Archiv für die Kategorie ‘Klatsch & Spott’

Genossen №6: Eminem

Mirko Schwab am Mittwoch den 16. November 2016

Sind es die Tramadoltröpfchen oder ist eben gerade … Grosse Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gehen im «3 Eidgenossen» eins ziehen. Heute: Marshall Mathers battlet doch.

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Auch einer, der die 8 Meilen schon hinter sich hat, muss sich bei den 3 Eidgenossen noch beweisen.

Lueg, wenn du einen Schuss hättest
oder eine Gelegenheit, mit einem Moment alles zu greifen, was du je haben wolltest –
würdest du es packen oder alles schleifen lassen?

Ich sitze, wo ich immer sitze und trinke, was ich immer trinke. In dieser Beiz bleibt alles gleich, auch wenn die Welt sich übergibt. Die Europäische Union könnte auseinanderbrechen (dringendste Frage: Was passierte mit bereits gelösten Interrail-Pässen?), dieses Blog könnte eingestellt werden (dringendste Frage: wohin mit all dem Geld?) oder irgendein Oligarch zum mächtigsten Mann der Welt gewählt werden (dringendste Frage: … the fuck?) – die Stange im 3 Eidgenossen bliebe, was sie immer schon war, die Jukebox spielte, was sie immer schon tat und die Runde bespräche, was sie immer schon beschäftigte. Also Stadtpolitik.

Ursula «Willary» Wyss, Verkörperin der alten Ordnung, des netten rotgrünen Establishments? Die wutbürgerlichen Herausforderer? The Erich, abgetan als Clown und jetzt bereit zur grossen Machtübernahme, ganz in der Tradition weltweiter Nostalgiegelüste nach schlechtfrisierten Faschos? Wird der Mattenhof entscheiden als Swing-Quartier? Oder der Rüst-Belt – agglonahe, um den eigenen Mittelstand bangende Stadtteile, wo es noch Hausfrauen gibt, die die Küche alleine schmeissen müssen? Oder doch die Burger? Weil die immerhin noch wissen, wie man diese alte, knarrende Stadt regiert in liebgemeinter Aristokratie?

Und so hör ich mich etwas um und übersehe, wie dieser unscheinbare blasse Junge zur Tür hineintritt. Die hochgezogene Kapuze des mit reichlich Marge getragenen Pullovers wirft einen Schatten über sein Gesicht, das ich erst dann erkenne, als es schon vor mir aufgeht wie ein bleicher, freundlicher Supermond. Will er battlen? Und: Würde ich zupacken oder alles schleifen lassen?

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Genossen №5: Thom Yorke

Mirko Schwab am Mittwoch den 2. November 2016

Sind es die Tramadoltröpfchen oder ist eben gerade … Grosse Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gehen im «3 Eidgenossen» eins ziehen. Heute: Thom Yorke feiert die Schweizer Szene.

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Thom Yorke hört ausschliesslich Schweizer Popmusik, der kleine Dieb.

Unten ist voll. Und weil ich heute grad keinen Bock habe auf solche vollen Gespräche über die Lage der Nation, über Wahlen («die Österreicher, die machens halt schlechter») und den erlahmenden Wintertourismus («die Österreicher, die machens halt besser») ziehe ich mich ins Fumoir zurück. Das Fumoir bei den Eidgenossen ist das letzte Refugium in dieser plappernden Welt. Eine Oase für Herz, Kopf und Lunge. Den Billardtisch bespielt man konzentriert und also meist schweigend, die Jukebox an der Wand tut das übrige: übertönt Witz und Geistesblitz der Leute mit Hitz und Shitz von gestern und heute. Ich werfe eine Handvoll Münzen ein und streife durch die Auswahl. Bei «Campari Soda» von Taxi bleibe ich hängen und kehre zurück an mein Tischchen, wo mein Kaffee vor sich hinfriert. Der Ventilator summt leise.

