Wenn die Eltern selbst Flugangst haben

Vorsicht mit der chemischen Keule! Man möchte schliesslich ungern am Flughafen stranden wie etwa Tom Hanks in «Terminal». Foto: Dreamwork Pictures
Jeder, der zum Thema Erziehung schreibt, muss es erwähnen. Es gehört zum guten Ton. Und es stimmt ja auch. Wir sind die Vorbilder unserer Kinder. Im Guten wie im Schlechten.
Ich weiss das. Sie wissen es. Selbst meine Kinder wissen es. Aber manchmal nützt eben alles nichts. Dann ist die Vernunft nichts als ein elender Wurm im Staub. Fast alle haben wir unsere erziehungsblinden Flecken. Mein grösster ist das Fliegen. Und zwar nicht, wie mein Kollege kürzlich schrieb, die Angst davor, meine Kinder allein fliegen zu lassen. Sondern die nackte Existenzangst. Allein schon die Vorstellung, den Boden unter den Füssen zu verlieren, reisst mir denselben weg.
Früher, als ich noch keine Kinder hatte, bin ich sage und schreibe dreimal aus einem Flugzeug ausgestiegen und habe mich geweigert, wieder einzusteigen. Alles Zureden der Crew half nichts, das Gepäck musste wieder aus dem Bauch des Vogels raus, derweil ich mich in Grund und Boden schämte, den ich so verbissen nicht verlassen wollte. Aber in jenen Momenten war die Panik mächtiger als der Hass der Mitpassagiere oder meine Reue, ja sogar als das Schmachten nach dem blonden Surfer, den ich deswegen in Bordeaux einer anderen überlassen musste.
Dann kam die Zeit, in der ich beschloss, eben nicht mehr zu fliegen. Logisch, eigentlich. Doch irgendwann kamen auch der Mann und dann die Kinder und dann die Ferien im Haus meiner Schwiegereltern in Griechenland und ein Bruder, der in die USA zog. Also flog ich eben wieder. Eine Lösung musste her. Und ich habe sie gefunden: die Keule. Die chemische.
Seither kann ich tatsächlich fliegen. Allerdings nur, wenn ich mich mehr oder weniger ausser Gefecht setze und wie ein Zombie mit Todesverachtung einen Sack M&M’s mümmele und danach in einen Dornröschenschlaf abhaue. Bis es so weit ist, laufe ich wie ein belämmertes Schaf meinem Mann durch den Flughafen hinterher und imitiere jede seiner Handlungen. Aha, er zieht die Schuhe aus. Gut, dann tue ich das auch. Er zeigt das rote Büchlein, bitte sehr, das kann ich auch. Ähnlich wie Menschen in einem frühen Demenzstadium bin ich erstaunlich gut darin, meine kognitiven Mängel zu überspielen.
Nun, dagegen sind Flugangstdrogen eine sehr harmlose Sache. Nicht so schlimm. Tun viele andere auch. Aber mit Kindern ist es etwas komplexer. Als sie klein waren, ging es noch. Da war Mami einfach so müde, jaja, die Höhenluft. Denn sagen, dass ich Angst hatte, wollte ich auf keinen Fall, man ist ja Vorbild, Sie wissens ja. Insbesondere weil eines meiner Kinder sehr empfänglich ist für alle neuen Phobien und ich daher den Ball möglichst flach halte.
Aber mittlerweile sind die Kinder Teenies, und die Sache ist auf dem Tisch. Sie wissen, dass ich mich panisch davor fürchte, in einer Blechbüchse mit kümmerlichen Flügelchen zehntausend Meter hoch über den Boden zu düsen, unter meinem Allerwertesten nichts als Luft. Wie absurd ist das denn?!? Da nützen auch alle physikalischen Erklärungen von befreundeten Piloten und Antiflugangstratgebern nichts. Der allumfassende Kontrollverlust bekommt mir einfach nicht. Ich habs akzeptiert. Und mittlerweile tun das auch meine Kinder.
Vor einem Jahr musste ich ihnen verraten, dass ich mich beim Fliegen zudröhne. Das war, als ich allein mit ihnen in Hamburg war und die nette Dame am Bodyscanner mir ins Ohr flüsterte, dass ich mein Kleid verkehrt herum trage. Und die andere Dame beim Kaffeetresen mich darauf hinwies, dass ich mir die Schneidezähne mit Lippenstift bemalt hatte. Die Kinder konnten es erstaunlich gut akzeptieren, als ich es ihnen erklärte. Sie machten sich sogar einen Spass daraus, mich zu behandeln, als wäre ich ein fünfjähriges Kind mit mittelschwerer Begriffsstutzigkeit. Sie nahmen mich bei der Hand, sprachen extra deutlich mit mir und bemutterten mich mit einem Kichern in den heimatlichen Flughafen zurück.
