Archiv für die Kategorie ‘Tanz & Theater’

Bern auf Probe: Gurlitts schrecklich nette Familie

Anna Papst am Dienstag den 31. Oktober 2017

Wenn eine Gruppe seit 18 Jahren Theater macht, sammelt sich einiges an. Im Proberaum von Schauplatz International, einem Urgestein der Freien Szene, lassen sich unter anderem ein Ruder-Fitness-Gerät, ein Keyboard, drei Fahrräder, rund 60 Klappstühle, drei Kaffeemaschinen, eine Mikrowelle, zwei Turnmatten, eine Gitarre, ein Fussball, eine Bratpfanne, eine Spritzflasche zur Pflanzenbewässerung und ein Skianzug finden. Das buntgemischte Sammelsurium erinnert an den Inhalt eigener Keller-, Estrich- und anderer Stauräume. In dieser vertrauten Kollektion von Übriggebliebenem macht man es sich gerne gemütlich, um von sich zu erzählen. So wie Marianne Kaiser, die am heutigen Probentag von Anna-Lisa Ellend für das Projekt „Gurlitts entarteter Schatten“ interviewt wird. Darin geht es um ein fiktives Familientreffen der Gurlitts, die alle irgendwie mit Kunst zu tun haben. Biographien und Kunstbezug der behaupteten Gurlitt-Familie speisen sich aus Interviews mit dem Schauspieler Nico Delpy und vier Bernerinnen und Bernern, die die Familienmitglieder auf der Bühne verkörpern.

Was an diesem Familientreffen wohl verhandelt wird? Probefoto von “Gurlitts entarteter Schatten”, geschossen von Schauplatz International Mitglied Anna-Lisa Ellend

Marianne Kaiser wird eine Tante von Cornelius Gurlitt spielen, die aus einem engen Tal kommt. Bei ihr selbst ist es das Emmental. In einem behüteten Mehrfamilienhaus, in dem neben ihren Eltern und Geschwistern auch noch Grosseltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen gewohnt haben, ist sie aufgewachsen. Es wurde ihr im Emmental aber bald zu eng. Mit Marschmusik und Dorfchilbi konnte sie nicht viel anfangen. Als Jugendliche verschlang sie das Buch „Christiane F. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und war fasziniert vom kaputten Berliner Milieu. Bleich sein, fand sie, die mit ihren roten Backen quasi das Inbild des gesunden Landlebens war, das Nonplusultra.
Während Marianne Kaiser erzählt, führt Albert Liebl Protokoll, das neunzigminütige Gespräch wird vom Klicken der Computertastatur begleitet. Anna-Lisa Ellend stellt ihre Fragen der Chronologie des Heranwachsens entlang, kommt von Privatem auf Zeitgeschichtliches zu sprechen. Marianne Kaiser erzählt von Zaffaraya, von einer Zeit, in der es jede Woche eine Demonstration inklusive Sitzstreik vor der Schützenmatte gab. Später protestierte man gegen die Atomtests unter Jacques Chirac oder pilgerte nach Mühleberg um gegen hiesige AKWs mobil zu machen.

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#BettNotBrooklyn

Gisela Feuz am Sonntag den 29. Oktober 2017

Bern ist zwar nicht Brooklyn, aber hey, auch in der Hauptstadt ist mächtig was los, zum Beispiel am Sonntagnachtmittag im Bett von Frau Feuz. Nicht so wie Sie denken, Sie Ferkel.

«Wir müssen über Lindsay Mills sprechen», sagt die formidable Schauspielerin Katharina Behrens. Und über diese Lindsay Mills wird zur Zeit im Schlachthaustheater tatsächlich ausgiebig gesprochen. Aber eben nicht nur. Im zweiten Teil ihrer «Trilogie der Freiheit» stupft das Trio Bues/Mezger/Schwabenland eine Unmenge an Aspekten an, die sich alle um die Frage drehen, inwiefern Globalisierung und Überwachung unsere Intimität verändern. Dazu genügen zwei Figuren: Dennis Schwabenland mimt den übergewichtigen Armin, einen IT-Nerd mit bayrischer Vergangenheit, der sich im wahrsten Sinne des Wortes entpuppt und eben Katharina Behrens, welche Lindsay Mills gibt, die sich mit ihrem Freund nur über schlechte Internetverbindungen via Skype unterhalten kann. Besagter Freund ist nämlich «Pfeifenbläser» Edward Snowden und der hockt in Russland im Exil. Entsprechend heisst das Stück denn auch «Edward Snowden steht hinterm Fenster und weckt Birnen ein».

