«Papi, ich bin Gott!»
Ein Papablog von Matto Kämpf *

Blühende Fantasie: Kinder identifizieren sich mit Gute-Nacht-Geschichten. Bild: CJ Anderson (Flickr)
Ich bin Gott! Papi, schau, ich bin Gott!
Wir stehen auf dem Spielplatz, ein Kind steht oben auf dem Klettergerüst und hört nicht auf zu brüllen.
Hallo Papi, schau mal, ich bin Gott und stehe auf dem Berg.
Aber kein Papi schaut hin. Der Papi hat sich längst hinter der Rutschbahn versteckt. Ja, Papi schämt sich.
Das kommt davon, wenn Eltern ihre Goofen vergöttern, sie zum Zentrum des Universums erklären, zu viel loben und preisen, sie ständig auf den Olymp heben. Aber die bekommen dann schon noch die Quittung für ihre Verhätscheleien. Natürlich sagt das niemand auf dem Spielplatz, aber viele denken es und würden es auch sagen, wären sie nicht so höflich.
Nein, möchte ich rufen. Nein, es ist ganz anders. Ich sage aber nichts und ducke mich tiefer hinter die Rutschbahn.
Angefangen hat alles ganz harmlos: Ein Theaterbesuch mit Kind und Götti-Meitschi. «Die Odyssee für Kinder» im Schauspielhaus Zürich. Beide waren danach komplett angefressen und re-enacteten das Stück sogleich in Originallänge mit 32 Stofftieren. Seither will mein Kind nur noch die Geschichten der Alten Griechen hören. Toll, dachte ich anfangs. Die Metamorphose von Daphne in einen Lorbeerbaum interessiert mich auch mehr als die Verwandlung der kleinen Raupe Nimmersatt in einen Schmetterling.
Flugs hatte ich ein griechisches Sagenbuch für Kinder angeschafft, und die Gute-Nacht-Geschichten drehten sich fortan um Gewalt, Lüge, Betrug und List der alten Griechen: An einem Abend stach Odysseus dem Kyklopen Polyphem das Auge aus, am nächsten setzte Atreus seinem Bruder Thyestes dessen Söhne zum Essen vor, am dritten hatte die Königstochter Europa Sex mit einem Stier. Da gehts anders zu und her als beim Barmherzigen Samariter, freute ich mich.
Was ich aber nicht voraussehen konnte, war, dass die Götter des Olymps samt Helden, Nymphen und anderen Kreaturen bald aus den Gute-Nacht-Geschichten heraus und in das Leben meines Kindes treten würden.
Zuerst zeichnete es das trojanische Pferd – es sah allerdings aus wie ein Lastwagen und ich machte mir keine weiteren Gedanken. Merkwürdig wurde mir zumute, als die Nachbarskinder ebenfalls im Garten herumrannten und schrien, sie seien der Minotaurus, Ödipus oder beides. Sie mordeten als Medea ihre Puppen, erlitten Qualen im Tartaros, bastelten allerlei göttliche Attribute vom Schild des Achilleus bis zu Heras Zepter, wuchteten eine Kompost-Tonne das Strässchen hinauf und liessen sie sisyphusmässig immer wieder herunterrollen.
Ich verschanzte mich in der Wohnung, zog die Rollläden und hoffte, keinen Eltern zu begegnen. Ganz klar, ich stand unter schwerem Überförderungsverdacht. Noch keine fünf und das arme Kind muss den griechischen Götterstammbaum lernen, als Nächstes kommt bestimmt Frühchinesisch oder Sanskrit, hörte ich die Nachbarschaft vor dem inneren Ohr raunen. Was tun? Heimlich schaffte ich sämtliche Mythologie wieder aus dem Haus, Achilleus‘ Kartonschild kam ganz unten in die Papiersammlung, Hermes‘ Flügelschuhe in den Tex-Aid-Sack und Poseidons Dreizack ins Altmetall.
Und das Wichtigste: Zum Einschlafen gibts jetzt wieder das Lieblingsbuch von George W. Bush: «Die kleine Raupe Nimmersatt».
