Archiv für die Kategorie ‘Wüsten & Oasen’

Naturschütz

Roland Fischer am Freitag den 25. August 2017

Donnerstag abend. Poesienacht im Boga, in der vielleicht am wenigsten pittoresken Orangerie der Welt. Und das ist jetzt nicht unbedingt kritisch gemeint, der Raum hat durchaus etwas für sich. Und wenn er so voll ist wie gestern (und auch schon am Mittwoch, dem Vernehmen nach), dann ist auch die Akustik einigermassen ok. Gefüllt wurde dieser Raum gestern mit allerlei lyrischem Wagemut, von jungen Autorinnen und Autoren. Und alle bemühten sich – mehr oder weniger bemüht – um einen Bezug zum Boga, zu Flora und Fauna. Würde gut auch ohne gehen, dachte man.

Dann noch weiter rüber zur Schütz, da spriesst ja auch so einiges an Kulturkraut. Und toll dass es da offenbar keinen Chef-Gärtner gibt, dass hier jede Ecke selber etwas anpflanzt und schaut, wie es gedeiht. Zuerst war da also ziemlich dunkel grundierter Jazz, auf der grossen Bühne, eine gute Ladung Sommerend-Melancholie. Und dann noch ein mächtiges Soulorgan drüben beim Roxy, wie zum Trotz. Und es zeigt sich wieder mal: Magerwiesen haben den grössten Artenreichtum.

Oder verendet klinisch tot

Mirko Schwab am Freitag den 11. August 2017

Sternschnuppen am Nachthimmel, ganz Bern tanzt zur Temporärmusik. Vergessen wir die Treue nicht. Alles Gute unter der Brücke!

Schützenmatsch. (Franziska Scheidegger)

Es ist Sommer und die Sandsteinstadt mal wieder in der Manischen: Holzbühnen, Siebdruck, Volksküchen allenthalben, überall schöne kleine Projekte zur Verlustierung und politischen Wohlfühlmassage. Ein Hauch von Grossstadt eben, sagen sich die Berner*innen stolz, aber leise. Auch dem Sommer ist es nicht hunnipro geheuer: Er schickt das Städtchen zurück ins Grau und verhängt Nieselnächte bei 11° Celsius – nicht gleich «meinen» und schön demütig bleiben. Hopp YB.

Ein guter Grund für kulturpolitische Demut feierte gestern sein Vierteljahrhundert. Das «Sous Le Pont», Hausrestaurant der Reitschule. File under: stadtweit beste Frittes (ausser bei bisweilen allzu verliebter Besalzung und nebst überhaupt recht vielseitiger Karte zwischen kulinarischer Ambition und saisonaler Bodenhaftung) und im wortwörtlichen Volksmund liebevoll «Souli» geheissen. Und so zeitgeistig sich dieses Geburtstagsfest gerierte mit flockig Freiluft-Dayrave und DJ-Culture und so, als wäre auch hier nur die Lust am Flüchtigen zu zelebrieren, so ungleich grösser ist das Verdienst dieses Hauses.

In der Zwischennutzungs-Euphorie geht nämlich manchmal fast zverlieren, wer erstens im Winter die Stellung (in dem Fall: die Stallung) hält, wenn der Glasbrunnen versiegt und Schneematsch liegt auf der Schütz und die Boys mal wieder zehn oder mehr Punkte Rückstand bejammern. Wer sieht dann zu, dass es was zu festen gibt, Obdach ist für die nächtliche Herumtreiberei von uns Tagedieben und eine Flasche Grappa bereitsteht, wenn einem die Frau das Bett verwechselt hat?

Zweitens sind es gerade diese Instiutionen, die unter widrigsten Umständen und im eiskalten Klima bürgerlicher Verstocktheit gekämpft haben: Dafür, dass wir heute mal eben gemütlich bei der Stadt anklopfen können, für einzwei lustige Tage, Wochen oder Monate einen Flecken  zwischennutzen können und noch gäbig ein paar Kisten Kulturgeld hinterhergeworfen bekommen, sobald wir «Interdisziplinarität» richtig schreiben können. Ist das nicht schön? Sicher doch. Ist es selbstverständlich?

Ein paar Identitätsfragen sollten wir also nicht zu faul sein, sie zu stellen. Bei all der Freude an der sommerlichen Temporär-Diversität, gegen die ich hier nicht anzuschreiben gedenke, sie mitfeiere und selbst mitgestalten will. Institutionen wie die Reitschule sind im Gegenteil sogar darauf angewiesen, dass neue Akteure die Initiative ergreifen und die Bürde verschiedenster sozialer Bedürfnisse mitschultern, die von der Reitschule als Kuckucksmutter des Berner Nachtlebens immer selber getragen werden muss. Aber eben: Nachhaltigkeit hört nicht auf mit der Wahl des richtigen Mehrweggeschirrs.