Mitten im Saxophonsolo öffnet sich die Tür und einer setzt sich hin, ein schmächtiger Typ mit fädigem Haar. Aus blödem Reflex fingere ich in meiner Hosentasche etwas Kleingeld zusammen. Er zwinkert mir durch den Raum zu, ich starre leer zurück. Ein paar Minuten lang geht das so. Und als er immer noch zu zwinkern scheint, merke ich, dass es Thom Yorke sein muss, winke ihn zu mir herüber – Zeit für ein kleines Interview, Brudi, das packst du, ist ja nur einer der besten lebenden Songschreiber und nicht zu sehr aufs Auge starren.

Soll ich den Stecker der Jukebox ziehen? Ist immer so laut, das tötet ja jedes Gespräch …

Auf keinen Fall – I love this song! Weisst du, als ich meinen ersten Hit schrieb, habe ich dieses Lied zwanzigmal am Tag gehört. Es gibt sogar Leute, die behaupten, dass man das höre. Grosser Unfug natürlich, ein wahrer Künstler schöpft zunächst aus sich selbst. But I definitively love this Song. Und sowieso bin ich obsessed mit Musik aus der Schweiz.

Du hörst Schweizer Musik?

Eigentlich nur. Kennst du Gölä?

G …?

Kleiner Scherz, just joking, mate. Aber es gibt wirklich viel verdammt gute Künstler hier bei euch. In England und Amerika wollen eigentlich alle nur klingen wie Radiohead, but this is obviously not gonna work. Aber ihr habt eben nur ein shitty radio (SRF3, Behauptung der Red.), so you are using your own heads – get it?

Joa. Weil wir die gute internationale Popmusik nicht kennen (Radio zum Glück!), machen wir halt eigene. Aber die Isländer, Österreicher, Schweden, die machen Pop aus Kleinstaaten im Grossformat. Aber wir?

Ach, weiss du was: die Isländer haben ja wohl vor allem Björk, die geht mir auf den Sack. Aus Österreich ists mir immer ein bisschen zu funky und die Schweden leiden am «ABBA-Gen». Sooner or later klingt jeder Song nach ABBA, spätestens im Refrain wollen die nen Gassenhauer schreiben, aber das haut nicht hin. Nein, trust me, to swiss pop music belongs the future.

Wenn du meinst. Dann mach mal ne kleine Thom Yorke’s Finest-Playlist für einen Tag, damit sich unsere Leserschaft was darunter vorstellen kann.

Okay, ich stehe früh auf und mach Kaffee, manchmal rufe ich einen alten Freund an und frage, was ihn gerade bewegt im Leben, zupfe was aus der Gitarre, wenns ihm gut geht oder schlecht, alles Gute wünsch ich ihm. Und les Zeitung, Europa im Taumel, wann hat eigentlich alles angefangen, so schief zu laufen? Sollten wir besser den Laden dicht machen und aufbrechen zu neuen Planeten, zum Mars? Is this the modern age? Das macht mich trüb. Und so sehe ich nach meiner Frau und tanze mit ihr durchs Wohnzimmer, sage ihr, dass ich sie liebe, mehr als sonst jemanden. Ich muss bald los, Dämmerung, als läge die Stadt unter einem violetten Trichter, ich irre durch die Strassen. Als ich ankomme, hängt schon der Mond und ich lass mich ein auf diesen Tanz mit Fremden, die grosse Flucht. Something like that?

Nice. Vielen Dank für die Empfehlungen. So klingt das also in der Schweiz.

(Wir geben uns noch ein paarmal «Campari Soda» und schliesslich gesteht er, dass er die Harmonien wirklich geklaut hat. Ein feiner Herr.)

Genossen №3: Lenin

Mirko Schwab am Freitag den 14. Oktober 2016

Sind es die Tramadoltröpfchen oder ist eben gerade … Grosse Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gehen im «3 Eidgenossen» eins ziehen. Heute: Lenin kollektiviert.

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Das Erinnerungsfoto. Lenin bevorzugt Schwarzweiss, wegen des Teints und überhaupt finde er dieses Technicolor-Zeugs «imperialistischen Hippie-Kram.» Die Aufforderung, sich ganz natürlich zu geben, quittiert er mit der abgebildeten Pose.

