Archiv für die Kategorie ‘Hin & Weg’

Keeping the bar high, not dry

Roland Fischer am Samstag den 16. Mai 2015

Julian Sartorius macht den Bartender, gestern in der Galerie Hauser & Wirth in Zürich. Später setzte er sich dann noch hinters Schlagzeug und machte einigen Lärm in der temporären Roth-Bar, wo eine der schönsten Ideen eines meiner Lieblingskünstler weitergesponnen wird.

roth bar

Warum die Bar «Economy» heisst ist einem allerdings ein wenig schleierhaft. Alles ziemlich zusammengeschustert, ok, aber dann steht da trotzdem eine Superedel-Espressomaschine und die Preise sind auch ziemlich zürcherisch. Aber was soll man sagen, ist halt in einer der wichtigsten Galerien der Welt. Da hätte Julian schon ein wenig unzimperlicher sein dürfen hinter der Bar – sein eigenes Schlagzeug musste dann einiges mehr aushalten.

Postkarte aus Japan – Amöbe aus Beton

Roland Fischer am Dienstag den 12. Mai 2015

Nach Schweizer Massstab ist Tokio mindestens unendlich gross. Gönnt man sich zum Beispiel einen späten Drink in der Bellovisto-Bar (ja, die Japaner lieben West-Sprachen, wobei sie einen ziemlich hemdsärmligen – oder soll man sagen: kreativen? Umgang pflegen) im 40. Stock eines Hotelturms, dann öffnet sich der Blick nach allen Seiten in ein endloses Meer von blinkenden Lichtern und Strassenperlenfäden. Bis zum Horizont geht die Stadt mindestens, und man kann nur mutmassen, dass sie irgendwo dahinter wohl mal aufhört, der grösste Teil Japans ist schliesslich wie bei uns dünn besiedeltes Hügel- und Bergland. Hier kann man die Aussicht vom Tokioter Eiffelturm aus erleben, als Gigapixelpanorama.

tokioArchitektonisch ist, was man von da oben sieht, zunächst einmal eine grosse urbane Wühlkiste. Ein gestaltetes und geplantes städtisches Gefüge, eine städtebaulich ordnende Hand scheint es nicht wirklich zu geben. Richtiger muss man sagen: hat es früher nicht gegeben, als Tokio noch ein Slum war.

When the war ended, Tokyo’s municipal government, bankrupt and in crisis mode, was in no condition to launch a citywide reconstruction effort. So, without ever stating it explicitly, it nevertheless made one thing clear: The citizens would rebuild the city. Government would provide the infrastructure, but beyond that, the residents would be free to build what they needed on the footprint of the city that once was, neighborhood by neighborhood. What those residents built was, essentially, an enormous unplanned settlement — a settlement that, in some respects, was built much the same way that Dharavi, the huge unplanned settlement in Mumbai, is being developed today.

Inzwischen hat sich die Stadt natürlich verändert und passt sich den neuen Anforderungen laufend an, das aber eher auf organische Art denn nach einem grossen Masterplan, wie es ihn in vielen europäischen Metropolen mal gegeben hat (oft als Ausdruck eines machtpolitischen Grössenwahns). Das Durchschnittsalter eines Hauses in Tokio: gerade mal dreissig Jahre – wieviele mögen es bei uns sein? Sowas wie Denkmalschutz und intakte historische Stadtsubstanz sucht man da natürlich vergeblich. Dafür ein eben unendlich inspirierendes und einfallsreiches Chaos, eine gar nicht so besonders unfreundliche Amöbe aus Beton.

tokio

Kuhhälfte oder Biogemüse?

Milena Krstic am Freitag den 8. Mai 2015

Eigentlich nicht sehr schmeichelhaft, als Mensch plötzlich zum Rohstoff degradiert zu werden. Aber ich hatte ja Glück, zu den Schwermetallen zu gehören, und nicht zum Biogemüse, das gleich neben dem radioaktiven Abfall lagerte. Oder wären Sie lieber eine Kuhhälfte? Wie auch immer, das Team vom Broadway Variété, dem «original Spiel- und Verzehrtheater», wie es sich selbst deklariert, hat sich einmal mehr nicht lumpen lassen und ein abendfüllendes Kleinkunst-Unterhaltungsprogramm zusammengeschustert. Dieses Jahr unter dem Motto «Le Frachthafen – Warengut, immer gut». Wettertechnisch hat das gut gepasst, muss doch momentan der übermütige Pegelstand der Aare mit orangefarbenen dicken Gummischlangen zurechtgewiesen werden, und das nicht weit vom Areal entfernt, wo sich das Broadway für drei Wochen eingerichtet hat. Bereits letztes Jahr habe ich den Anlass hier erwähnt, aber leider viel zu spät, deshalb sind wir vom KSB heuer etwas aktueller dran, gestern war nämlich Premiere.