Mein fav boy Urs, wie so oft mit dem Durchblick zwischen Stil und Standpunkt – du hast diese kulturpolitischen Fragezeichen bei verschiedenen Gelegenheiten schon anklingen lassen und nichts mehr als ein Anschluss daran sind meine Worte: Don’t forget your Brasserie, your Eidgenossen, verleugnet nicht den Internationalen Strobo Club, das Ross, die Cafete nicht, das Kapitel nicht und den Dachstock nicht, landet spät in der Casa M oder verendet klinisch tot beim Henkerbrunnen, auch wenn der Sommer glauben macht, sie alle seien gar nicht nötig.

Und meinem lieben Souli Alles Gute, du alte Sau.

In da hud

Roland Fischer am Donnerstag den 3. August 2017

Nettes neues Crowd-Hobby: Stadtpläne einfärben, damit man weiss, in welchem Quartier was los ist. Wo findet sich der Geldadel, wo ist Touristenalarm, wo verkehren die Hipster (wahlweise Alarm oder Attraktion). Ein einzelner Pinselstrich bewirkt noch nichts, erst die Masse macht’s. Hier der aktuelle Stand für Bern:

Andere Städte sind schon viel detaillierter koloriert – ein Blick lohnt sich womöglich für die nächste Ferienplanung. Und man kann sich vorstellen, dass da auch schon etliche Edit-Wars à la Wikipedia toben.

Kultur im Kocher

Roland Fischer am Freitag den 14. Juli 2017

So sieht es also aus, Berns niederschwelliges Kulturangebot:

Tatsächlich ist das eine schöne Initiative, dieses Parkonia-Festival im Kocherpark. Die Barcrew wirkte zwar zuweilen ein wenig überfordert, aber weil die Stimmung sonst überaus entspannt war zwischen Jonglierenden, Ping-Pong-Tisch und Bühne war das ziemlich egal. Gestern legten die Hiphopper von Churchhill einen fast schon offensiv gutgelaunten und pünktlich um zehn (die Nachbarn!) fertigen Auftritt hin. Wenn die Regeln brav eingehalten werden hilft die Stadt wo sie kann; demenstprechend poppen grad allenthalben Sommerspecials up – davon soll hier dann auch mal noch die Rede sein.

Hier bloss noch der Hinweis, dass es im Kocherpark Mitte Sommer einen fliegenden Wechsel geben wird: Die Bühne wird ab- und eine Leinwand aufgebaut. Bern bekommt endlich wieder ein richtiges Openair-Kino! Und erst noch – wie schon Parkonia – mit Gratis-Eintritt. Bisschen seltsam, oder, dass im reichsten Land der Welt Kultur immer öfter damit beworben wird, dass sie das Portmonnaie nicht belastet?

Kultur am Sankt-Immerleinstag

Roland Fischer am Donnerstag den 8. Juni 2017

Noch nichts vor am Wochenende? Dann empfiehlt sich ein Ausflug in den (unumstritten Berner!) Jura, nach Saint-Imier. Da geht am Samstag und Sonntag nämlich die HKB an Land, mit einem vielfältigen Kulturprogramm in allen möglichen (Leer)Räumen.

Allein der alte Schlachthof lohnt einen Besuch – so hat man Ende des 19. Jahrhunderts Industrie gebaut. Und so wird da in diesem Moment Kultur aufgebaut:

Es wird Kino fürs Ohr geben, Video-Transformationen, Klassik in der Fleischhalle, Theater Theoriediskurs zu anarchistischen Szenen, eine Begegnung von Microtonality und Jazz, das legendäre Reich-Stück Drumming und ein Musikexperiment mit der Bevölkerung. Und einen sehr charakteristischen Mikrokosmos zwischen Land und Stadt, Politik und Kultur.

Säulenheilige Gewinner

Roland Fischer am Mittwoch den 7. Juni 2017

Bei Transform ist die Entscheidung gefallen. 10 Künstlerinnen und Künstler hatten dieses Frühjahr schon mal mit Holligen Tuchfühlung aufgenommen und sich mit Projektvorschlägen für Kunst im öffentlichen Raum der Quartierjury gestellt. Ende Mai hat diese schliesslich entschieden – and the winner is…: Bad Boy Tom Kummer, mit «Die Säulenheiligen von Holligen». Wir hatten schon berichtet von der Idee.

Und Kummer hat auch schon angefangen mit der Forschungsarbeit beim Europaplatz.