Draussen Nieselregen, drinnen reges Niesen. Eine verschnupfte Bar sitzt über ihrem Tee-Rum und lüpft sich die Laune mit Gesprächen über die Young Boys oder den Islamischen Staat. Mein Kaffee ist erkaltet und als ich so bei mir über die metaphorische Bedeutung kalten Kaffees nachdenke, platzt er herein mit einem türaufreisserischen Knall. Lenin. The boy is back in town.

Etwas inszeniert und als hätte er sich schon beim Velo-Anketten darauf gefreut, durchschneidet er die Bar mit strammem Schritt. Den Blick hält er hoch, sodass der Spitzbart immer waagrecht zum Boden nach vorne weist. Vorwärts! In die Zukunft! Zur Toilette. Bei den Eidgenossen bricht sich solcherlei geckenhaftes Gebaren eben schnell am bodenständigen Spuntenalltag, am Ende der Stube ist nichts anderes als das Scheisshaus. Der alte Haudegen aber macht kehrt, fräst noch einmal durch den Raum und verschwindet nach dem Fumoir in der oberen Etage. Einer mit Mission, denke ich, und noch ehe ich mich mit dem Spuderschluck anfreunden kann, baut er sich schon wieder im Parterre auf. Fertig Visite, er klettert auf einen Tisch und holt aus: «Genossen! Ich habe mich umgesehen und muss euch befreien! Hört mich an: Nur die Oberen dürfen rauchen, Billard spielen und ihre eigene Musik! Ihr aber, ihr lasst euch knechten auf dem Niveau der Gosse! Und die Grundbesitzer machen euch taub und tumb mit dem Alkohol, den sie euch auch noch verkaufen!» Oha.

Der Applaus bleibt aus und einer murmelt, der Alte solle die Milch mal ein wenig runtergeben. Sichtlich irritiert steigt Lenin wieder herab von seiner provisorischen Bühne, der Spitzbart zeigt jetzt auf die Brust. Da, wo es einen schmerzt, wenn keine Sau zuhört. Und wohl weil ich als einziger der Showeinlage ein bisschen Beachtung gewidmet habe, setzt er sich zu mir. Natürlich bitte ich ihn um ein Interview. Er schüttelt den Kopf und sagt, er stelle die Fragen. Wie ich also heisse, aha Mirko, aber nein, ich sei nicht slavischer Abstammung, Modename halt. Nein, mein Vater und auch mein Grossvater hätten auch nicht so geheissen.

In welcher Fabrik arbeitest du, Miroslav?

Fabrik?! Ich schreibe für «KulturStattBern», ein Blog (wie soll ich ihm das bloss andrehen?) ein Organ zur Aufkärung des Volkes, jawohl.

Wieviel verdienst du, Miroslav?

In der Schweiz reden wir nicht über Geld … Ja gut, es ist nicht sehr viel – aber es macht Spass. Und ist es nicht das, was zählt, Vladi?

Nein. Und nenn mich nicht Vladi. Wieviel verdient dein Chef?

Es gibt zwei. Frau Feuz, also die verdient nicht mehr als ich. (Sozialistisches High-Five?) Und oben im Verlag, in Zürich, da verdienen sie schon mehr, haben aber auch mehr Stress und so. Wegen Clickbaiting und so. Und wieso darf ich dich eigentlich nicht Vladi nennen – du heisst ja gar nicht wirklich Lenin, Mr. Владимир Ильич Ульянов! Wieso nennst du dich überhaupt Lenin?

Weisst du wie Falco eigentlich heisst? Johann Hölzel. Also. Ich muss jetzt weiter, muss mir diesen Tamawda-Verlag ansehen. Rechne mit der Befreiung, Miroslav! Aus den lodernden Flammen wird ein neuen Haus entstehen, ein Verlag der Arbeiter, des Volkes! Und diese Frau Feuz, die nehm ich gleich mit. Macht ihr doch heute so, dass Frauen auch Politik machen dürfen, oder?

Ja.

Geilo.

Genossen №2: Sophie Hunger

Mirko Schwab am Freitag den 23. September 2016

Sind es die Tramadoltröpfchen oder ist eben gerade … Grosse Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gehen im «3 Eidgenossen» eins ziehen. Heute: Sophie Hunger lädt alle ein.

