgerechnet das hat einer der Papablogger (oder wars Matto Kämpf in seiner Kolumnensamlung Rabenvater?) schon lustiger geschrieben.
Sind die Themen ausgegangen…? 🙂
😉 vermute ich auch
Ist das tatsächlich Ihre Erfahrung? Mir ist das total fremd….
Ist hier jemand überempfindlich? Muss das geschrieben und gehört werden?
das hat überhaupt nichts mit Überempfindlich, offensichtlich geht der humorvolle Unterton komplett an Ihnen vorbei. Und es ist übrigens wirklich so: es weiss jeder besser, was mit meinem Kind nicht stimmt, auch ein komplett Fremder im Bus. Könnte man meinen. Aber erstens kann ich zwischen gut gemeintem Interesse und Besserwisserei unterscheiden und zweitens bin ich stark genug, über solchen Einmischungen zu stehen.
der Humor kommt nach meinem Geschmack aber schon etwas bitter und beleidigt rüber. Richtig lachen muss man da nicht. Ich durfte jedenfalls keine so negative Erfahrung erleben. Entweder waren alle so nett, oder ich habe diese Besserwisserei einfach nicht gehört, oder noch besser: meine Kinder sind einfach nie krank 😉