Bemuttern ohne Ende

Senior woman hugs daughter after run, cityscape.

Loslassen ist nicht immer einfach. Foto: Getty Images

Die Sorge um die Kinder hat man ein Leben lang. Erwachsenen Kindern kann man aber – ist man ein wenig geübt im Loslassen – das Kümmern um ihre Angelegenheiten überlassen. Es ist zu hoffen, dass wir sie bis dahin so gut ausgestattet haben, dass sie nun die Weiterreise durchs Leben selber antreten können und auch imstande sind, sich allenfalls neue kompetente Begleitung zu suchen. In Gedanken folgen ihnen unsere Wünsche und das Hoffen, dass alles gut kommt. Einen Teil von uns haben sie fraglos mitgenommen, und es vergeht wohl kein Tag, an dem wir nicht an sie denken.

Und manchmal hat man Glück und wird um Rat gefragt. Ansonsten hält man sich besser zurück und kreuzt die Finger. Es kann auch vorkommen, dass man trösten, das traurige Kind in den Arm nehmen und sich mit liebevollem Verständnis die «Ich hab es ja gewusst»-Kommentare verkneifen muss.

Allein in die Stadt fahren

Im Falle meiner Tochter mit Downsyndrom ist die Sache ein wenig komplexer – glaube ich zumindest. Obwohl sie 21 ist, braucht sie auch Begleitung. Beschränke ich mich bei ihr auch auf das Trösten und Da-Sein? Wie gross soll meine Einflussnahme sein?

Sage ich ihr, dass sie jetzt wirklich auf ihr Gewicht achten sollte, weil sie sonst immer schwerer wird, was ihren Körper, die Gelenke, ihre kleinen Haluxfüsse zu sehr belastet? Animiere ich sie zu noch mehr Sport, oder soll ich mit ihr eine Diät erarbeiten, obwohl ich mich vor ein paar Jahren zur Gewichtskontrollen-Verweigerung entschieden habe? Zudem: Essen ist etwas Sinnliches, Lebensfrohes – Genuss!

Neuerdings gehört es zu ihren geliebten Freiheiten und dem Gefühl, erwachsen zu sein, einmal pro Woche alleine in die Stadt zu fahren und bei McDonald’s zu essen. Ich finde das total cool. Doch muss es Fast Food sein?

Sie möchte gerne einen Freund haben und ist traurig, dass sie keinen findet. Das Hamsterrad dreht weiter: Soll ich ihr sagen, dass sie eher einen findet, wenn sie auf ihr Äusseres achtet? Welche antiquierten Denkmuster bringen mich auf diese Idee? Meine Empfehlungen für weiblichere Kleidung weist sie von sich. Will ich sie hübsch finden, weil ich meine, dann können es andere auch? Spielt das Aussehen wirklich eine Rolle?

«Lass sie doch», denke ich dann wieder. Sie hat ihren eigenen Schönheitssinn. Es ist ihr Leben und ihre Freiheit, und es sind ihre Erfahrungen, die sie machen darf. Ich möchte sie vor den schlechten bewahren. Brauchen spezielle Menschen wie sie nicht unsere Unterstützung? Die Frage, was das genau bedeuten soll, bleibt bestehen.

Probleme am Arbeitsplatz

Das Thema verknüpft sich mit einem weiteren Problemfeld, das sich aufgetan hat: Kürzlich hatten wir Probezeitauswertung. Wieder einmal! Bisher habe ich von meiner Tochter nur gehört, dass es ihr sehr gefällt an ihrem Arbeitsplatz. Sie wurde in zwei verschiedene Abteilungen eingeteilt, damit sie genügend Abwechslung hat. Doch obwohl sie ihre Arbeit mag und sie auch wirklich gut kann, hat sie sehr oft keine Lust dazu. Menschen mit Downsyndrom geben gerne ihren Befindlichkeiten nach, genauso wie Teenager. Sie ist beides.

So klinkt sie sich aus, geht stundenlang auf die Toilette, quatscht mit ihren Arbeitskollegen herum und motzt, wenn es ihr zu streng wird. Oft ist sie müde, entfernt sich vom Arbeitsplatz, um sich irgendwo schlafenzulegen, oder macht ein Nickerchen vor Ort. Pünktlichkeit findet sie unnötig, die verpasste Zeit nachholen will sie auch nicht.

Dem ersten Impuls folgend, muss ich lachen, als ich das höre, der zweite erinnert mich daran, dass es mir in Jugendjahren manchmal ähnlich ging, und in der dritten Runde mahnt der Verstand, dass es halt so nicht geht. So das Feedback der Abteilungsleiter.