Foto © Manu Friederich

Kurz: die 90 Minuten bieten beste Unterhaltung und liefern viel Denkstoff – vielleicht fast zu viel, am Schluss schwirrte einem etwas der Kopf. Aber Frau Feuz wähnt sich diesbezüglich in einer durchaus komfortablen Situation: Wir KSB-Blogeusen können uns an einem trüben Sonntagnachmittag ja gemütlich im Bett in den Hirnwindungen herumpopeln und von dort Fragen herausgrübeln, die man nicht zu beantworten braucht. Das übernimmt dann die werte Frau Rittmeyer morgen in ihrer Stück-Analyse im Bund-Mutterschiff. Drum:

– Wie riecht es in einem Ganzkörper-Kostüm aus dem Theater-Fundus, das man anziehen kann, um richtig dick auszusehen?
– Ist ein Telefon in der Mikrowelle wirklich abhör- und ortungssicher?
– Die totale Freiheit – warum habe ich noch keinen Avatar?!
– Meine beste Freundin versteht mich immer – ist sie ein Bot?
– Mein Freund versteht mich nie – warum ist er kein Bot?
– Kann ein Putzroboter wirklich aufzeichnen, was um ihn herum geschieht?
– Bietet die Migros-Clubschule Pole-Dancing an?
– Wie viele Menschen onanieren zu Bildern von Animes?
– Hisst Musikerin Christine Hasler die Fahnen immer in gleicher Reihenfolge?
– Haben Sarah Harrison und Edward Snowden am Flughafen von Moskau denn nun oder haben sie nicht?
– Haben die Hippies die Freiheit erfunden?

«Edward Snowden steht hinterm Fenster und weckt Birnen ein» wird noch bis und mit Dienstag 31. Oktober im Schlachthaustheater gezeigt.

Posten Sie Ihr Foto/Video auf irgendeiner digitalen sozialen Plattform mit dem Zusatz #BernNotBrooklyn. KSB wählt unter den Fotos das leckerste aus und veröffentlicht es sonntags pünktlich zum Katerfrühstück.

Spass. Und zwar JETZT!

Gisela Feuz am Mittwoch den 18. Oktober 2017

Wer schon einmal an einem regnerischen und kalten Tag an einem leeren Vergnügungspark vorbeigekommen ist, der weiss, wie skurril und beelendend eine solche Szenerie sein kann. Keiner da und trotzdem blinken und flimmern alle Lämpchen und machen klar, dass es hier um Spass geht. Und zwar JETZT.

Diese aufgezwungene «falsche» Spassigkeit, sei für sie durchaus ein Sinnbild für unsere Gesellschaft, sagt Annalena Fröhlich, eine Gesellschaft, in der einem befohlen werde, Dinge zu tun, die sich eigentlich nicht befehlen liessen. Relax! Have fun! Sei glücklich! Zusammen mit ihrem Ensemble deRothils hat die 33-jährige multidisziplinäre Künstlerin «Park» erarbeitet, ein Stück, welches sich der Vergnügungssucht oder besser gesagt deren Schattenseiten, der Volksverblödung, annimmt. Im Park von deRothfils wird nämlich hinter die glitzernde Fassade geschaut, dem Publikum wird ein ganz und gar unglamouröser Backstage-Bereich mit Ballonfetzen, kaltem Neonlicht, abgewetztem Sofa und Kaffeemaschine geboten. Hören tut die Zuschauerschaft allerdings die Kakophonie der Spassgesellschaft, die sich nebenan im Park vergnügt. Weil Bild und Ton nicht zusammen passten, würde ein Gefühl der Verschiebung, des Falschsein entstehen, eben genau so, wie es Vergnügungsparks oftmals bei ihr auslösen würden, sagt Annalena Fröhlich.

Glamourös ist anders. Im Backstage von «Park».

«Park» ist kein neues Stück, sondern wurde im Januar 2016 in der Dampfzentrale uraufgeführt. Dank einem Stückentwicklungsbeitrag des Kantons Bern hat die Truppe aber die Möglichkeit bekommen, ihre multidisziplinäre Choreografie noch volle zwei Wochen feinzuschleifen. Es sei relativ selten der Fall, dass man diese Chance erhalte, sagt Annalena Fröhlich. In ihrem Fall habe es dazu geführt, dass «Park» nun radikaler und straffer daherkomme. Schön, wenn in einer Welt, die auf Moment getrimmt ist, etwas eine zweite Chance erhält und Zeit auf Details und Ausarbeitung verwendet werden kann, nicht?

