Wiederum gilt (siehe hier und hier): Das Jahr ist fast zu Ende, der Plattenschrank längst aufgeräumt, der persönliche Favorit erkoren und die wertvollsten Lieder auf einem Tonträger verewigt. Kurz, es ist wieder Zeit für die Jahresfavoritenmusik der KSB-Redaktion:
Herr Sartorius: Deerhunter – Halcyon Digest
Anfangs Dezember fragte ich hier: Was ist eigentlich aus der «komischen alten Rockmusik» geworden? Deerhunter zeigten in diesem Jahr einmal mehr auf, wie sorgfältig und reizvoll und – trotz allen Verweisen auf die Musikgeschichte – originell Gitarrenmusik fernab von übercoolen Indiecodes gefertigt werden kann. «Halcyon Digest» ist eine Platte, auf die ich mich so sehr freute und die noch viel schöner und bewegender und geschlossener als erhofft ausgefallen ist.
Signora Pergoletti: Vampire Weekend – Contra
Was hätte ich ohne diese Platte gemacht dieses Jahr? Wahrscheinlich dasselbe wie jetzt auch, bloss wäre mir so manches wesentlich schwerer gefallen. Vampire Weekend aus New York (ich sage zwar jedesmal: «Aus England!», worauf mein Freund: «Nein, aus New York!» und so weiter) haben 2010 mit «Contra» ein Album abgeliefert, das tatsächlich noch besser ist, als der Vorgänger. Und wieder eines, das sich schwerlich nur durch einen Song erschliessen lässt – die gesamte Komposition ist der Clou. Kunsthochschulindiepop at its very best, wer They Might Be Giants liebte, wird hier glücklich. Leute, die ich gerne kennenlernen würde.
Frau Feuz: Broken Bells – Broken Bells
Broken Bells ist ein Projekt von Musiker und Produzent Brian Burton (ja genau, Danger Mouse, und ja genau, wo hat der eigentlich seine Finger nicht drin?) und James Mercer dem Sänger von The Shins. Eine wunderbare Platte haben die beiden da gebastelt, auf welcher die Danger-Mouse-Handschrift unverkennbar ist. Von subtiler Psycho-Orgel über Mariachi-Trompeten bis hin zu schwebenden Männerchören und wunderbar melancholischen Pop-Melodien wurde alles eingebaut, was das Indie-Herz begehrt. Und zum Glück lassen sich Afro-Elemente auf der Platte vergeblich suchen. Not my cup of tea!
Fischer: Verena von Horsten – Mother Tongue
An neuen Frauenstimmen ist derzeit wahrlich kein Mangel in der Schweiz. Eine aber stach dieses Jahr heraus, weil sie offensichtlich kein bisschen Lust hat, zum neuen Frölleinwunder zu werden. Verena von Horsten geht die Songwriter-Sache lieber ziemlich rockig – und ziemlich rotzig an. Ihr Debut «Mother Tongue» ist ein wunderbar rohes Stück Musik, dreckig arrangiert, laut wo es sein und leise wo es nicht sein muss. Dazu sehr gradlinige und unverschämte Texte – das kannte man so noch kaum in der Schweiz. Von der frechen Zürcherin wird man noch hören, würd ich sagen.
Herr Gnos: Peter Wolf Crier – Inter-Be
Wie jedes Jahr hab ich überhaupt keinen Überblick, welche Musik in diesem Jahr zu mir gestossen ist – und welche davon in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Vorab gibt es aber immerhin zwei erstaunliche Entwicklungen zu vermelden, die ich im 2010 verorten kann: Erstens habe ich spätestens seit «Lennon NYC» beim Erklingen eines Beatles-Songs keinen unmittelbaren Fluchtreflex mehr. Und zweitens ist mir mit «Homerekords» zum ersten Mal überhaupt ein Züri-West-Album ein wenig ans Herzen gewachsen. Item, gegen «Inter-Be» von Peter Wolf Crier kommen da aber beide Ereignisse nicht heran. Derart subversiv war Falsett-Gesang schon lange nicht mehr. Polternder Keller-Folk wie er eigentlich nur in Minnesota entstehen kann. Ich bin entzückt, immer und immer wieder!
Peter Wolf Crier – Crutch & Cane
Frau Kretz: Nadja Zela – Ciao Amore
Auch ich habe ein Schweizer Frauenwunder für mich entdeckt, und zwar die wunderbare Nadja Zela aus Zürich. Ein faszinierend vielfältiges Album, das vor allem wegen Zelas wandelbarer Stimme und der lakonischen Melancholie der Texte extrem Spass macht. «Musik, die einem das Leben rettet,» wie Herr Gnos hier treffend beschrieb. Und auch live ist Frau Zela ein ganz grosser Genuss!
Herr Pauli: Mutter – Trinken Singen Schiessen
Vieles Zeugs, das ich mir heuer angeschafft oder auch nur angehört habe, ist gar nicht in diesem Jahr erschienen. Meine Hörentwicklung wuchert vor sich hin, und hat mit Aktualität fast gar nichts mehr zu tun. Trotzdem: Sehr gut gefallen hat mir «Hidden» von These New Puritans – live und auf Platte überzeugte mich die kraftvolle und zugleich schwärmerische Mischung zwischen New Wave und neuer Musik. Und trotzdem gebe ich meine Stimme Mutter, der Berliner Band, die den Hamburger Diskurspop seit 1986 brachial kontrastiert, und mir mit dem neuen Album «Trinken Singen Schiessen» erstaunlich wohlklingende Songs und eindringliche Texte unter den Tannenbaum gelegt hat.