Archiv für die Kategorie ‘Eins auf die Ohren’

Gegen die Beliebigkeit

Mirko Schwab am Samstag den 6. August 2016

Demonstration vor dem Rathaus: Der Jazz ist nicht tot. Und auch nicht flüchtig. Haudenschilds Trio E:Scape hat gestern sein erstes Extended Play getauft.

MH

Michael Haudenschild zwischen Rhodes und Flügel.

Es tötelet ja immer mal wieder an einschlägigen Jazzfestivals. Entweder geben sich die Programmatoren dann klassizistisch-ignorant und schmeissen ein paar Tributabende für gestorbene Virtuosen. Auf der Bühne nicken sich ältere Herren wissend zu, schütteln die alten Tricks und Gimmicks aus dem Hemdsärmel, während sich ein ebenso altes, gutsituiertes Publikum selbst zunickt. Feeling wie damals in den verrauchten Jazzlöchern der Bopblüte, jetzt halt mit Rauchverbot und nummerierten Plätzen. Oder man gibt sich offen und verwässert den Jazzbegriff mit allerhand ungutem Ethno-World-Eso-Klimbim, um der alten Story verzweifelt so etwas wie Vitalität zu injizieren.

Dabei geht das ganz gelenkig. Und es ist der sensiblen Programmation am BeJazz-Sommer zu verdanken, dass dies Interessierte und Dahergelaufene am Freitagabend zur Hauptsendezeit erfahren dürfen. Nach dem obligatorischen Mikrofontest mit Verweis auf die etwas verwaiste Crêpes-Bude stehen also da: Pianist Michael Haudenschild, Bassist Benjamin Muralt und Paul Amereller am Schlagzeug.
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Songs from a room

Mirko Schwab am Donnerstag den 28. Juli 2016

Musik aus dem Schlafzimmer erobert die Welt. Dieser auf leisen Sohlen wandelnde Beitrag aus einem Kämmerchen in Bern-Weissenbühl vertont auch gleich, wieso sich der Begriff des «bedroom producer» gegen die innenarchitektonische Konkurrenz aus Küche, Bad und Wohnzimmer durchgesetzt haben könnte.

DH

Bei Dimitri Howald ist der Gsteiger’sche Dualismus in der Balance. Der junge Gitarrist könnte uns, wenn er wollte, mit technischer Brillanz aus dem Real Book vorlesen und dazu auf der untersten Saite nach New Orleans laufen. Ein Bewahrer ist er zum Glück nicht. Sein gestern veröffentlichter Wink aus dem Schlafgemach tunkt die Tradition in ein kühles Blau, das mehr Shoegaze ist als Blues. Treten Sie ein (und ziehen Sie die Schuhe aus!)

Computer, Interface, Klampfe: Nie zuvor konnte die Geste des Do-It-Yourself so niederschwellig ausgeführt werden. Aus den Schlafzimmern dieser Welt erreichen uns beflissene Produktionen, die, anders noch als in der ersten Hochblüte des popkulturellen Selbermachens, selten mehr knistern und knattern, rumpeln und rattern, sondern in ihrer produktionstechnischen Klarheit und Ästhetik kaum unterschieden wollen werden vom Klang grosser Studios. Aus den Schlafzimmern dieser Welt lassen sich Grammys gewinnen und Hitparaden erklettern. Das geht Howalds meditative Miniatur nur am Rand was an, deren Weg nicht in die weite Welt führt.

Aber hinein ins Schlafzimmer. Wie ein luzider Träumer scheint Howald barfuss durch die ausgesuchten Noten zu schlendern. Er offenbart damit die zweite Bedeutungsebene der Schlafzimmermusik, die Qualitäten des Intimen, Umnachteten und Flüchtigen anzeigend. Undenkbar, diese wunderbaren knapp vier Minuten in einem Wohnzimmer zu verorten. Salonmusik ists nicht, zu hartnäckig hängt die gesprächige Geselligkeit wie Spinnhumpeln von der Wohnzimmerdecke, zu gesellschaftlich wäre auch die Küche in ihrer funktionalen Überstelltheit. Nur aus dem Schlafzimmer erreicht uns eine solch private Musik.

Dimitri Howald ist Gitarrist und Komponist aus Bern und unterhält verschiedene musikalische Projekte, darunter auch eine eigene Trioformation. Deren Debut erscheint im November auf Unit Records.