Ja, ich könnte natürlich auf das Fliegen verzichten. Aber dazu liebe ich das Reisen zu sehr. Zudem habe ich schon lange gelernt, dass das Vermeiden von Angst mein Leben nur eng macht, nicht jedoch angstfreier.
Dennoch frage ich mich natürlich, wie lange es noch dauert, bis eines meiner Kinder bekifft oder sonst wie zugedröhnt heimtorkelt und mir dann vorhält, dass ich das ja auch irgendwie tue, wenn ich fliege, und drum kein Recht hätte, es zu kritisieren.
Nun. Das werde ich schlucken und durchdiskutieren müssen. Aber wenigstens kann ich ab und zu in die Welt hinausfliegen und alles wieder mit etwas Distanz und Humor sehen. Das ist mir die Sache wert.
27 Kommentare zu «Wenn die Eltern selbst Flugangst haben»
Vor dem morgigen Fluge werf ich mir auch eine chemische Keule ein, ich freue mich darauf. Gundel, das mit dem Gras fänd ich für mich eine ganz schlechte Idee, habe high schon paranoide Erfahrungen gemacht. Gras halte ich nur in Verbindung mit Alkohol aus, dann ist super schön. Aber das wäre wiederum ziemlich grob, am frühen Morgen auf dem Weg zum Flughafen, mit Frau und Kleinkind. Eine Therapie lohnt sich nicht für zwei Flüge im Jahr, Atmungsübungen und sonstiger Humbug bringen nichts. Manchmal ist die Keule halt doch die vernünftigste Entscheidung.
ich verstehe Sie voll und ganz!
Irgendwann hat man alles in Autodistanz liegende entdeckt und auch die Kinder wollen weiter weg.
Ich nehme auch die chemische Keule,stehe dazu und habe meine beiden Teenager über die Gründe aufgekärt.Sie verstehen das,haben eine Mutter die zu ihrer Schwäche resp.Angst steht und können sich noch Tage später über meinen leicht belämmerten Gesichtsausdruck während des Fluges amüsieren.
Darf ich als Mutter nicht auch ein wenig menschlich sein?Und deswegen eine Therapie zu machen leuchtet mir auch nicht ein,so viel fliege ich eben auch nicht.
Ich finds toll, dass sie nicht aufgegeben haben und sich von ihrer Angst einschnüren liessen.
Ist der Weg mit der Chemie-Keule der beste? Das lässt sich von aussen wohl schwer beurteilen. Hypnose oder Therapie, nicht alles funktioniert bei jedem gleich. Sie werden es wissen. Vielleicht würde auch ein Bio-Joint heimischen Grases reichen, um ihnen ein entspanntes Fliegen zu ermöglichen, was sicher gesünder und mit weit weniger Nebenwirkungen verbunden wäre, als eine „Chemie-Keule“.
Aber wie gesagt, ich finds toll, dass sie nicht aufgegeben haben und sich nicht abhalten liessen.
Gegen Phobien hilft in den meisten Fällen eine Verhaltenstherapie. 12 Sitzungen oder so, und man müsste sich nicht mehr zudröhnen. Verstehe nicht ganz, warum man das nicht macht, wenn man regelmässig Flugreisen unternimmt. Klar ist’s mit Temesta natürlich auch getan, wenn man eher selten fliegt.
Selbst wenn man aus z.B. beruflichen Gründen wöchentlich fliegen müsst, würde ich deswegen keine Verhaltenstherapie machen, weil das völlig unangemessen ist. Voraussetzung für eine Therapie sollte immer eine Krankheit sein, keine Lappalie innerhalb der psychischen Variationsbreite, auch noch bezogen auf ein Pseudoziel wie Fliegen.
Als Hausarzt würde ich in voller Verantwortung das Äquivalent von 1mg Temesta/ Flug rezeptieren. Macht 100mg/ Jahr, wenn man 1 x Woche fliegt. Da besteht kein Gewöhnungsrisiko und man mit dieser geringen Dosis kann man auch noch ein paar Kinder mitführen.