Das Ensemble beim Fotoshooting für den «Bund». Foto geklaut von der FB-Seite des Broadway Variété.

Das Ensemble beim Fotoshooting für den «Bund». Foto geklaut von der FB-Seite des Broadway Variété.

Nein, es war nicht das beste Programm, jedenfalls nicht seit den letzten sechs Jahren, in denen ich dabei war. Die letztjährige Show «Le Königreich» mit der auffallend guten Sängerin Sarah E. Reid war da schon subversiver, düsterer, schmutziger und irgendwie auch aufregender. Aber das nur als Vergleich, weil im Verlaufe des Abends, kurz nach dem Dessert, da kam auch im Frachter die für das Broadway übliche Magie auf, die mitunter ein Grund ist, weshalb ich da jedes Jahr wieder hin will. Vergessen Sie Zirkus, Kino, Theater … Wenn Sie sich einen Abend lang in einem anderen Film, einer Parallel-Welt fühlen möchten, dann sei ein Besuch bei einer der sympathischsten Kleinkunst- und Sprachakrobatik-Truppen (vom Seebären mit dem schönsten Bart auf Erden bis zum Rock’n’Roll-Piraten) dieses Landes sehr empfohlen. Am besten mit dem Flugmodus im Handy und einem «Dark & Stormy» zum Apéro.

In Bern bis am 30. Mai auf dem Gaswerkareal der Dampfzentrale und danach in vier weiteren Schweizer Städten. 3-Gang-Menü und Showeintritt exkl. Getränke 120 Franken. 

Postkarte aus Japan – westlicher Kulturimport

Roland Fischer am Dienstag den 5. Mai 2015

Ohne Worte. Frühlingsfest in Yokohama.

Könnte da vielleicht mal jemand im zuständigen Ministerium ein Embargo prüfen?

Postkarte aus Japan – alles kawaii!

Roland Fischer am Samstag den 2. Mai 2015

Die Japaner haben es bekanntlich ein wenig mit den jungen Mädchen – die sexuellen Vorlieben der Männer hier stünden bei uns allerdings unter Lolita-Generalverdacht. Da kann es ohne weiteres passieren, dass ein Interviewpartner einem erklärt, die Teenagejahre seien nun einmal das Alter, in dem eine jede Frau physisch wie mental auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität sei. Und das auf so selbstverständliche Weise, als könnte es dagegen ja sowieso keine Einwände geben. Aber das Kindchenschema (hier vielleicht besser Jö-Effekt genannt) hat dieses Land ja überhaupt fest im Griff –
vielleicht kann das sogar den Arbeitseifer erklären?

Puppies. Kittens. Fat babies. These are the cute things in life we love to coo about, but who knew that the mere sight of them could heighten our mental skills? A new study by Japanese researchers now shows there are more benefits to looking at pictures of these universal delights than just getting a case of the warm and fuzzies. Afterwards, we concentrate better.

Wie auch immer, stellvertretend ein paar Beispiele des Kawai-Phänomens:

Velounfälle? Müssen nicht sein. Und müssen auch nicht unbedingt brutal sein. Ein Warnschild in Tokio.

velo

Das Militär macht Werbung auf einer Messe für Otakus (die japanischen Nerds). Wie sie das macht? Mit Uniformen, mit Technikgedöns – und mit einer winkenden Plüschbombe.

bombe

Ohne Worte. Die Farbe von herzig ist natürlich: rosa.

rosa

Tattoos zwischen Tradition und Tabu

Gisela Feuz am Donnerstag den 23. April 2015

Machen Sie doch mal wieder einen Ausflug, werte Leserinnen und Leser, zum Beispiel nach Hamburg. Die sympathisch Hansestadt im Norden Deutschlands weiss nicht nur mit Astra-Bier und Labskaus zu bestechen, sondern nennt auch die Kunstmeile ihr eigen, ein Strassenabschnitt von knapp einem Kilometer, auf dem sich insgesamt fünft Museen und Kunstausstellungen befinden. Hier findet sich alles, was das kunstinteressierte Herz begehrt, von alten Schinken grosser Maler, über moderne Plastiken bis hin zu Tattoos. Ja, sie haben richtige gelesen: Tattoos. Das Museum für Kunst und Gewerbe hat sich dem mittlerweile äusserst beliebten Körperschmuck angenommen und zeigt diesen in der Ausstellung «Tattoo» im Spannungsfeld zwischen Tradition und Tabu.