* Matto Kämpf lebt als Autor, Filmer und Theatermacher in Bern. Er schrieb die Kolumne «Rabenvater» im Berner «Bund» («Ich sehe mich nicht mehr als Lonesome Cowboy on the never ending road to nowhere (oder so ähnlich). Nein, jetzt bin ich der Mann, der die Windeln schneller wechselt als sein Schatten.») Die Kolumnen sind als Buch erschienen.
22 Kommentare zu ««Papi, ich bin Gott!»»
Beim Lesen laut gelacht, danke 🙂 Grosskinder in Sicht…
Ui, ich hoffe, alles ab „Was tun?“ war ironisch gmeint…
Kinder, die im Spiel rumschreien, sie seien jetzt Gott, Königin, ein Zwerg oder ein Achilles, sind nicht das Problem.
Kinder, die sich wie Götter, Königinnen oder gar Achillenen (?) im Alltag BENEHMEN sind problematisch 😉
Wo wir schon bei Göttern und Kindergeschichten sind:
Ich weise einmal ganz dezent darauf hin, auf Youtube einmal nach Völuspa – Die Weissagung der Seherin zu suchen
Griechische (und andere) Sagen gibt es auch als ganz tolle Kinder-CDs, von Dimiter Inikow. Auch die Bibel ist da toll erzählt.
Absolut empfehlenswert, unterhaltsam, spannend und informativ, die Kinder haben bis zur Matur davon profitiert.
Und die Eltern hatten auch viel Vergnügen!
Bei den Gebrüdern Grimm geht es ja auch nicht nur „herzig“ zu und her. Schneewittchen soll zuerst im dunklen Wald abgestochen und dann vergiftet werden und die böse Hexe bei Hänsel und Gretel landet im Ofen. Hans Christian Andersens Zinnsoldat landet ebenfalls im Feuer.
Finde auch, alles ist besser, als die Kinder nur vor die Glotze zu setzen oder mit Tonnen von chinesischem Plastikspielzeug einzudecken.
Fast alles ist besser als Goofen, die mit stumpfem Blick vor dem Fernseher hocken, Chips in sich reinstopfen und dabei verfetten. Machen Sie weiter mit den Griechengeschichten und den Bibelgeschichten und (später) den Schützengrabengeschichten und den Livingstone-und-Stanley-Geschichten! Ihre Kinder werden es Ihnen danken, und die Umgebung Ihrer Kinder auch, denn, siehe oben, fast alles ist besser als Goofen, die… etc.
Ich finde das super – bitte nicht einknicken und wieder „Kinderliteratur“ vorlesen! Sie haben einen Prozeß in Gang gesetzt – absichtslos! – und die Begeisterung der Kinder geweckt! Vergessen Sie die doofen Blicke der anderen: WEITERMACHEN!!!
Danke für einen intelligenten Artikel hier im Blog!
Was ist jetzt die Aussage der Geschichte? Die griechische Mythologie ist der ideale Einstieg in die europäische Kultur. Von der kommt man zur griechischen Natur- und dann zur Sozialphilosophie.
So wie in der Biologie die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese ist, so leitet man das lebenslange Lernen am besten entlang der Geistesgeschichte. Wenn man im genannten Alter bei den Hellenisten beginnt, schafft man es im jungen Erwachsenenalter bis in die zeitgenössische Kultur und Philosophie.
Frühchinesisch kann man parallel ab 4.LJ beginnen, das fordert in diesem Alter nicht so sehr.
toll geschrieben. habe mich köstlich amüsiert.
Mich hat damals ein Schweizer Heimatkunde-Schulbuch „historisiert“. Mit 9 Jahren unternahm ich lange Exkursionen zu den Schauplätzen in der Zürcher Altstadt. Schön gruselig: Die Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius im Kreuzgang des Fraumünsters. So als Ausflugstipp für Eltern;-)
Pff. Ist doch toll, wenn Kinder fasziniert sind, und dabei Geschichte und Geschichten aufnehmen wie Schwämme. Meine haben es eher mit den Ägyptern…
… solange bloss die Puppen der Medea zum Opfer fallen,
oder in moderneren Versionen einem überzeugt gebrüllten „Avada Kedavra“
ist ja alles im grünen Bereich, schade um den entsorgten Dreizack,
ich hoff Sie haben den noch zurückgerettet?
