Archiv für die Kategorie ‘Postkarte’

#notBrooklyn – Postkarte aus Izhevsk

Clemens Kuratle am Dienstag den 23. Oktober 2018

Unser Autor war auf Russlandtour und ist heil zurück. Die Postkarte brauchte etwas länger. Viel Liebe aus Izhevsk, Udmurtien.

Die gestaute Isch.

Ein letztes Selfie mit dem Busfahrer und jetzt sind wir hier in der Stadt welche, neben den besten Pelmeni (eine Kreuzung von Ravioli und den ach so hippen Momos) auch die Kalaschnikow zu verantworten haben. Doch halt: Der Erfinder war ein Russe, kein Udmurte, wie uns erklärt wird. Das Waldvolk mit finn-ugrischen Wurzeln sei friedliebend und pflegt auch heute noch zum Teil einen naturverbundenen, wenn auch urbanen Animismus.

Die Moskauer waren noch skeptisch als wir ihnen von dieser Touretappe erzählt hatten, aber Sascha unser Gastgeber hier meint: “Forget about Moscow, something magic is happening here!”
Die Magie erklärt er später, seien Initiativen der Einwohner, die neue Zusammenarbeit von Gewerbe und Stadtverwaltung, öffentlicher Raum der mit Kultur belebt wird. Jetzt, knapp 30 Jahre nach der Perestroika, nachdem die letzten Sowjetnostalgiker die Verwaltungsapparate verlassen haben, beginnen die Einwohner zu gestalten. Ein dankbarer Ort für musikalische Experimente, viele hungrige, offene Ohren. Ein schöner Gegensatz zum übersättigten, 24/7 zugestöpselten Durchschnittshörer der Confederatio Helvetica. Eine Blase ist die Kulturoase aber auch hier. Der Durchschnittsbürger geht bei Kohldampf zu Kentucky Fried Chicken.

From Izhevsk with <3
Euer K

 

Postkarte: Ecrivez des lettres d’amour!

Roland Fischer am Donnerstag den 23. August 2018

Ich mein, wozu braucht man diese gelben Kästen denn sonst eigentlich noch heute?

Also, liebe KSB-Gemeinde, Hand aufs schöne, blutende, pumpende, schmachtende Herz: Wann habt ihr das letzte Mal einen richtigen Liebesbrief geschrieben? In ein Couvert gesteckt und in den Schlitz geworfen? Und ein wenig gezittert dabei?

Postkarte: Lowlife highlights

Roland Fischer am Mittwoch den 8. August 2018

Grüsse aus Berlin. 38 Grad. Spiegelschrift und Bodensätze.

Postkarte aus der Feuerwehrübung

Anna Papst am Freitag den 15. Juni 2018

Liebe Jessica, Liebe Gisela, Lieber Mirko, Lieber Urs, Lieber Roland, (Liebe verflossene Milena)

Ich sitze gerade in der Alten Reithalle Aarau zwischen Feuerwehrschläuchen und Rauchmaschinen. In wenigen Stunden wird hier der Ernstfall geprobt, frei nach dem Motto: “Wo andere rausrennen, rennen wir rein!”.
Und das erinnert mich doch ein bisschen an die KSB Crew und ihre Berichterstattung in der Hauptstadt. Die motzt, wo andere die Klappe halten, die nachbohrt, wo andere wegschauen und die hingeht, wo andere fernbleiben. Die mögliche Überreaktionen im Frauenraum genauso thematisiert, wie ein sexistisches Video vom allseits beliebten Trauffer und  überteuerte Vernetzungsanlässe. Die auch mal ein Feuer entfacht, anstatt immer nur Brände zu löschen. Die, wenn es nötig ist, den Stinkefinger zeigt anstatt das Peace Zeichen, das aber mit soviel aufrichtiger Liebe zu Stätte und Städtern, dass einem als Aargauzürcherin ganz warm ums Herz wird. So wünsche ich mir, dass ihr Bern erhalten bleibt, als Brandsatz und Rettungsdecke, als Alarmsirene und Sauerstofftank. C’était un plaisir!

Selbstloser Einsatz für die Allgemeinheit, wo gibt es das noch? Bei der KSB Crew.

Die Lenzburgerin Anna Papst arbeitete für ein Jahr als Hausautorin am Konzert Theater Bern. Dieses vorübergehende Asyl nutzte sie, um die lokalen Probegepflogenheiten auszukundschaften. Dies ist ihr letzter Beitrag.

Postkarte aus Jesolo

Anna Papst am Donnerstag den 10. Mai 2018

Stell dir vor, es ist Massentourismus, und keiner geht hin

Lido di Jesolo, das heisst von 1. Juni bis 1. September: Hier liegt man Tuch an Tuch. Bikinischönheiten sonnen sich neben Seniorenplauzen, tätowierte Bodybuilder bauen mit ihren gepiercten Kleinkindern  Sandburgen, Grosis spielen mit halbwüchsigen Schnauzträgern Softball.