Säulen-Botschaft 1:

Die Säulenheiligen am Europaplatz haben ein Energiefeld über Holligen gelegt. Bei meinen Recherchen habe ich Energiespuren aufgespürt. Es betrifft sechs Säulen. Ihre Aura nimmt zu. Das hat Folgen.

Oder wie Transform schreibt:
Tom Kummer fokussiert in seiner Arbeit auf die Säulenlandschaft auf dem Europaplatz – welche von vielen Leuten im Quartier als misslungene städtebauliche Entwicklung betrachtet wird. Man wünscht sich eine Verschönerung dieser Betonwüste, Swimming Pools, einen Spielplatz, mehr Grün oder vielleicht auch einfach mal ein zwei Bänke… Tom Kummer sieht die Sache etwas anders. Er sei fasziniert von der Aura, von der sakralen Qualität dieser Säulenlandschaft und hat bei seinen Recherchen vor Ort bemerkt, dass diese heiligen Säulen eine Energie ins ganze Quartier ausstrahlen und es Punkte im Quartier gibt, die klar mit den Säulen im energetischen Austausch stehen.

Soviel kann geteasert werden: Es wird eine Muttersäule markiert, eine Litfasssäule, die mit einer riesigen dicken Schicht auf eine grosse (narrative) Vergangenheit von Holligen verweist. Es wird eine interaktive Tochtersäule geben, die die Gegenwart vertritt und wo jede und jeder seine Geschichte auf neue Geschichtsschichten auftragen kann. Es wird Pilgerwanderungen im Quartier geben. Es wird only-in-Holligen-Souvenirs geben. Es wird Konzerte und Speaches geben. Und es wird am 8. Juli ab 18 Uhr eine Einweihung der heiligen Säulen und eine Opening Night auf dem Europaplatz geben. Mit Feuerpredigt, Chor, spoken Word, Oper, electronic experiments, Rap Specials und weiteren Huldigungen.

Eine Hammer-Ausstellung

Roland Fischer am Mittwoch den 31. Mai 2017

Also: zuerst mal eine Entschuldigung für den mehr als müden Wortspiel-Titel. Elf Uhr nachts und keine bessere Idee gehabt.

Also: Hammerwerk. Worblaufen. Wird bald abgerissen, das Ensemble an der engen Aare-Kurve, hat man sagen hören. Wäre sehr schade um diesen Zeugen der Industriegeschichte – aber vielleicht darf er auch ein wenig bei der Aufwertung des Areals helfen:

Siebzig Wohnungen sollen Ruhe in den eigenen vier Wänden und in der Auenlandschaft bieten. Das Herz der Anlage bildet die älteste, wasserbetriebene Hammeranlage der Schweiz.

Und nun hätte ich eigentlich gern geschrieben: Sollte man sich also noch einmal anschauen, diesen Zeitzeugen, wo sich doch eine schöne Gelegenheit bietet – die HKB hat in den Räumen nämlich eine kunterbunte Schau eingerichtet, Frucht des diesjährigen spartenübergreifenden Grossprojekts «Material <> Digital».  So bekommt man zeitgenössische Kunst sonst nie zu sehen: Das Hammerwerk ist die perfekte White-Cube-Antithese, da stehen grandiose Hydraulik-Hammer herum (die am Montag auch noch sehr performativ zum Einsatz kamen, als DJ-Prelude), viel Kunst und Krempel, der mit der HKB wohl nichts zu tun hat und in einer hinteren Ecke dann tatsächlich noch diese Hammeranlage samt hölzerner Nockenwelle, alt und feucht und gar nicht museal.

Einziges Problem: Diese HKB-Vermittlungsinititative war offenbar vor allem für den internen Gebrauch gedacht. Wer am Montag nicht da war (und es war über den Kreis der beteiligten Studierenden und Dozenten heraus kaum jemand da), der hat dieses Spektakel verpasst. Ziemlich defensiv, diese Art von Kunstvermittlung. Die Vernissage: ein schöner Erfolg. Und dann am besten gleich wieder abbauen.

Der Zeppelin hebt wieder ab

Roland Fischer am Mittwoch den 3. Mai 2017

Rasche Meldung aus der Lorraine: Das Gentrifizierungszentrum Zeppelin nimmt seinen Betrieb demnächst wieder auf. Endlich wieder eine nette Bar, kaum einen Steinwurf vom verkehrsberuhigten und politisch beunruhigten Quartierleben entfernt.

Der Infoabend gestern sei entsprechend lebendig verlaufen. Nächste Woche also dann Eröffnung, am Donnerstag – und am Freitag geht’s schon in die grossen Ferien.