Die farbenfrohe und multimediale Exposition thematisiert die lange Tradition des Tätowierens und verdeutlicht, dass dieses zu den frühsten Kunstformen und ältesten Handwerkspraktiken überhaupt gehört. Dabei lotet «Tattoo» ein breites Spektrum des Kulturphänomens aus und beleuchtet dessen Ambivalenz in Bezug auf soziale Zuordnung, Stigmatisierung und identitätsstiftendes Element, wobei unterschiedlichste Schichten, Epochen und Regionen dieser Welt zum Zuge kommen.

Tattoo

Ma Hla Oo aus Laytu-Chin, Birma. Foto: Jens Uwe Parkitny

Die Ausstellung schlüsselt unter anderem die Ikonographie von Tattoos russischer Gefangener auf, zeigt frühe Tätowiergeräte (aua!!) und Hautpräparate aus der Zeit um 1900, mit deren Hilfe unbekannte Leichen identifiziert wurden. Daneben werden Gangs, Banden und andere illustere Gesellschaften genauer vorgestellt, die dem permanenten Hautschmuck nicht abgeneigt sind. So etwa die japanischen Mafia Yakuza oder die in El Salvador wütenden Banden Mara Salvatrucha Mara 18. Weiter werden Hintergrundinformationen zu traditionellen (Gesichts-)Tätowierungen in Birma, Neuseeland oder Thailand geliefert und aufgezeigt, wie das Phänomen Tattoo auch in Kunst und Kommerz Einzug hielt – etwa mit Wim Delvoyes tätowierten Schweinen oder den strammen Playmobil-Rappern. Übrigens ist auch die Schweiz prominent vertreten in der Hamburger Ausstellung, und zwar mit Mario Marchisellas charmanter Audioinstallation «It was the best of times.» Daneben gibts natürlich ganz, ganz viele Bilder von Tattoos jeglicher Art und Qualität zu sehen: von traditionellen Ankern, Schwalben und barbusigen Damen über ästhetisch fragwürdige avantgarde Portraits bis hin zum schnöden Arschgeweih. Frau Feuz hat sich übrigens nach dem Besuch der Ausstellung auf ein bisschen pimpen lassen und sieht jetzt so aus (links).

«Tattoo» wird noch bis am 6. September 2015 im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg gezeigt.

Manon in Interlaken

Gisela Feuz am Donnerstag den 16. April 2015

Machen Sie doch mal wieder einen Ausflug, werte Leserinnen und Leser, zum Beispiel nach Interlaken beziehungsweise Klein-China. Das kleine Städtchen zwischen den Seen wartet zwar mit scheusslichen Souvenirläden, einer Armada von noch scheusslicheren Schuh- und Trekking-Läden und einem ästhetisch fragwürdigen Architekturmix auf, bietet aber eben auch ein atemberaubendes Alpenpanorama und zur Zeit eine Ausstellung über eine der berühmtesten und einflussreichsten Pionierinnen der Schweizer Performance-Kunst: Manon.

Sie selber sei ja eine sehr schüchterne und zurückhaltende Person, diese Manon, weiss eine äusserst kommunikative Mitarbeiterin des Kunsthaus Interlaken zu berichten. Die noch nicht ganz 69-jährige Grand Dame der Performance hatte in den 70er-Jahren mit ihrem «Lachsfarbenen Boudoir» und der Serie «La dame au crâne rasé» für Furore gesorgt. In der kleinen aber feinen Exposition «Reise nach Sibirien» in Interlaken werden nebst neusten Installationen, welche Manon extra für diese Ausstellung entwickelt hat, auch Bilder aus der Serie «Elektrokardiogramm 303/304» gezeigt, in denen ausdrucksstark gesellschaftliche und geschlechtliche Rollenbilder untersucht und in Frage gestellt werden.