ML, ich sehe Ihren Einwand. Dazu kommt, dass VP ja sowieso nur Symptombekämpfung ist. Eigentlich müsste man doch herausfinden, woher eine so ausgeprägte Phobie, die ja immer eine Verschiebung ist, denn eigentlich kommt. Am besten wäre da eine mehrjährige Analyse im Liegen, hochfrequent, also 3-4mal pro Woche. Als Selbstzahler, versteht sich.
😀
„VT“ wollte ich natürlich schreiben!
Und wieso bitte sehr fliegt man trotz Flugangst nach Hamburg, obwohl diese Stadt aus der Schweiz sehr komfortabel und in ca. 7h mit dem Zug erreichbar ist? Abgesehen von der Flugangst gibt es auch eine Vorbildfunktion in Sachen Energieverschwendung und Umweltverschmutzung, gerade weil es die Welt der Kinder ist welche wir verschmutzen…
Weil fliegen meist viel günstiger ist, und erst noch schneller geht als mit dem Zug.
Sie können ja Zug fahren Herr Kamber. Niemand wird sie kritisieren und ihnen vorschreiben wollen, dass sie fliegen sollen. Also tun sie das doch auch nicht.
Viele Menschen haben Flugangst und ich finde es toll, dass hier eine Frau davon schreibt, wie sie trotz panischer Flugangst einen Weg gefunden hat.
Das Thema Umweltschutz rangiert im Kreiis der 3 wichtigsten globalen Probleme (Krieg/Frieden, Umwelt, Demographie). Das hat Priorität vor allen anderen Themen, insbesondere irgendwelcher Befindlichkeiten oder Kosten- Nutzen- Relationen. Alles völlige Banalitäten.
Den eigenen Kindern von Beginn an mitzuteilen, dass man
1. so selten als möglich reist.
2. wenn, dann aber nie im Flugzeug oder in Gefährten mit Verbrennungsmotor.
gehört damit zum absoluten Muss in der Erziehung.
Es ist immer wieder toll zu sehen, wie ein paar genau wissen, wie das Leben für alle auszusehen hat…
Wenn man die Anreise an den Flughafen, das Warten, Sicherheitscheck etc. einrechnet ist man mit dem Flugzeug nach Hamburg 1-2h schneller. Mehr nicht. Und wenn man nicht gerade einen super-spezial-Rabattflug erwischt sind die Kosten ziemlich gleich hoch, wenn man die Anreise an den Flughafen einrechnet ist meist die Zugfahrt billiger. Darum kann ich nicht verstehen wieso jemand mit panischer Flugangst dort hin fliegt.
Ansonsten schliesse ich mich zu 100% „Muttis Liebling“ an.
@Muttis Liebling
Bei dir gehört wohl auch zum „absoluten Muss“ der Erziehung, den Kindern beizubringen mindestens den halben Tag in Internetblogs zu verschwenden und dabei der Welt die eigene Meinung als absolute Wahrheit aufzudrängen.
Ich teile meinen Kindern lieber mit:
1. Leben und leben lassen oder „die Banalitäten“ des einen sind die Weltuntergänge des anderen. Lass ihn/sie gelten, so langer er/sie auch dich gelten lässt.
2. Reise so viel wie möglich. Nichts erweitert den Horizont mehr. Schau dabei auch zur Umwelt.
3. End nicht als Kommentator in Blogs. Geh an die frische Luft.
Da bin ich echt froh, dass sie das so handhaben. Dann werde ich sie nie treffen, wenn ich verreise. Und auch sämtliche Zeitgenossen nicht, die so denken wie sie. Obwohl, sie sind dermassen köstlich, dass ich sie doch eher für ein Unikat halte.
Also:Ich hätte mehr Angst,dass ich mir und meinen Kindern so zugedröhnt nicht helfen könnte…falls etwas passiert. Ich frage mich,ob man vor Kindern nicht zugeben kann,dass man Flugangst hat?Die merken das ja eh!So wie sie doch alles aufnehmen mit ihren feinen Antennen.Das mit den Medis?Naja,andere betrinken sich…ist auch schwierig zu erklären…
Hätte ich Flugangst, wäre das kein Problem. Es gibt in Europa so viel zu entdecken! Auf einer längeren und überaus spannenden Reise kann man den nördlichen Polarkreis erreichen, man kann Wale und Delfine beobachten, man kann in den Alpen klettern und Gletschertouren unternehmen, man kann spannende Städte besichtigen oder an ganz vielen Orten am Strand liegen und die Wärme geniessen. Man kann tauchen und schnorcheln, dann wieder Velo fahren, Höhlen erforschen, Kajak fahren, etc.