Mitte Mai ist trotz herannahendem Feiertag und angekündigtem Stau Richtung Süden kein Schwein am Strand. Hunderte von aufgestellten Sonnenschirmen bleiben unbenützt, in der einen bereits geöffneten Gelateria steht niemand Schlange, die einzigen Spuren im Sand sind die eigenen. Jesolos Hauptsaisonhauptsprache ist Deutsch in allen Schattierungen: Hier wird Platt geredet, gesächselt, berlinert oder schaffhausert, dass einem die Ohren klingeln. Zur Zeit ist es ruhig; wenn man doch einmal einen anderen Menschen vernimmt, parliert er in weichem Italienisch.

Weil kaum Touristen da sind, hat nichts geöffnet: Der Spielsalon so wenig wie die Ortsdisko oder der Vergnügungspark. Nach 21 Uhr fährt kein ÖV mehr. Das Wasser im Swimmingpool wurde abgelassen. Ein öffentliches Wi-Fi ist für die digitale Ablenkung vorgesehen, seine Leistung bricht jedoch nach 30 Sekunden Betrieb zusammen. Der Aushang des Internetcafés lautet: Geschlossen bis 2. Juni. Aus der massentouristischen Traumdestination ist ein Ort geworden, an dem Alternativreisende auf der Suche nach Entschleunigung fündig werden können.

Ich suche mir eine der schier unzähligen freien Liegen aus und lese den ersten Satz meiner 800-Seiten-Lektüre. Unterbrochen werde ich in den kommenden acht Stunden garantiert durch nichts und niemanden. Es lebe die Nebensaison!

 

Postkarte aus Fränwilje-Tobenlosch

Anna Papst am Mittwoch den 28. Februar 2018

Der wunderschöne Erdenfleck ist bilingue und wir sind es auch: Wir diesjährigen Autor*innen des Stück Labors haben uns für eine Schreibretraite im Gasthaus “Des Gorges” in Frinvillier-Taubenloch, ja, eingenistet, und erzählen auf Französisch und Deutsch von poststrukturalistischen Soldaten und gefallenen Kosmonauten, von gebrochenen Verbrechern und Löchern in der Wirklichkeit.

Innerhalb der nächsten zehn Monate werden unsere Stücke in Basel, Bern und Genf uraufgeführt werden, aber noch befinden wir uns in der Autorenblase, in der jede Änderung nur eine Backspacetaste entfernt ist. Wenn der Kopf zu voll und der Magen zu leer ist, fallen wir dreimal um und landen bei Juri im Restaurant. Vier Wildschweinwürste später rattert die Gedankenmaschine wieder, es klappert die Tastatur. “Schreiben ist eine einsame Tätigkeit”, lautet gefühlt jede zweite Überschrift eines Interviews mit einem*r Autor*in. Schön, dass wir an diesem einsamen Ort zu viert sind.

Taubenlochschlucht (schönes Wort)

Im Gasthaus “Des Gorges” kann man fantastisch essen und tief schlafen

Im Stück Labor wird Gegenwartsdramatik gebraut

Postkarten aus Leukerbad

Urs Rihs am Freitag den 26. Januar 2018

Ich sitz da in diesem dampfenden Dorf fest, eingekesselt von meterhohen Schneewänden und hunderte Meter hohen Felstürmen.

Bedrohlichschön hier und bizarr aus der Zeit gefallen alles.
Gewürfelte Architektur – neoklassizistischer Kitsch aus spiegelglattpoliertem Marmor, neben brutalistisch anmutenden Betonruinen, neben schwarzgebrannten Holzhäuschen aus der Urzeit, neben Konfektionsferienchalets in XXL.

Was halt in den Alpen so rumsteht, historische Dorfkerne erweitert um die Wucherungen des Siebzigerjahre Baubooms.
Plus, speziell Leukerbad, die üblen Nachwirkungen eines in den Neunzigern völlig wild gewordenen Dorfkönigs, der die Gemeindekasse auf dem Gipfel seiner Hybris durch einen Schuldenberg von 350 Millionen – verursacht vor allem durch irrsinnige Luxusbauten – implodieren liess. Story been told. Aber auch eine ästhetische Hypothek.

Brutalismus(?) im Skigebiet – gefällt vom Sessel aus.

Konfektionschalet XXL mit Felsturm im Hintergrund.

Herumlaufen hier ist wie das Wandeln in einer riesigen Kulisse. Leukerbad Kolorit. Der Reiz des Pompösen neben dem des Kaputten und Leeren – Viel Verheissung und viel Projektionsfläche, flankiert von einer Angst aber, die gesamte Szenerie könnte bei der nächsten Staublawine einstürzen und dem Erdboden gleichgemacht werden.

Neben dem Spazieren gönn ich mir darum Bäder in den Thermen, solange alles noch steht und lese dazu «Stranger in The Village» von James Baldwin. Der Meister hat diesen Essay – Pflichtlektüre und Grundstein zum kritischen Weisssein – 1953 hier geschrieben und dem Dorf somit den kulturhistorischen Höhepunkt der letzten hundert Jahre verschafft. Nebst dem Erhalt der Bäder natürlich, den haben die BadnerInnen trotz Vollpleite 1A hingekriegt.

Mehr von mir, wenn zurück in der grossen Siedlung, bis dahin Tschaui, der Urs

Das dampfende Dorf.

Die Prunkbauten der späten 90er – das Stigma Leukerbads bis heute.