manon

Ebenfalls sehr berührend sind die gezeigten Fotografien aus der Reihe «Einst war sie Miss Rimini», für welche folgende Ausgangslage galt: «Rimini, ein Sommer in den siebziger Jahren. Eine junge Frau, ein Schönheitswettbewerb im Strandhotel. Der Duft von ein bisschen Glanz. Denn sie wird Miss Rimini. Wer ist sie heute?» Über 50 Mal ist Manon in die Haut dieser jungen, erfundenen Provinz-Schönheitskönigin geschlüpft, um zu zeigen, was aus ihr geworden sein könnte. Entstanden sind berührende Bilder, die verdeutlichen, welche unterschiedliche Bahnen ein Leben doch nehmen kann. Ist aus der ehemaligen Miss Rimini eine schillernde Diva geworden? Eine Heilsarmee-Soldatin, eine feinsinnige Musikerin, eine Nonne, eine Psychiatrie-Patientin, eine gestrenge Ärztin oder kämpft sie mit Krebserkrankung? Mit grosser Sensibilität zeigt Manon hier die körperliche und seelische Fragilität von Individuen, welche Spuren gelebtes Leben hinterlassen, wie Zeit und soziale Bedingungen eine Person modellieren können und thematisiert Vergänglichkeit, Scheitern und Schicksal. Das berührt. Allerdings wird man beim Blick aus dem Fenster jäh aus der ästhetischen Verzauberung gerissen. «Matterhorn calling – since 1865» verkünden grosse Lettern auf dem Schaufenster des gegenüberliegenden Outoor-Kleider-Anbieters. Oh weh, Interlaken.

Manons Ausstellung «Reise nach Sibirien» ist noch bis am 3. Mai im Kunsthaus Interlaken zu sehen.

Distanziertes Selbst

Roland Fischer am Donnerstag den 26. März 2015

selfieMir ist da etwas aufgefallen in Venedig. Wenn es regnet versuchen Leute allenthalben, einem Regenschirme anzudrehen, und dieselben Leute (die sich früher bei Sonne sehr geärgert haben mussten) haben neu auch ein Schönwettervariante: den Selfie-Stick. Könnte man, nur nebenbei, ja auch kombinieren, oder?

Jedenfalls grassiert diese Selfie-Stangen-Manie offenbar überall schon so sehr, dass man fast den Untergang des kulturellen Abendlandes fürchten muss (auch wenn man nicht recht weiss warum):

Im Schloss Versailles nahe Paris machen die Museumsangestellten neuerdings höflich darauf aufmerksam, dass die als Selfie-Sticks bekannten Armverlängerungen unerwünscht seien. Man befürchtet Beschädigungen der wertvollen Spiegel und Ausstellungstücke, wenn bei der Besucherschwemme zur Hochsaison Nutzer unvorsichtig mit den Stangen herumfuchteln, um sich damit selbst zu fotografieren.

Armverlängerung! Vielleicht eher prothetisches Selbst also. Des weiteren listet der Spiegel das Centre Pompidou und den Louvre, viele amerikanische Museen (darunter das MoMa) und britische Fussballstadien als Selfiestick-Verbotszonen auf. Und auch bei uns: Schweizer Museen dulden keine Selfie-Sticks. Die Welt hat wirklich keine ernsten Probleme mehr.

selfie

Was mir indessen in Venedig aufgefallen ist, beim Beobachten all der Leute, die sich vor schönen Kulissen in Szene setzen: Vielleicht hat die Selfie-Inflation etwas mit unserer digitalen Bilderflut zu tun? Wenn man Ferienfotos irgendwie dokumentarisch versteht – als Beweismittel gewissermassen, dass man wirklich da war, wovon man erzählt, dann muss man diese Fotos heute womöglich mit einem persönlichen Wasserzeichen versehen, damit sie noch etwas wert sind. Ein Foto von der Seufzerbrücke? Könnte ja jeder kommen! Findet sich leicht hundertfach bei Google Images. Aber eins, auf dem ich selber mit drauf bin – damit wäre das dann wieder verbürgt. Mal sehen wie die nächste Eskalationsstufe in Sachen getürkte Identität und Narration des Selbst aussieht.

Auf nach Basel!

Gisela Feuz am Mittwoch den 25. Februar 2015

Auf die Basler sind wir ja momentan ganz gut zu sprechen. Nein, nicht weil seit Montag die «drey scheenschte Dääg» im Gange sind (who cares?!), sondern weil uns der FCB am Sonntag auf 5 Punkte hat aufrücken lassen. Düngemittel auf das zarte Pflänzchen namens Titelhoffnung, olé! Und Grund genug, den Bebbis mit ein paar Künstlern und Künstlerinnen auszuhelfen.