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Der ganzen Scheisse zweidrei graziöse Schritte voraus: Sophie Hunger.

Das Wetter. Sometimes it’s bad, sometimes it’s better und manchmal hagelt es Scheisse. Sophie Hunger tritt zur Tür ein, stabil klassisch, anmutig, eine kindliche Neugier in den wachen Augen, da prasselt der Shitstorm mit voller Wucht und aus heiterem Himmel auf die Bsetzisteine der Rathausgasse herab. Tausend aufgeplatzte Haufen. Einige Touristen machen angewidert Fotos aus Reflex und Bern Tourismus wird sich am späteren Nachmittag per Twitter einschalten, das habe eben mit dem authentischen UNESCO-Mittelaltererlebnis zu tun, all die Kacke auf den Gassen.

Aber ihr macht das nichts aus, sie dreht sich nicht einmal um. Stattdessen steht sie plötzlich vor mir. Ich lege lässig meinen Nietzsche zur Seite und lächle sie an. Ich leere nachlässig meinen kalten Kaffee über den aufgeschlagenen Bernerbär und merke, dass der immerhin saugt, wahrscheinlich, weil nichts drin steht, und lächle gequält. Sie hat Taschentuch und wir kommen ins Gespräch.

Du hast vor etwa einer Woche den hochdotierten Schweizer Musikpreis gewonnen, darob waren nicht alle glücklich. Am lautesten die Unglücklichen. Wie fühlt es sich an, im Shitstorm zu wandern?

Selstam. Vor allem, dass sich so viele Menschen dazu eine Meinung leisten. Ich immerhin könnte das jetzt, mit hundert Kisten im Rücken. Läuft bei mir. Aber bei denen?

Du spielst auf Lautsprecher wie Chris von Rohr oder Polo Hofer an.

Wer soll das sein?

Berechtigte Frage. Was hast du jetzt vor mit all dem Geld?

(Nachdenklich.) Ich kann jetzt endlich machen, was ich will. All die Jahre Kammerpop, all die wohltemperierten Arrangements und doppelbödigen Texte, Jazzfestivals … Ich hab die Nase voll von diesem Kulturbürgerzeug. Mein Publikum könnte meine Eltern sein. Wobei, dein Publikum ist ja immer irgendwie die Mutter des Erfolgs ..

… du schweifst ab.

Wie gesagt mach ich jetzt nur noch, was ich wirklich will. Ein Trap-Album etwa. Das liegt mir schon lange am Herzen. Ich brauche noch einen neuen Namen fürs Projekt, «$$$ophie» fänd ich ganz geil oder «Diplomatentochta». (Beginnt zu singen im Stil zeitgenössischen Raps.) «100K in der Tasche-e – zünde mir Joint mit Geldschein an, ah – Und Du frisst immer noch Spaghetti mit Spinat, Digga.»

Aha. Fairerweise muss man sagen: Viele MusikerIinnen haben sich auch schützend hinter dich – oder vor dich? Keine Ahnung … Jedenfalls war da auch Solidarität herum.

Korrekt.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Ob wir einen saufen sollen. Sie bestellt sich Büffelgras-Vodka. «EY, WER WILL EINEN SAUFEN?» Dann steht sie auf den Tisch und lädt die Bar ein, nein, kauft die Bar, lässt einen Giacometti Trinkgeld liegen, «eine Promille, wenn du weisst was ich meine» und verschwindet. Ich schaue ihr nach. Als sie um die Ecke biegt, höre ich die Kacke rhythmisch prasseln.

Genossen №1: Ozzy Osbourne

Mirko Schwab am Dienstag den 13. September 2016

Sind es die Tramadoltröpfchen oder ist eben gerade … Grosse Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gehen im «3 Eidgenossen» eins ziehen. Heute: Ozzy Osbourne bestellt ein Gazosa.

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Noch schnell eine Zig für Ozzy Zig? Der Fürst der Finsternis in flagranti.