«Park» von und mit deRothfils wird von Donnerstag 19. bis Sonntag 22.10. im Tojo der Reitschule gezeigt.

Bern auf Probe: Huere krassi Müetere

Anna Papst am Dienstag den 10. Oktober 2017

«Der Titel gibt immer noch zu reden», sagt Emma Ribbing. Die Mitglieder der Gruppe em-R sitzen im Studio 1 der Dampfzentrale im Kreis, es ist der Auftakt zu den Intensivproben, denen Recherchen und Vorproben von über einem Jahr vorangegangen sind. «Für mich geht es darum, einen patriarchalisch besetzen Begriff neu zu deuten, ihn in gewisser Weise zurückzuerobern», schaltet Emma Murray sich ein. «Wir nehmen die rohe Energie, die von ihm ausgeht, verhandeln aber die Frage nach mütterlicher Fürsorge.»

Gib’s zu, auch Du schaust länger hin, wenn eine nackte Brust zu sehen ist: Bühnenmodell und Plakat von «Mother*Fuckers»

Die Dramaturgin Johanna Hilari ergänzt: «Wir haben fuck in diesem Zusammenhang mit Spielen gleichgesetzt; to fuck around, to play around. Wie spielen auch mit dem Begriff, indem wir ihn zweiteilen, so dass man einerseits die Mütter rauslesen kann, andererseits aber eben auch die Taugenichtse, die herumalbern und Blödsinn machen.» Der Titel, der so viel zu diskutieren gibt, gehört zum neusten Tanzstück von Emma Murray und lautet «Mother*Fuckers». Diesen Beitrag weiterlesen »

Himmel und Hölle, alles dasselbe

Milena Krstic am Freitag den 6. Oktober 2017

Wie lässt sich ein solch sensibles Thema wie Suizid künstlerisch verhandeln? Die Berner Schauspielerin Martina Momo Kunz hat gestern im Schlachthaus Theater eine mögliche Form gezeigt – und damit das Publikum begeistert.

Der Wahnsinn: Martina Momo Kunz ist zur einen Hälfte Biest, zur anderen die suizidale Hélène.

Suizid, also Selbsttötung, da sind wir uns einig, ist eines der heikleren Themen. Wer darüber ein Theaterstück schreiben will, muss sich noch mit ganz anderen Dingen beschäftigen als Dramaturgie und Outfits. Martina Momo Kunz hat für ihr Stück «Les mémoires d’Hélène: The Beast in You» die Zusatzarbeit getan, sich durch Diskussionen im Netz gelesen und mit der Präventionsstelle Rücksprache gehalten. Wenn sie also als die suizidale Hélène auf die Bühne tritt, ist sie sich ihrer Verantwortung bewusst. Das zeigt ihre Aussage, die sie im Interview mit dem «Bund» gemacht hat:

«Suizid ist sehr ansteckend. Das zeigt sich etwa, wenn es nach dem Freitod einer bekannten Person zu Suizidwellen kommt. Und deshalb sprechen die SBB auch von Personenunfällen. Oder im Journalismus gibt es den Kodex, dass man einen Suizid nicht zu genau beschreiben sollte wegen des Nachahmungseffekts.»

Von Verantwortungsbewusstsein war auf der Bühne gestern Abend – zum Glück –  nichts mehr zu spüren. Jedenfalls nicht während des Stücks. Da beschrieb die überspannt  glückselige Hélène verschiedene Arten des Freitods, genüsslich, im Detail, während sie ihren Tee und den ihres imaginären Gegenübers süsste. Bassist Flo Götte (unter anderem bekannt aus der Band von Evelinn Trouble) spielte dazu eine Tonspur in den Färbungen Metal, Doom und creepy Horrorfilmmusik. Das war laut, das war gruselig und mindestens so einnehmend wie ein Blockbuster. Dessen Ästhetik hat sich Kunz nämlich bedient. Sie übersteigert mit einfachsten Mitteln, was wir sonst aus dem Film kennen: Stimmeffekte, die sie mühelos von der Rolle des Biests in die der Hélène gleiten lässt, Joker-Frazen-Schminke und ja, eben, diese donnernde Musik.