Afro-Schizo

Mirko Schwab am Donnerstag den 14. Juli 2016

Der Mirko, der Schwab und ich erzählen Ihnen heute was von der malischen Rockband Songhoy Blues. Die haben am Dienstagabend den Bieler Pod’Ring beehrt. Es hat geregnet wie selten.

SB

Talent auch im Tanze: Songhoy Blues aus Mali.

Die folgende Schreiberei drängt mal wieder in alle Richtungen. Und da hilft es manchmal, ehrlich zu sein mit Ihnen, mit sich selbst und zu gestehen: Das wird kein formschöner Konzertrapport mit süffig Backgroundinfo und Atmosphäre zum Anfassen. Das wird auch kein Künstlerportrait, nach dessen Lektüre Sie mehr «über die Menschen hinter der Musik» erfahren haben (ach was, da sind Menschen versteckt hinter der Musikkulisse?) und im besten Fall noch gleich die Scherbe bestellen beim Onlinehändler Ihres Vertrauens. Und das wird auch ganz sicher keine flammende Kulturkritik über ethnologischen Kitsch und die verhängnissvolle Faszination fürs scheinbar Fremde. Aber vielleicht von allem ein bisschen? Weil: es war ein gutes Konzert einer sauguten Band, das mir ein paar Fragen bescherte. Also hopp, durch drei!

Mirko übers Konzert:
«Ja eben, wie selten hats geregnet. Mindestens die ganze Schüss brach über die Menge herein, die in ihrer Zahl dadurch halt schon etwas aufgelöst war. Nass bis auf die Unterschläuche und aber ausgetanzt und begeistert blieb man zuletzt zurück. Was war passiert? Das Quartett spielte sich während einer Stunde leichtfüssig durch die Abenddämmerung und in die Herzen der Uhrenstadt. Mit Leichtfüssigkeit auf allen Ebenen: Nicht nur offenbarte Sänger und Ergänzungsgitarrist Aliou Touré sein beeindruckendes Talent im Tanze, auch der Rest der Band bediente die Instrumente gleichermassen entspannt und energetisch – und dribbelte ansatzlos vom Afrobeat zum Sechsachtelblues und wieder zurück!»

Schwab zur Band:
«Nachdem die Band aus ihrer Heimatstadt Timbuktu (da regnets eher selten) fliehen musste, die unter die Kontrolle religiöser Eiferer geraten war, haben sich Songhoy Blues in Malis Kapitale Bamako eingenistet. Wenig später trafen die Desert Blueser auf Damon Albarns Africa Express, was umgehend einen kleinen Hype in der anglo-amerikanischen Indielandschaft entfachte und die Gruppe auf Touren durch den Norden brachte. Die musikalische Rezeptur ist auch anregend: Zum Erbe der malischen Songhoy-Kultur in Rhythmik und Tonmaterial gesellen sich amerikanischer Blues und die Liebe zur Stromgitarre.»

Und ich so zum Schluss:
«Der Regen sei auch ein Glück, ein bonheur, wandte sich Sänger Touré an die klatschnasse Menge. Bands aus fernen Ländern bringen eben immer auch eine neue Perspektive auf die Dinge mit und zaubern uns – kommen sie dazu noch aus diesem Afrika – ein sonniges Lächeln aufs Gesicht. Und dann diese Rhythmen, die haben sie eben im Blut! (Klebt dann der Rhythmus auch auf den Waffen, die aus der Schweiz nach Mali exportiert werden?) Nein, Songhoy Blues sind die falsche Band für Trommelromantik und eindimensionales Kulturpetting. Die imperialistischen Gesten (in all ihren Tarnanzügen) lassen sich dabei aber auch elegant überwinden: Songhoy Blues sind nämlich zuerst einmal eine verdammt gute Rockband. Am Besten, man behandelt sie auch so, schreibt über ihre Platten und geht an ihre Konzerte und ist aufgeregt ob der Mucke.»

«Music in Exile» ist im letzten Jahr auf Transgressive Records erschienen.
Pod’Ring gibts noch bis Samstag in der Bieler Altstadt, u.a. mit Faber und Verena von Horsten.

Harte Ware only!