Ich überwinde mich gerade zum letzten abgekalteten Schluck Kaffee, als er hereinhumpelt. Die Sonnenbrille sitzt und der Stammtisch bleibt sitzen. Ich scheine der einzige zu sein, der ihn bemerkt hat – das Gespräch am Nebentisch plätschert weiter: Dass Hene Pech habe mit dem Leben, schwarzer Samstag halt, lachenhusten und jetzt noch der vom Betreibungsamt. Ozzy indes muss wohl auf Toilette. Er streift auf geradem Weg durch die Stube und fädelt rechts ein nach dem Herrenklo.

Zeit zu überlegen, wie ich mit dem Fürst der Finsternis ins Gespräch treten soll. Übungshalber forme ich mit den Fingern eine gehörnte Hand und schlage die Zunge zwischen den Zahnreihen diabolisch auf und ab. Oder ich könnte mich ein bisschen an einem Haustier vergehen und ihm einen niedlichen, blutigen Tierkopf als Opfer bereiten? Der einzige Hund im Raum ist dann doch etwas stämmig für solcherlei. Oder lieber einen ausgeben? Hey Ozz’, Bloody Mary, Thema? Und dann ansetzen zum grossen Interview, Bloggeschichte schreiben. Ich im Hoch und er lässt tief blicken. Und die Leute so: «Schon gehört, dieser Schwab, hat mit dem Sänger von Iron Maiden …»

Spülung, Ächzen. Bleich und gemütlich mischt er sich wieder in die Szenerie. Noch dreivier Schritte, Herzklopfen, Schweisstropfen … Ich nuschle «Tschou du», aber er zieht an mir vorbei und hängt sich an den Tresen. Den auffordernd-gelangweilten Blick der Bedienung erwidert er mit einem geschrienen «Lemonade!» Dann packt er die Glasflasche untern Arm und schiebt sich Richtung Ausgang. Dass er auch später zahlen könne, das hat er wohl nicht mehr gehört und ein kalter Friedhofswind weht noch durch die Bar.

Wie ein Rössli aus der Asche

Mirko Schwab am Donnerstag den 4. August 2016

Das Stadttheater ist am Ende! Sie denken jetzt bestimmt an den sympathischen Klotz auf dem Waisenhausplatz, messieurs dames – aber die Rede ist von einem Haus mit Ecken und Kanten mehr. Die Reitschule macht heut den Laden wieder auf und hat nebenbei sämtliche gesellschaftlichen Probleme aus der Welt geschafft. Alle Neuerungen in der exklusiven KSB-Übersicht.

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Einen knappen Monat gaben sie sich Zeit im alten Pferdestall, auszumisten, einzurenken, durchzulüften. Manch einer hat die chaotischen Zustände beinahe vergessen, die vor dem selbstverordneten Time-Out das Volk auf Trab gehalten, wehrlose Tele Bärn-Praktikanten durch die Gefahrenzone gepeitscht und ein ungezügeltes mediales Überschäumnis provoziert haben. Wir liefern deshalb die Ausgangssituation mit und beleuchten die Hintergründe, vor denen dieser Neuanfang zu bewerten ist.

KulturStattBrenn: Mit Konzerten, Kino und Kost gegen den Terror

Vor der Reform: Die Reitschule gleicht einer Stadtwüste. Ausser ein paar abgegammelten Jugendlichen ohne Perspektiven wagt sich keine Menschenseele auf den Vorplatz. Im Innern der Festung: von Kultur keine Spur. Im Infoladen wird die Bibel verbrannt, das Dojo bildet in Stadtguerilla aus. Einzig aus der Cafete ist Musik zu hören, leider Goa. Kein schöner Anblick.

Damit ist nun Schluss. Erstmalig sollen die Räumlichkeiten für kulturelle Zwecke genutzt werden, im Dachstock sind Darbietungen verstärkter Musikgruppen geplant, darüberhinaus ein Kinematografentheater mit Leinwand an der Stelle, wo jahrzehntelang desilussionierte Aktivist_innen gegen die nackte Wand gestarrt haben. Flohmarkt, Tanztheater und ein Restaurationsbetrieb runden das gefreute Angebot ab.

Systemüberholung: Frauenstimmrecht und Demokratie jetzt!