Auf ihrem Weg in den Wahnsinn singt sie uns eine eigene Version von Michael Jacksons «You Are Not Alone», nur bei ihr heisst das Lied «You Are Not Enough», eine zynische Referenz auf die schweizerisch-protestantische Leistungsgesellschaft.

Ein weiterer Auszug aus dem Interview:

«Ein Grund, warum ich das Projekt mache, ist, dass ich auf Reisen miterlebt habe, wie die Schweiz oft für das Paradies gehalten wird. Und gerade wenn man beachtet, wie gut wir es haben, ist es recht schwierig, unsere relativ hohe Suizidrate zu erklären. (…) Was ich versucht habe, war vielmehr, mich auf den Suizid als Kollateralschaden unserer Leistungsgesellschaft zu fokussieren. (…) Eine Rolle spielt auch unsere protestantische Ethik: Fleiss und Arbeit stehen im Zentrum; wir zielen darauf ab, etwas zu werden. Scheitern liegt nicht wirklich drin.»

Das Stück ist eine rasante Reise ins Jenseits, wo derbe Witze erzählt und Jahrmarktmusik gespielt wird. Ob Himmel oder Hölle spielt keine Rolle. Hélène in ihrem hautfarbenen Nachthemd wird zu einer netten Bekannten, in der sich eigene Abgründe spiegeln.

Am Ende des wilden Ritts, nach dem Verbeugen und beklatscht werden, da spricht Martina Momo Kunz zum Publikum, man möge doch noch hierbleiben, Fragen würden gern beantwortet, Rückmeldungen seien erwünscht. Während des Stücks hat Hélène völlig losgelöst von Verantwortung den Karren an die Wand gefahren. Das war schon ziemlich genial, wie sie das hingekriegt und somit das Publikum komplett und frei von jeglicher Gefühlsduselei in den Bann gezogen hat.

Für «Les Mémoires d’Hélène: The Beast in You» hat Martina Momo Kunz letztes Jahr den zweiten Platz am Premio Nachwuchspreis für Theater und Tanz gewonnen. Das Stück wird heute Abend und am Samstag um 20.30 Uhr im Schlachthaus Theater gezeigt.

Bern auf Probe: Kuck mal, wer da spricht

Anna Papst am Dienstag den 26. September 2017

Wenn das movo-Ensemble durcheinanderredet, entsteht ein Chaos mit Zeitverzögerung. Man ist sich – wie bei jeder Theaterprobe auf der Welt – nicht einig, mit welchem Satz es weitergeht. Die Schauspielerin Grazia Pergoletti, die die Gebärdensprache nicht frei beherrscht, argumentiert mit Worten, die Gebärdendolmetscherin übersetzt an ihren gehörlosen Kollegen Gian-Reto Janki, der antwortet in Gebärdensprache, die hörende Schauspielerin Lilian Fritz, die eine Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin abgeschlossen hat, fragt zurück und übersetzt simultan in gesprochene Sprache. Regisseurin Meret Matter ruft hinein in das Durcheinander, die Gebärdendolmetscherin übersetzt wieder an Janki, der ihr antwortet, während Pergoletti schon wieder mit Matter im Gespräch ist. Schliesslich greift man zum Textbuch und stellt fest: Der gehörlose Janki hat als Einziger den Text richtig gewusst.

So sieht einer aus, der gerade eine Busse kassiert: Die Ensemblemitglieder von movo bei der Probe.

Dass man aneinander vorbeiredet, ist aber die Ausnahme beim movo-Ensemble: Das ständige Übersetzen von gesprochener Sprache in Gebärdensprache und zurück erfordert, dass immer nur eine*r spricht. Die Situation, dass zwei sich unterhalten und eine dritte Person es nicht verstehen kann, möchte man vermeiden. Deshalb sitzt direkt neben Meret Matter auf jeder Probe eine Gebärdendolmetscherin, die alles, was Matter sagt, simultan übersetzt. Diesen Beitrag weiterlesen »

Bern auf Probe: Der gefesselte Sekretär

Anna Papst am Dienstag den 19. September 2017

Es ist gar nicht so leicht, einen Menschen zu fesseln. Weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinn. Im übertragenen Sinn besteht die Schwierigkeit darin, ihn mit einer künstlerischen Darbietung bei der Stange zu halten, damit er nicht abdriftet und bei drängenden, wenn auch ungleich profaneren Gedanken wie der Frage, was er sich zum Lunch gönnen soll und ob er bis zum nächsten Waschtag noch genügend saubere Unterhosen hat, landet. Im wörtlichen Sinne strampelt der zu fesselnde Mensch, was das Zeug hält, das Seil lässt sich nur mit Mühe verknoten, und schnürt man es am ausgestreckten Körper zusammen, rutscht es wieder herunter, sobald der Gefesselte eine gebeugtere Haltung einnimmt. So zu beobachten in der Vidmar 2 des Konzert Theater Bern, wo gerade “Island” von Gornaya geprobt wird.