Der barmherzige Samariter ist eine angenehme Ausnahme in der Bibel. Ich denke kaum, dass sie ihren Kindern die Geschichte von Lot vorlesen wollen würden, wie ihn seine beiden Töchter erst betrunken machten und dann Sex mit ihm hatten. Oder die wie Gott seinem auserwählten Volk den Auftrag gab die Meditianiter mit Mann und Maus, Frauen und Kinder abzuschlachten. Auch die scheinbar rührende Geschichte von Noah der mit Frau und Söhnen rettet, dafür aber die Menschheit killt. Das Christentum ist diesbezüglich noch etwas krasser al die alten Griechen.
Stimmt, die Bibel ist voll von Massenmorden und Quälereien.
… und was hat die Bibel mit diesem Blog zu tun?
Aber auch nicht mehr, als bei den Griechen.
Meine Kinder mögen beides nicht. „Zu brutal“ – Ausser dem barmherzigen Samariter.
Man sollte schon zwischen dem Alten und dem Neuen Testament unterscheiden können. Die meisten gewalttätigen Geschichten stammen aus dem Alten, im Neuen gibt es aber einige Geschichten, die Kindern ein gutes Beispiel geben können, die vom barmherzigen Samariter ist sicher nicht die einzige. Und dafür muss man noch nicht einmal an Gott glauben.
@Muttis Liebling Herr Kämpf wusste zu bemerken das es in den griechischen Mythen brutal zugeht, nicht zugeht wie beim barmherzigen Samariter. Die Geschichte des barmherzigen Samariters finden Sie in der Bibel im neuen Testament Lk 10,25-37. Anders als die meisten reformierten Christen denken oder je zu hören bekommen, ist die Bibel keine Sammlung von Geschichten à la barmherziger Samariter. Sie ist eher das Gegenteil. Laut der “Sceptic annotated Bible“ gibt es in der Bibel nicht weniger als 1321 Stellen mit ausufernder Brutalität.
Wer zählt denn Stellen ausufernder Brutalität in der Bibel? Vor allem, wozu soll das gut sein? Natürlich enthalten alle die Soziogenese beschreibende Metapher ausufernde Gewalt. Weil Gewalt einer der wesentlichsten Teile unserer Kultur ist. Ohne Gewalt zu erzählen, kann man die menschliche Geschichte nicht erzählen. Auch nicht auf dem Niveau von Grimms Märchen, Struwwelpeter oder Karl May. Die Bösen sind am Ende immer tot und das ist die Moral der jeweiligen Geschichte.
Man muss Kinder nicht von erzählter Gewalt, im Gegensatz zu realer, fernhalten. Man muss sie nur richtig erzählen.
Richtig erzählen bedeutet vor allem, klarzumachen, dass alle Geschichten nicht wörtlich zu verstehen sind. Alle Geschichten haben eine Fabel, die in ein Narrativ gekleidet sind. Ob der Drachen getötet, ein Fluch erlischt oder aus dem Frosch wieder ein Prinz wird, bedeutet immer das gleiche. Das Böse ist besiegt. Der Drache, der Fluch oder der Frosch, die gibt es natürlich nicht, die sind nur Bilder. Wie eine Kinderzeichnung vom Lkw kein Lkw ist, sondern nur ein Bild. Bilder sind nie schlecht, nur das was sie abbilden kann gut oder schlecht sein. Das verstehen Kinder ab 5.
Danke für den tollen Artikel und die wertvolle Warnung. In diesem Falle verschiebe ich das Sanskrit für meine Kinder auf das 10. Lebensjahr, in der indischen Götterwelt geht es ja z.T. auch recht zur Sache 🙂
Wo liegt das Problem? Gibt genügend Idioten die ihre Kleinen in die Welt von Angry Birds etc. entführen und dort vergessen.