Vor der Reform: Es gilt das Gesetz des Stärkeren, Pfefferspray zerstreut scharfsinnige Kritik, diskutiert wird, wenn je, in skandierten Halbsätzen und schreihalsiger! Interpunktion. Frauen und Minderheiten ziehen sich in einen eigenen Panikraum zurück.

Das hat jetzt ein Ende. Eine Delegation fortschrittlicher Reischüler_innen hat sich durch den unterirdischen Geheimschacht ins Bundeshaus geschlichen, um beim Anblick einer Parlamentssession einmal so richtig mitzuschneiden, wie Demokratie und Gesprächskultur funktionieren. Die Reitschule wird in der Folge fix in eine Handvoll verfeindeter Kleinstgruppen aufgesplittert, die möglichst aneinander vorbeizureden haben, aber wenigstens mit Rednerpult. Wer nicht dran ist, soll sich den Beobachtungen im föderalen Palast zufolge seinen privaten Korrespondenzen widmen oder am Online-Feed gütlich tun. Frauen und Minderheiten dürfen mitreden, werden aber meistens überstimmt.
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Ceci n’est pas un Volksfest

Mirko Schwab am Mittwoch den 20. Juli 2016

Eine Stadt dreht am Rad, messieur dames! Es ist beinahe rührend, wie es durch alle Mediengattungen tönt und von Tele Bärn bis France 2 unisono ein sportliches Volksfest (angenehmer wenigstens als ein völkisches Sportfest) besungen wird. Gut, schon wieder ein Ereignis internationaler Bedeutung in unserer Hauptstadt – da kann man sich schonmal den Kopf verdrehen lassen. Dem ganzen Schwindel trutzend einmal mehr: KulturStattBern. Der Enthüllungsbericht.

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Aber was hat eine denkbar unspektakuläre Ra(n)dsportart im Kulturblog Ihres Vertrauens verloren? Sie werden es kaum glauben: Das war nie Sport! Die Fakten zur grössten Strassen-Performance je – sie sprechen für sich.

Die Tarnung de Farce:
Von langer Hand geplant! Seit 1903 (Quersumme 13!) wird die Maskerade als Drahteselkaskade abgezogen, um sich schliesslich, 113 Jahre später, bei der 103. Ausgabe (10+3!) in Bern als monumentales gesellschaftskritisches Kunstwerk zu offenbaren.

Die Tarnung vor Ort:
Wo der Zirkus hält, wird materiell geklotzt. In rauen Mengen Töffs und Lastwagen, Polizei und Kameras, Wurst und Bier. Es soll nach einem echten Volksfest aussehen, riechen. Für skeptische Beobachter ist man gewappnet und wer sich nicht in den Massentaumel stürzen möchte, bleibt chancenlos: Trams und Busse fahren zwar als Alibi, jedoch auf völlig unbrauchbaren Routen durch den Agglokranz, Fusswege sind abgeschnitten. Den bekanntesten Verschwörungstheoretiker der Stadt, den pol(i)ternden Lastwagenfahrer E.H., haben die Verantwortlichen übrigens mit dem breiten Assortiment von Schwerstgefährten vorderhand ruhiggestellt.

Die Symbolik:
Wie immer bei grossen Kunstwerken sollte man auch hier nicht zu nah ran. Bei Monet bemerkt man entrüstet, dass alles nur Farbflecken sind, bei Mona im Louvre bleibt einem die Nahbetrachtung gar mit samtener Strenge verwehrt. Die wahre Botschaft erschliesst sich also aus der Ferne, dans la télé: Drohnen und Helikopter übermitteln die Bilder unserer Altstadt aus der Vogelperspektive. Die Strassen als Lebensadern einer Stadt werden von der pedalenden Schar verstopft, die Gefahr einer Carambolage als metaphorische Thrombose ist omnipräsent! Das Volk? Es schaut zu, ja klatscht sogar – und die Lesart des Werks ist eindeutig eine grossartige Kapitalismuskritik. Die Kreuzritter auf ihren Drahtmaschinen verkörpern die ungebremste Fortschrittshysterie, die knallbunten Leibchen gaukeln Individualismus vor, wo sich bei genauem Hinsehen doch nur die Firmenlogos schwergewichtiger Wirtschaftsplayer erkennen lassen. Die altehrwürdigen Altstadtmauern und -strassen werden vorgeführt als dem Volk entzogene soziale Räume, ein von der Wirtschaft viral vergifteter Sandsteinkörper, dem Infarkt preisgegeben. Das Volk schaut zu.