Holligen: Randnotiz

Roland Fischer am Freitag den 28. April 2017

aufgezeichnet von Helmut Dick

Wie schon am Vortag komme ich wieder an der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage vorbei. Ich überlege kurz, ob ich noch einmal zu dem Brachgelände hochgehe. Genau in diesem Moment kommt, wie gestern, wieder der ältere Herr auf seinem E-Bike den Hügel heruntergefahren. Und auch heute fällt mir auf, wie eigenartigartig er die Rechtskurve am Ende des Hügels durchfährt. Er schneidet die Kurve nicht nur in einem komischen Winkel an. Auch das Zurücknehmen der Fahrgeschwindigkeit steht nicht im Verhältnis zur eigentlichen Reisegeschwindigkeit. Und dann noch diese angespannte Konzentration in seinem Gesicht.
Heute stoppt der Mann kurz hinter der Kurve, steigt ab und schaut nach dem Hinterrad seines E-Bikes. Kurz entschlossen gehe ich zu ihm hinüber. Ich beginne das Gespräch mit der Frage, ob etwas nicht in Ordnung sei. „Sie sind mir auch gestern schon mit Ihrem Fahrrad aufgefallen“. Ich merke, dass er es merkwürdig findet, dass ich ihn beobachtet habe. Darum beginne ich von Transform zu erzählen. Dass ich als Künstler dabei bin das Holligen Quartier zu erkunden. Und ich erzählte ihm von meinen Projekten. Bei The Blinking scheint ein Auto nachts in ein großes Gebäude gefahren zu sein und sowohl Auto als auch das ganze Haus blinken plötzlich einheitlich im selben orangefarbenen Rhythmus.
Das gefällt ihm. Auch er beginnt zu erzählen. Er arbeitet in einer Verwaltung. Noch ein paar Jahre bis zur Rente. Er fährt hier fast jeden Tag vorbei. Genau durch diese Kurve. Wenn er von der Arbeit kommt. Seit er das E-Bike hat, fährt er sogar schon mal eine Extrarunde. Seine Frau sagt immer, er soll es nicht rumerzählen. Aber er hat diese Faszination schon seit vielen Jahren. DENN wenn er es schafft GENAU, HAARGENAU im richtigen Bogen durch DIESE Kurve zu fahren, mit dem ABSOLUT richtigen Neigungswinkel UND EXAKT passender Geschwindigkeit DANN MUSS es möglich sein, in eine andere, noch UNBEKANNTE Dimension hinüberzufahren .
Ich habe ihn dann noch alles Mögliche gefragt, aber nicht wie er denn wieder zurückkommen würde. Dann hat er sich freundlich verabschiedet. Er müsse jetzt aber weiterfahren, da sich seine Frau sonst Sorgen machen würde.

Ich würde gerne im Zug sitzen und in einer gefunden Berner Zeitung die Randnotiz lesen, dass ein Mann aus Holligen mit Fahrrad auf dem Weg nach Hause spurlos verschwunden ist.

Das transdisziplinäre Kunstprojekt transform fragt in seiner sechsten Ausgabe gemeinsam mit zehn Kunstschaffenden aus allen Sparten und einer Jury bestehend aus BewohnerInnen Holligens, was Kunst im öffentlichen Raum Holligens soll. Seit Februar diskutiert die Jury gemeinsam mit transform, was sie von Kunst für ihr Quartier erwarten. Im April waren die eingeladenen KünstlerInnen in Holligen unterwegs und traten mit dem Quartier in Interaktion. Die Jury entscheidet demnächst, welcher ihrer Projektvorschläge für ein grosses Kunstprojekt in Holligen realisiert werden wird.

Holligen: Notizen auf Hermes Schreibmaschine auf Europaplatz

Roland Fischer am Donnerstag den 13. April 2017

Was machen sie da?
Schreibe mit Maschine
Wie aus Keller, Hermes Maschine
Mein Bruder besser schreibe.
Ich nähe.
Was ist das
ein Bett
ein Tisch
ein Kunst
Projekt
Projekt waaaas,
So ein Pferd ohne Reiter, in meiner Land viele Soldaten aus Eisen, Bronze, Stein
alles Tot aber Gut
ooooo, aaaaa
Ich bin Schriftstellerin Dragica
was sie schreiben
Lieder
Nicht singen was schreiben
Warum dann?

Maria meine Name,
Mazedonien, reden wir srbski

ich lese ihnen Zukunft
ja cu vam čitati budućnost
was wenn ich sterbe, morgen
das sage ich nicht
sage ich nie
was machen sie da?
ich sammle Geschichten

dragica raijic und das künstlerduo boijeot.renauld auf dem europaplatz (© transform)

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