Sie kriegt noch eine Chance, wenn sie sich wirklich Mühe geben will. Andernfalls? Niemand sagt es gerne offen heraus: Der Arbeitsplatz wird irgendwann anderweitig vergeben. Ich finde das gar nicht lustig, muss wohl Grenzen setzen, schimpfe und frage mich dann, ob das jetzt zu viel war, weil sie ja nicht die verbalen Möglichkeiten hat, um sich zu verteidigen.

Alles voll normal. Oder?

Meine Tochter gilt – auch vor dem Gesetz – als erwachsene Person. Darum erwartet man von ihr eine verlässliche Arbeitsleistung, wofür sie auch bezahlt wird. Anderseits spielen die Hormone noch verrückt, und die persönlichen Befindlichkeiten sind ziemlich dominant. Alles voll normal. Oder?

Tja, und jetzt komme ich und schimpfe, dass wirklich Matthäi am Letzten ist und dass sie sich jetzt am Riemen reissen soll, denn sie will doch erwachsen sein und möglichst selbstbestimmt, und dafür muss man auch eine Leistung erbringen. Das geht uns allen so, und man muss sich halt manchmal zusammenreissen und über den eigenen Schatten springen, auch wenn man müde oder angepisst ist.

«Jaaa, Mami! Ich han dich liäb!», sagt sie und umarmt mich.

18 Kommentare zu «Bemuttern ohne Ende»

  • Katharina (Mama hat jetzt keine Zeit) sagt:

    Ein berührender Text, vielen Dank dafür.

  • Mia sagt:

    @ Ingrid: Und ja, ich finde es wichtig, Pünktlichkeit zu üben. So lange, bis es selbstverständlich wird und nicht mehr hinterfragt wird. Das Alter des Kindes ist in gewissen Fällen nicht relevant.
    Gewisse traumatisierte Adoptivkinder können aus Konsequenzen nicht lernen (ich habe dazu viel gelesen und es mit der Tochter auch so erfahren) – vielleicht ist das in einigen Fällen beim Down-Syndrom auch so. Der Moment ist so viel wichtiger als alles, was danach kommt. Deshalb kann man so schwer aus Konsequenzen lernen. Bei gewissen Kindern dauert die Elternrolle halt einfach ein bisschen länger. (Und es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich weder eine Überbemutterung noch ein Aufdrängen eigener Wertvorstellungen meine). Ich wünsche viel Mut und Vertrauen aufs eigene Gefühl!

  • Mia sagt:

    Nicht alle Kinder reifen gleich schnell und in allen Richtungen gleich stark.
    Wir haben zwei Adoptivkinder und mir scheint, dass wir zumindest in einem Fall wohl etwas länger werden betreuen müssen/dürfen, als es im Schnitt üblich ist. Man kann ja dort betreuen, wo ein Kind noch nicht ganz selbständig ist (z.B. Kleiderwahl, Arbeitsverhalten, etc.) und dort loslassen, wo es klappt (Mc Donalds). Das gibt dem Kind Selbstvertrauen.
    Wer soll einem dann ehrlich weiterhelfen wenn nicht die Familie? Natürlich ist Zurückhaltung gefragt etc. , doch einige Kinder dürfen länger geführt werden!

  • Tamar von Siebenthal sagt:

    Die Tochter ist behindert! Warum kann man das Anderstsein nicht akzeptieren? Wenn Chefs bei „gesunden“ Mitarbeitern dulden, dass diese während der Arbeitszeit im Internet surfen und Kommentare schreiben, hat es auch Platz für ein Schläfchen einer Mitarbeiterin mit Trisomie 21.

    Und was die Bezahlung angeht: über die paar Franken braucht der Arbeitgeber sich nicht zu brüsten, der grosse Anteil wird von der IV übernommen.

  • doris aerne sagt:

    Welches wirre Zeug, Georg? Das ist der Alltag einer Mutter mit einem Kind, das eine Einschränkung hat und deshalb nicht so „tickt“, wie man das allgemein erwarten könnte. Viel Liebe, Verständnis und auch gesunde Ironie ist aus den wunderbaren Schilderungen der Autorin herauszulesen, aber eben auch die Sorge. Ganz normal für jede Mutter.

  • Georg sagt:

    Um Himmelswillen! Und diese Autorin ist Autorin, psychologische Beraterin und Coach?! Ich hoffe, sie hatte einfach nur einen schlechten Tag, als sie dieses wirre Zeugs geschrieben hat…

    • Brunhild Steiner sagt:

      @Georg

      wohl eher selber verwirrt…?, mit bisschen mehr Aufmerksamkeit lesen, am besten in Kombination mit drüber nachdenken, und schon würd alles klarer erscheinen.

    • Brunhild Steiner sagt:

      @Georg
      da fragt sich wer nun wie verwirrt ist…, mit mehr Aufmerksamkeit und Nachdenken hinter den Text bringt Klarheit… .