Da hüpft er noch frei herum: David Berger auf der Probe zu “Island”

Gefesselt werden soll der Schauspieler David Berger, und zwar von nicht weniger als drei weiteren Ensemblemitgliedern. Florentine Krafft sitzt auf seinen Beinen, Diesen Beitrag weiterlesen »

Bern auf Probe: ¡qué calor!

Anna Papst am Mittwoch den 13. September 2017

Ostermundigen liegt in den Tropen. Davon kann sich überzeugen, wer spätnachmittags im Spätsommer auf dem schwarzen Ledersofa im Studio 2 der Tanzschule Danceorama Platz nimmt. An der Decke verrichten vier Ventilatoren träge ihren Dienst, der darin besteht, die feucht-warme Luft im Kreis herum zu schieben und gleichzeitig die vom eigenen Motor abgesonderte Hitze hinzuzufügen. Die Sonne knallt durch die ganzseitige Fensterfront, aus den aufgehängten Boxen schmachtet Ricky Martin in einer gefühlten Lautstärke von 100 Dezibel “She bangs”. Den Zimmerpflanzen scheint es zu gefallen: Drachenbaum, Bananenstaude und Areca Palme gedeihen prächtig und auch der Frauenhaarfarn dürfte angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit auf seine Kosten kommen. Dass man sich in diesem Quasi-Gewächshaus dennoch aufwärmt, um sich bei der anschliessenden Tanzprobe nicht zu verletzen, zeugt von der Hingabe und Disziplin des hier trainierenden Paares: Corina Masciadri und Marc Aeschlimann sind vierfache Berner Meister im Latin Dance und wollen am kommenden Samstag an den Offenen Berner Tanzmeisterschaften in Schwarzenburg den Titel verteidigen.

Im Danceorama in Ostermundigen gedeihen Pflanzen und Körperbeherrschung

Es folgt “Bamboleo” von den Gipsy Kings, auch bei der Musikwahl des Warm-Up bleibt man dem Latin-Genre treu. Während Corina zwanzig Hampelmänner macht, stemmt Marc dreissig Liegestützen, während er 30 Sekunden in der Liegestützposition an Ort joggt, hält sie sich die gesamte Zeit im “Brett”. Nach 10 Minuten schinden sind die beiden nicht nur aufgewärmt, sondern schweissbedeckt – und die eigentliche Probe hat noch gar nicht begonnen. Diesen Beitrag weiterlesen »

«Voi ma non poi»

Gisela Feuz am Donnerstag den 17. August 2017

Alle sind sie parat für die grosse Show, die Zirkusband schmetter gutgelaunt eine lüpfige Nummer über die Brache, bloss einer verschanzt sich ängstlich hinter dem Vorhang und will so gar nicht ins Rampenlicht. Angst spielen liege ihm, sagt Ivan Georgiev. Der 32-jährige Schauspieler und Teatro-Dimitri-Absolvent ist dieses Jahr das erste Mal mit dem Zirkus Chnopf  unterwegs, der zur Zeit auf der Warmbächlibrache gastiert und dort sein neustes Programm «Panik» zeigt. Angst spielen kann er tatsächlich, ist es doch nicht nur für Kinder höchst amüsant, Georgiev dabei zuzuschauen, wie er den furchtsamen Clown mimt, dessen Angstattacken ihn in allerlei missliche Lagen manöverieren. (Kostprobe gibts hier.)

Wie jedes Jahr lotet der Zirkus Chnopf, diese familiäre farbenfrohe Zirkus-Institution, die bereits seit 27 Jahren mit ihren Wohnwagen durch die Lande tingelt, in seiner künstlerischen Arbeit ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema aus. Spielerisch und mit viel Humor wird dieses Mal die Frage aufgegriffen, wie es mit den unterschiedlichen Arten von Ängsten umzugehen gilt, wie diese in Frustratrion oder Wut umschlagen können, und wie verletzlich eine Seele doch wird, wenn die zugehörige Person stets nur scheitert.