Mirko Schwab am Samstag den 9. Juli 2016

Bitte raven Sie hart – oder spitzen Sie die Ohren! Der Technotüftler Olan beschenkt uns mit verkabelter Experimentalmucke, die sich für die schweissnasse Ekstase ebenso eignet wie fürs stille Eintauchen. Mit tausend Potiknöpfen und einem Puls improvisiert er sich durch abgründige Elektronikwelten und arbeitet dabei ausschliesslich mit dingfesten Geräten. Von Zeit zu Zeit lässt er sich einen Satz lang über die Schultern schauen.

Olan ist die Mensch-Maschine des Pianisten und Schlüsselbretters Keyboarders Olivier Zurkirchen aus dem Longvalley BE. Der Schreibende hat den Chnübler im Internet getroffen und ihm ein paar Fragen zugespielt:

Der schönste Moment im Set ist, wenn …
Es gibt zwei davon, die ich nicht gegeneinander abwägen möchte. Der erste Moment ist dann, wenn ich bemerke, dass die Leute mich und meine Musik spüren. Dann denke ich: Jetzt kanns losgehen! Und der zweite Moment dann, wenn das Publikum und ich zusammen in Ekstase geraten. Wenn ich mich verliere und mit meinem Instrument verschmelze.

In welchem Club würdest du nie spielen?
Für mich kommt es nicht wirklich auf den Club, sondern auf den Promoter an. Mir ist wichtig, dass meine Musik bei den richtigen Leuten ist. Ich improvisiere zwar meine Livesets vollständig, lande aber meist bei Electronica oder dunklem, schnellem Techno. Mit beidem wäre ich bei einer Deep-House Party am falschen Ort. Was nicht heissen soll, dass ich nicht nach einem Deep House Act spielen würde. Kommt halt darauf an, wie aufgeschlossen das Publikum gegenüber anderen Musikstilen ist.

Eine kleine Gedankenreise: Du könntest die Afterparty schmeissen für einen Act deiner Wahl. Wer ist das und wie fühlt sichs an?
Da gibts viele. Wenn wir beim Techno bleiben: Surgeon. Das würde sich bestimmt gut anfühlen und wäre eine tolle Herausforderung. Ich würde versuchen, noch einen obendrauf zu setzen.

Was hat ein Pianist im Techno zu suchen und was findet er da?
Die Liebe zu Techno und zu Maschinen war schon immer da. Schon als ich Teenager war hat mich mein älterer Bruder in Plattenläden mitgenommen und ich durfte an seinen Synths herumschrauben. Auch Musik produziert habe ich schon immer nebenbei (angefangen hat alles mit dem Playstation-Game music). Vor zwei Jahren habe ich dann bei einer Tour mit einer Jazz-Band bemerkt, dass mir ein sitzendes Publikum gegen den Strich geht. Deshalb habe ich mit den Livesets angefangen: Ich will die Leute zum tanzen zu bringen! Ausserdem mag ich das Konzept des Spannungsbogens über ein paar Stunden. Heute ist alles so kurzatmig. Da tut es gut, mal ein Drei-Stunden-Set zu spielen und sich zusammen mit dem tanzenden Publikum in Ekstase zu begeben.

Welchen Film hättest du gerne musikalisch begleitet?
2001: A Space Odyssey. Es wäre zwar schade um den bestehenden Soundtrack. Grossartig, wie die Musik von Ligeti, Strauss und Khachaturian mit Kubricks Bildern verschmilzt.

Zu welchem Gerät in deinem Setup hast du die intimste Beziehung – wie kams dazu?
Mein zentrales Gerät (also eigentlich mein Instrument) ist ein selber zusammengestelltes Eurorack-Modularsystem. Einen grossen Teil der Module habe ich selber zusammengelötet und zwei davon selber entwickelt. Der emotionale Wert meines Modularsystems ist nicht in Worte zu fassen!

Solo zum nächsten mal am 15. Oktober an der Create Label Night in Mulhouse (F): 9 Stunden Liveacts und Livebroadcast. Und hoffentlich bald mal wieder in Bern. Dazwischen ist Olivier Zurkirchen mit anderen Projekten auf Achse, etwa mit Evelinn Trouble oder den Siegfrieds & Toys.

Dominikpassion

Mirko Schwab am Freitag den 24. Juni 2016

Dominik Kesseli ist der Lord, Michael Galusser sein Trommler – macht Lord Kesseli & The Drums. Die Veröffentlichung ihres neuen Konzertfilms führt den Schreibenden auf theologische Abwege.

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Der Lord wartet auf Arnold.