Europa gibt genug her um jedes Jahr den heranwachsenden Kindern etwas zu bieten. Also – was soll die Flugangst!
Hab ich mir auch gedacht. Und Fliegen hat ne katastrophale CO2 – Bilanz. Verstehe grad überhaupt nicht, warum das auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden muss.
Man muss sich nicht einmal auf Europa beschränken, wenn man, wie ich, grundsätzlich nicht fliegt. Jeder Ort der Welt ist über Land oder Wasser erreichbar. Was sich nur schlecht realisieren lässt, sind Kurzreisen =< 14 Tage. Diese Form des Reisens halte ich allerdings für vollständig überflüssig und Geschäftsreisen stehen im Kontext MamaBlog nicht zur Debatte.
Das ist aber etwas unpraktisch, wenn man wie die Autorin den Bruder in den USA besuchen möchte, und dann schon mal 10 Tage pro Atlantikquerung (Frachtschiff, weil Liniendampfer wohl etwas teuer) veranschlagen muss. Falls der Bruder dann noch an der Westküste wohnt, kommen wohl noch min 2 Tage Reisezeit dazu. Ist sicher sehr entschleunigend aber schlussendlich wäre man dann ca 30 Tage unterwegs, nur um die Türklingel des Bruders drücken zu können.
+1
Unpraktisch sicher.Es geht um das Verhältnis von Erwartung und Möglichkeit. Wenn ich mir erst mal nicht 8 Wochen Zeit nehmen kann, um ein Ziel zu erreichen, habe ich 3 Möglichkeiten:
1. Ich fahre nicht hin.
2. Es findet sich doch ein Weg, 8 Wochen frei zu schaufeln (unbezahlter Urlaub).
3. Ich fliege und schäme mich dafür.
Wenn bei Version 3 noch Angst hinzukommt, wird es schon recht abenteuerlich.
Zu 1: Es gibt nichts, was man ohne biographischen Verlust nicht ausfallen lassen kann, ausser Kinder zu bekommen.
Die Diskussion mit ggf bekifften Kindern ist nicht wirklich schwierig. Schliesslich nehmen Sie ihre „chem. Keule“ (Medis, Marihuana, Alkohol – was auch immer, kenne mich da nicht aus) zur Bekämpfung ihrer Flugangst ein. D.h. situationsbedingt vor dem Fliegen und nicht um am Wochenende abzuschalten. Fragen Sie also bei dieser Diskussion einfach ihre Kinder, was diese denn für Probleme haben. Gegen „einfach Stress in der Schule / Lehrstelle“ gibts Alternativen um herunterzukommen – Sport.
Falls Ihr Gebrauch der „chem. Keule“ zur Gewohnheit wurde, ja, dann stünden Sie argumentativ auf dünnem Eis.
Ich frage mich eher: wenn Sie die Vorbild-Funktion wirklich so ernst nehmen, wieso versuchen Sie es dann nicht mit einer entsprechenden Kurztherapie? Gerade auch, weil Sie die Phobienanfälligkeit eines Ihrer Kinder erwähnen. Das wäre doch ein ‚vorbildhafterer‘ Umgang mit dem Problem, als der Griff zur chemischen Keule. Und sollte es nicht funktionieren, wäre diese immer noch da.
Naja, auch gegen Flugangst gibt’s alternative Methoden – zudröhnen ist auch da der Weg des geringsten Widerstandes.
Welche alternativen Methoden können Sie empfehlen?
@Muttis Liebling: Beste Alternative die ich kenne nennt sich Schiff 😀 Ok, dauert dann länger bis man irgendwo ist, dafür kein Jetlag. War gerade eben in New York und wieder zurück. Herrlich. Obs allerdings wirklich als Alternative durchgeht sei dahingestellt. Kostet meist einiges mehr als so ein (Billig)Flug 🙁
@Muttis Liebling: Bin kein Psychologe, doch um eine Phobie loszuwerden bzw mit ihr besser leben zu können bringt es AFAIK am meisten, sich ihr zu stellen, d.h. Expositionstherapie. Das Vorgehen ist, dass man sich graduell steigernd der angstauslösenden Situation so stark aussetzt, dass man zwar wegen des Auslösers angespannt ist, jedoch nicht in Panik ausbricht. So lernt man mit der Zeit, dass der Angstauslöser keine Gefahr für Leib und Leben darstellt, und man verlernt quasi die Angst. Bei Flugangst gibt es z.B. von der Swiss sog. Flugangstseminare. Keine Ahnung was es sonst noch so gibt.