  • Anton Burgener sagt:

    Ein wunderbarer Text der Autorin Ingrid Eva Liedtke. Sehr einfühlsam beschrieben und genau so, wie das Leben in ihrem Fall mit ihrer Tochter mit Downsyndrom ist – und die Autorin macht alles richtig. Auch wenn sie stetig zweifelt, was jetzt „richtiger“ wäre! Ihre Gefühle und Emotionen entscheiden in jedem Moment, in jedem Fall, genau richtig. Eine solch schwere Aufgabe kann man nur so bewältigen – und sie dauert wohl ein ganzes Leben. „Mami, ich han dich liäb“, ist in diesem Fall eine ehrliche Bezeugung der Tochter (und nicht zu verwechseln mit „der Schmus bringe“). Es gibt auch andere Kinder/Jugendliche (ohne Benachteiligung) in diesem Alter, bei denen ein solches Vorgehen erfolgsversprechender ist, auch wenn man dies „anfangs“ nicht wahrhaben will. Viel Kraft, Frau Liedtke!

  • dr house sagt:

    ich kenne diese gefühle und gedanken zu gut und kann nur sagen, die heutige zeit ist um einiges brutaler, als sie es war, als ich zwischen 20 und 25 war. abgesehen davon ist der arbeitgeber ein vollpfosten ohne jegliche sozialkompetenz. wenn die tochter der autorin diesen job verliert, kann sie froh sein. ich finde sehr wohl, dass man sich in so einem fall, als mutter einmischen soll – ja muss!

    • Brunhild Steiner sagt:

      @dr house
      an was, welche Zeit, denken Sie bei „einiges brutaler“?
      All die Unterstützungsmassnahmen, stützende Rahmenbedingungen in Ausbildung/Beruf, Nachteilausgleiche, Weiterbildungen für Betreuungspersonen und vieles mehr- gab es das auch schon als Sie 20-25 waren?

      Vielen „Eingeschränkten“ wurde doch einfach Faulheit und „nicht wollen“ unterstellt, entweder sie schafften es unter grosser Anstrengung einigermassen systemkompatibel (und in ihren Fähigkeiten anerkannt) zu werden, oder sie hatten sie verloren.
      Die Vollpfosten hat es immer gegeben und wirds wohl immer geben… .

  • Angelika Maus sagt:

    Ich habe mich in so vielem wiedergefunden. Gerade was die Äusserlichkeiten angehen. Einerseits sträube ich mich gegen die Schönheitsdiktatur, in der wir uns befinden, andererseits macht es mir Sorgen, wenn meine Tochter zunimmt. Soll ich jetzt etwas sagen, oder nicht? Mit dieser Widersprüchlichkeit muss man irgendwie umgehen.
    Der Text ist Super! Danke!

  • Romeo sagt:

    Ich kenne die Situation umgekehrt. Meine Mutter zu erziehen, nicht auf jeden Scharlatan von Finanzberater hereinzufallen und einen Minimalüberblick über ihre Einnahmen und Ausgaben zu haben und nicht alles zu glauben, nur weil’s zu lesen ist…

    • Jacques sagt:

      @Romeo: Kenne ich gut. Als sog. Erstgeborener musste ich schon früh Verantwortung in „unserer Familie“ wahrnehmen. Egal, ob gut rechnen (Rechnungen bezahlen) oder Korrespondenz. Vater leider allzu früh verstorben. Nachher half ich Mutter weiterhin in Finanzangelegenheiten u.a.

  • Brunhild Steiner sagt:

    Danke;
    der sichere Hafen sein zu können, je nach Situation des Kindes möglichst lange; und der Wunsch, dass man den Zweithafen rechtzeitig fertig bekommt-
    das beschäftigt alle Eltern mit Kindern, die an den „üblichen“ Herausforderungen des Alltags/Lebens, aufgrund ihrer gegebenen Voraussetzungen, leiden, scheitern, versagen können. Und es eben nicht „aus sich selbst heraus“ dann schon irgendwie schaffen&packen werden.

    • Seeländer sagt:

      Mein Motto: wer alt genug sein will, wöchentlich in den Mägg zu fahren, ist auch alt genug seine Arbeit mit einer einigermassen zufriedenstellenden Zuverlässigkeit und Motivation auszuführen.
      Wer das nicht auf die Reihe kriegt, der ist wohl auch für den Ausflug in den Mägg nicht soweit und isst zuhause ein Sandwich.

      • Brunhild Steiner sagt:

        @Seeländer

        ich freue mich für Sie, dass dies ziemlich jenseits Ihrer Vorstellungskraft zu liegen scheint, daraus schlussfolgere ich, dass Sie bisher von Herausforderungen dieser Art verschont geblieben sind und sich nie mit scheinbaren Widersprüchlichkeiten vertieft auseinandersetzen mussten.

        Aushalten und damit klarkommen mussten, dass weil A geht nicht zwangsläufig B geht, und weil B nicht geht deshalb A verweigert werden muss.

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