Die Gattung:
Wie kann man den Kapitalismus aufzeigen? Man lässt ihn – wörtlich – passieren. Der wahre Passant aber muss stehenbleiben und zuschauen, wird eingespannt in die Darbietung und spielt sich selbst als macht- und willenloser Gaffer. Die wichtigste Parallele zwischen einer Radsport-Etappe und der Performance ist allerdings, dass beide nur high zu ertragen sind: Hier Epo, da was Lustigeres – aber gedop(e)t sind se alle.

Der wahre Titel:
«Le Tour de France à Berne» nennen sie die List. Der eigentliche Name des Kunstwerks aber findet sich am Ende der Vorführung, im Zielbereich. Am Stadion, das die Einheimischen zwar Wankdorf, glatte Marketingkönner aber le stade de Suisse nennen. Das Stadium der Schweiz. Der Zustand der Schweiz.

Die Frage nach der Autorenschaft:
Die unheilige kommunistisch-kapitalistische Allianz Tschäppät-Rihs hat sich im Vorfeld als Initiantenpaar geriert. Unklar bleibt bisher, ob sie damit nicht einfach den wahren Strippenziehern auf den Leim gegangen sind und  denken, sie hätten gerade ein harmloses Zweirad-Seifenkistenrennen nach Bern geholt. Vermutet wird, dass im Hintergrund ein über mehrere Generationen gewachsenes französisches Untergrundkollektiv am Werk war.

Und was hat das alles mit Bern zu tun?
Die Franzosen waren nämlich schon einmal hier und haben den anciens Obrigen das Patriziat verleidet. Zeit für den zweiten Streich also. Und so haben sie sich aufgemacht, den selbstgefälligen Überdemokraten und Wirtschaftsfreunden mal ein Lied zu geigen von der menschenfeindlichen vélocité des Kapitalismus. Und zwar in der menschenüberströmten vélo-cité der Schweizer Kapitale.

Sommerbeutel mit Loch

Mirko Schwab am Donnerstag den 7. Juli 2016

Sommerloch, messieurs dames! Vielleicht planen auch Sie, der (Kultur-)hauptstadt vorübergehend den verbrannten Rücken zu kehren. Lassen Sie es bleiben. Ein paar Szenarien.

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Sie denken an einen Städtetrip. Berlin, Paris oder sogar mal raus aus Europa nach London. Die orange Fluggesellschaft bringt Sie zum Fairtrade-Preis hin. Natürlich gibts nichts schöneres, als tagsüber bei siebenunddreissig Grad sightzuseen und nachts vergeblich zu queuen vor dem In-Lokal inmitten tausend anderer Berghainis.
Bleiben Sie bei uns! Auch die Berner Clubs werden Sie nicht reinlassen, Sommerpause sei Dank. Doch Szenekenner wissen: Das Dead-End bietet ebenfalls grimmig-stiernackige Türsteher, Glückspillen in allen Farben werden hier über den Billardtisch gestüpft und was sind schon Funktion One-Lautsprecher, wenn Sie zu handverlesenen Haarspray-Metal-Hits auch gleich das Musikvideo mitgeliefert bekommen?

Sie mögen es pittoresk. Mit zwei Rössern unter dem Hintern und einer ungefilterten Gauloise im Mundwinkel bummeln Sie durch die Lavendelfelder. In Saint-irgendwas-sur-irgendwo lenken Sie ein und verscherbeln das letzte verkrümelte Euromünz an einen virtuosen Drehorgelmann, eine menschliche Silberstatue oder einen lagerfeurigen Gassenbarden.
Bleiben Sie bei uns! Auch am diesjährigen Buskers werden wieder als Strassenkünstler verkleidete Profimusiker um Ihre Gunst fideln, tröten und rasseln. Ingwerer lässt den Schädel am nächsten Tag übrigens genauso brummen wie Pastis und Intellektualität à la française finden Sie zurzeit sogar auf dem Hausberg.