Die Geschichte rund um den ängstlichen Clown und die schöne Seiltänzerin wird mit Hilfe von Artistik, Theater und viel Live-Musik erzählt. Diabolos und Menschen fliegen ungefähr gleich hoch durch die Luft, vergnüglich überspitzte Balzkämpfe erinnern an Wrestling-Einlagen und mit viel Slapstick wird genüsslich absurde Komik erzeugt. Dabei reicht den insgesamt 10 Artist*innen (davon 5 Jungartist*innen mit Jahregang 1997 oder jünger) oftmals der eigene Körper als Mittel zum Ausdruck.

Die Atmosphäre, welche der alternative Kleinzirkus Chnopf auf der Warmbächlibrache kreiert, ist charmant, behaglich und ungezwungen. Ausserdem dürfte ein Besuch im Chnopf auch um einiges günstiger ausfallen, als einer beim grossen Bruder auf der Allmend – beim Chnopf wird am Ende der Vorstellung Hutgeld gesammelt. Allerdings dürfte nach der Begutachtung von «Panik» dem einen oder anderen Elternteil die eigene Jungmannschaft ordentlich in den Ohren liegen, dass jetzt unbedingt und auf der Stelle ein Trampolin angeschafft werden müsse. In diesem Fall halten sie es doch mit dem ängstlichen Clown und sagen sie ganz einfach «voi ma non poi»*.

Der Zirkus Chnopf  ist noch am Freitag 19:30 (mit Konzert von Los Hermanos Perdidos), Samstag 16:30 und 19:30 und Sonntag 16:30 auf der Warmbächlibrache zu sehen.

*Bevor Sie die Sprachpolizei verständigen:  Ihm sei sehr wohl bewusst, dass es eigentlich «voglio man non posso» heissen würde, sagte der ängstliche Clown alias Ivan Georgiev. Aber was klingt besser, he? Eben.

 

Wir, die Willkommenen

Milena Krstic am Samstag den 3. Juni 2017

Eigentlich wäre das ja total mein Ding, so von der Machart her: Eine Reise in den Kongo tun, dort ein paar Leute zusammentrommeln und in der Schweiz ein Theaterstück präsentieren.

Genau das tat er nämlich, The bianca Story Frontmann und Hausautor bei KTB, Elia Rediger. Seine Eltern waren Missionare im Kongo, dort wurde er geboren und dorthin also ist er zurückgekehrt, um sich Inspirationen für ein neues Stück zu holen. Das Endprodukt heisst «Oh Boyoma» und gestern war Premiere in der Heitere Fahne.

Es bringt nichts, wenn ich jetzt hier eine Rezension vom Zaun reisse (aber so ganz ohne komme ich hier nicht weg), meine geschätzte Kollegin und Busenfreundin Gisela Feuz hat alles schon gesagt und für unser Mutterschiff rezensiert: Am Anfang war das alles bezirzend, dieser angedeutete Urwald aus Lianen, die wundertollen Kostüme und der Geschichtenerzähl-Modus, den ich sehr zu schätzen weiss. Aber so ab einer Stunde dreissig türmte sich eine gute Idee auf die nächste, ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand und musste dringend auf Toilette.

Mir gefiel das wirklich, diese Theorie, die Rediger da aufgestellt hatte, dass wir aus Europa nach Afrika reisen und dort die Bienvenues, die Willkommenen sind, weil uns nicht das Leid dorthin treibt, sondern eine Wohlstands-Abenteuerlust. Welch Potential! Aber das wurde erstickt in einem Zuviel an allem, ein Ende reihte sich ans nächste und ich hoffte leise verärgert vor mich hin, es möge zu einer Erlösung kommen. Oh, Boyoma!

Ich hätte mir so sehr einen tropenfiebrigen Zustand gewünscht, fühlte ich mich doch anfänglich an meine Zeit mit «Hundert Jahre Einsamkeit», dem Roman von Gabriel García Márquez, erinnert: die Schwüle, dieses Migräneklima, die Verheissung einer Stadt ohne Namen, direkt an einem Fluss, wo die Grillen ihre Beinchen aneinander reiben und man besser noch bei der Tropenärztin einen Termin vereinbart, bevor die Reise angetreten wird.

Oh, und suchen Sie ein Buch für die Sommerferien? Gönnen Sie sich «Hundert Jahre Einsamkeit», dieses Ungetüm von Roman, so üppig voll von brutaler Poesie. Es hat übrigens auch den schönsten Original-Buchumschlag ever.

Oh Boyoma läuft noch bis am 16. Juni in der Heitere Fahne.