Jugendkulturfestival Basel (JKF) - JKFIm Spätsommer, genauer am 4. und 5. September, wird in der Basler Innenstadt das Jugendkulturfestival über die Bühne gehen. Das JKF wird alle zwei Jahre durchgeführt und ist die grösste nicht kommerzielle Plattform für Jugendkultur in der Schweiz. Dabei wird während zwei Tagen auf elf Bühnen in der Basler Innenstadt Kunst in all ihren Facetten zu sehen sein, wobei mit über 1’700 mitwirkenden Künstlern und Künstlerinnen und 60’000 Besuchern und Besucherinnen gerechnet wird.

Was das Ganze mit Bern zu tun hat? Das JKF sucht sich für jede Ausgabe jeweils eine Partnerregion aus, um so jungen Kulturschaffenden einen überkantonalen Begegnungs- und Auftrittsrahmen zu bieten. Dieses Jahr ist die Partnerregion eben Bern und somit besteht für junge regionale Bands, Theater-, Tanz- oder andere Künstlergruppen die Möglichkeit, sich bei JKF zu bewerben und so allenfalls einen Auftritt vor einem grossen und interessierten Publikum zu ergattern. Die Anmeldefrist läuft noch bis Ende März, sämtliche Informationen finden sich hier.

sonOhr: wohliges Fläzen zum Kopfkino

Gisela Feuz am Sonntag den 15. Februar 2015

«In den 50er-Jahren wurde nicht selten der wöchentliche Hörspieltermin wie ein Theaterbesuch eingeplant und vom übrigen Alltag abgeschirmt. Wenn Hörspielzeit war, sassen wir immer schon eine Viertelstunde vor der Ansage am Radiogerät und drehten an den Knöpfen. Sobald die Sendung anfing, hatten wir das Gefühl, als seien wir selber der Äther, und körperlos geworden schlüpften wir zu den imaginären Stimmen in den Apparat. Eine Stunde, die wir am liebsten zu einer Ewigkeit gedehnt hätten.» (Ludwig Harig, Schrifsteller und Hörspielmacher)

Bis zur Erfindung aus Ausbreitung des Fernsehens gehörte das Hörspiel zu den beliebtesten Unterhaltungsformen. Namhafte Literaten wie etwa Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Friedrich Dürrenmatt, Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Max Frisch und etliche andere fabrizierten in den 50er-Jahren Hörstücke fürs Radio und für viele Schauspieler war es eine Ehre, wenn nicht gar ein Muss, Hörstücken ihre Stimme zu leihen. In den Nachkriegsjahren, als Gedrucktes Mangelware war, sassen in Deutschland bis zu 12 Millionen Menschen vor den Radio-Apparaten, wenn in den Abendstunden Hörspiele ausgestrahlt wurden.

homeAuch heute noch ist das Radio das meist genutzte Medium, wenn auch das Interesse nachzulassen scheint und Hörspiele – einst die Königsdisziplin des Hörfunks – zu einem Nischenprodukt geworden sind. Zum Glück aber gibt es das sonOhr Hörfestival, an welchem es Hörstücke in unterschiedlichster Form und mit vielfältigen Inhalten zu hören gibt. Akustische Roadmovies, Satiren, Features, (experimentelle) Dokumentationen, Klanginstallationen, Radio-Novela und gar ein Live-Hörspiel werden im Kino Kunstmuseum und im Kulturpunkt im Progr in jeweils einstündigen Blöcken geboten. Letzterer wurde übrigens mit alten Möbeln und Stehlampen in ein richtig gemütliches Wohnzimmer verwandelt, so dass man eine Ahnung bekommt, wie es in den 50er-Jahren gewesen sein dürfte, wenn sich die ganze Familie vor dem Radiogerät versammelte. Da zieht sich die geneigte Zuhörerschaft auch gerne mal die Schuhe aus und fläzt wohlig auf Sofas und Sesseln, währenddem man sich ganz dem Kopfkino hingibt.

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Kulturpunkt-Wohnzimmer

Gehen Sie hin! Das sonOhr Hörfestival findet noch heute Sonntag statt mit Wettbewerbsblöcken um 13, 14.30, 16 und 17.30Uhr im Kulturpunkt im Progr und 12:30, 14, 15.30, 17, 18.30Uhr (live-Hörspiel) im Kino Kunstmuseum. Dort werden dann heute Abend auch die Wettbewerbs-Gewinner bekanntgegeben und gekürt.

Wer sich für die Geschichte des Hörspiels interessiert, dem sei «Kleine Geschichte des Hörspiels» von Hans-Jürgen Krug ans Herz gelegt, erschienen bei UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.