Sie ruft das Meer. Da ist man gerade an den schönsten Stränden für sich (oder wenigstens unter seinesgleichen.) Wenns dann dämmert über dem Fleischmarkt, zücken Sie ihr Telefon, zeigen der Facebook-Gemeinde, wie so ein Sonnenuntergang in echt aussieht und legen sich, beglückseelt von einem guten Dutzend neidischer Likes, zu den Sandflöhen schlafen.
Bleiben Sie bei uns! Das Marzili macht zwar meistens vor der Abendröte dicht, dafür können Sie sich da statt täglich wiederholter Naturkapriolen bisweilen indisches Qualitätskino geben, die italienischen Gelati sind hier näher als der Softeisautomat in Rimini und für quasibrasilianisches Copacabana-Flair sorgt das Schaulaufen der Boys und Girls auf dem Volleymätteli.

Sie gehören zu den klassischen 1.August-Deserteuren. Nichts widert Sie mehr an als besinnliches Bierbräteln an einem historischen Zufallstag. Nichts widert Sie mehr an als Zuckerstöcke, aufgestockte Würste und stockkonservatives Süssholzgeraspel für Mutter Helvetia. Darum sind Sie geflüchtet, mit dem Wohnmobil nach Skandinavien getuckert, um auf irgendeinem Campingplatz einen zünftigen Heimweh-Frauenfurz fahren zu lassen vor dem Vaterland.
Bleiben Sie bei uns! Das No Borders, No Nations! auf der Schützenmatte bietet auch diesen Sommer wieder ein entgrenztes Vorprogramm zur Rütlirede.

Sie suchen das Fest. Schlangestehen vor lieblich hergerichteten Dixieklos, das Stelldichein von Superstars ohne Soundcheck und warmes Dosenbier – es ist Festivalzeit allenthalben! Weil Sie den Lokalkolorit in der Headliner-Programmation besonders schätzen, reisen Sie den Vierzigtonnern durch halb Europa hinterher.
Bleiben Sie bei uns! Das Gurtenfestival kommt schon bald und versprüht auch heuer und dank der gütigen Mitarbeit multinationaler Grosskonzerne wieder internationales Flair. Und die Headliner wissen genausowenig wie Sie, ob sie sich gerade in Belgien, Schweden oder der Schweiz befinden!

Vielleicht hätte er es besser an der HKB versucht?

Roland Fischer am Dienstag den 24. Mai 2016

Herrlicher Hoax! Einsteins Schlussfolgerungen seien «somewhat radical» und insgesamt «more artistic than actual physics». So schnöde soll die Uni Bern den späteren Physiksuperstar abgelehnt haben. Aber nun ja, man schaue sich das Papier mal ein wenig genauer an:

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Tatsächlich wurde Einsteins Antrag auf Habilitation 1907 an der Berner Universität zunächst abgelehnt (allerdings wohl kaum in feinstem Englisch), erst im folgenden Jahr war er damit erfolgreich und ab 1908 lehrte er dann drei Semester lang theoretische Physik, bevor er an die Uni Zürich weiterzog.

Raus aus der Puber-tät

Saskia Winkelmann am Dienstag den 23. Februar 2016

PUBeR. Wenn “taggen” wie markieren funktioniert, dann war Puber einer der mächtigen Hunde in vielen Städten in Europa.

Vor allem in Wien hatte es um den Zürcher Sprayer, dessen Schriftzug auch in Bern oft zu sehen war und ist, einen seltsamen Kult gegeben. Im Frühling 2014 waren plötzlich in der ganzen Stadt Wien “Puber”-eien aufgetaucht und die Leute schimpften über die schamlosen Schmierereien oder feierten ihn als Rebell. Verurteilt wegen Sachbeschädigung wurde er im Sommer 2015.

Ein Jahr danach gibt es nun in der Wiener Galerie Ho eine Puber-Ausstellung.
Ein guter Zeitpunkt, um wiedermal die Frage in den Raum zu stellen, was eigentlich Kunst genau ist, wo sie anfängt und wo aufhört.

Hier lesen, wie die Vernissage war.

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© Marco Leimer