Die Konzerte von Lord Kesseli & The Drums riechen nach Weihrauch. Was jetzt klingt, als hätte sich ein Büne Huber etwas fest mit der eigenen Poesie betrunken, ist so: Da räuchelts die ganze Darbietung lang aus dem Schälchen. Es muss erwähnt werden, weil auch im Jahr 2016 lediglich audiovisuelle Sinne per Stream bedient werden können (und bisweilen zum Glück, bei all den anrüchigen Blütteleien in diesem Internet.) Und das in diesem Blog bereits bei der einen oder anderen Gelegenheit mit Lobpreis gewürdigte Duo hat vor ein paar Tagen dem alten Internet mal wieder einen anmutigen Beitrag beschert – mit der Veröffentlichung ihres neuen Konzertfilms. Ein reizvolles Format: Einerseits verdichtet sich darin die ganze Grösse dieser Kleinstformation en scène, als Dreingabe rührts der konzertanten Direktheit aber auch eine Prise Cineastik unter.

Zur Gruppe ein paar Verlautbarungen eines glühenden Anhängers (etwa so, wie wenn Sie diese Tage Ihren metallenen Schlüsselbund in der Mittagssonne vergessen.) Es sind ganz zufällig zehn und Sie sollten sie befolgen.
Wir wechseln folgend ins bibelfeste Du.

  1. Du sollst keine anderen Götter neben mir dem Lord haben. Allein die heimische Szene bietet beste Musiken. Du sollst etwa beim Zürcher Plattenbau Ikarus Records vorbeischauen, dem das Debutalbum zu verdanken ist vom Kesseli und den Trommeln.
  2. Du sollst den Namen Gottes des Lords nicht verunehren. Das wäre den bescheidenen Ostschweizern nicht recht. Du sollst ihn aber rumerzählen – und dir ein Bildnis machen: den nächsten Berntermin sollst du der Fusszeile entnehmen.
  3. Du sollst den Tag Schlag des Herrn heiligen. The Drums Michael Galusser, bekannt als Gitarrist und Produzent, hat für diese Band das Schlagzeugspiel quasi gelernt. Verdammt viel Stil im Spiel hat der Herr.
  4. Du sollst Vater und Mutter Kinder und Muskelprotze ehren. Die Schauspieler im Film tun das ihrige auch sehr ansprechend. (Pastor ab 04:30, Muskelmann ab 07:16 und Unschuldsbuben ab 08:40.)
  5. Du sollst nicht töten. Ist so.
  6. Du sollst nicht ehebrechen mit deinen Vorurteilen. Lord Kesseli & The Drums machen verbotene Dinge salonfähig: Sie spielen über vorproduzierte Tonspuren und mit aus der Mode geratenen Instrumenten (Die kopflose 80er-Jahre-Plastikgitarre des Lords kommt im Video leider nicht vor, davor live umso eindrücklicher.)
  7. Du sollst nicht stehlen. Du sollst dir das Debutalbum der Band käuflich erwerben.
  8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen (mit)singen. Du sollst der Engelsstimme des Lords lauschen.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau eine Zugabe. Halb Performance, halb Konzert, wirds sicher nichts mit Mitklatschanimation, Zugaben und sonstigem Tand aus der Unterhaltungspraxis. Heldenhafte Gitarrenposen liegen drin.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut des Lords Fleischhut. Der schönsten Glatze im Musikbusiness sei das letzte Gebot gewidmet. (Du sollst nicht eitel werden bei Haarausfall.)

Lord Kesseli & The Drums beweihräuchern das Rössli am 18. September 2016.

#BernNotBrooklyn

Mirko Schwab am Sonntag den 12. Juni 2016

Bern ist zwar nicht Brooklyn, aber hey, auch in der Hauptstadt ist nachts mächtig was los…

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Neulich bei den Indiesauriern von Dinosaur Jr. Als die Band 1987 ihr krümeliges Album ‘You’re Living All Over Me’ raushaute, gabs den Dachstock übrigens gerademal knapp zwei Monde. Haben sich beide recht gut gehalten, Band und Bude.

Erlebten Sie eine wilde Nacht in Bern und haben per Zufall ein passendes Föteli dazu? Dann posten Sie es auf einer digitalen Plattform unter dem Hashtag #BernNotBrooklyn. KSB wählt unter den Fotos das leckerste aus und veröffentlicht es pünktlich zum Katerfrühstück.

Kreissägen-Segen

Mirko Schwab am Freitag den 10. Juni 2016

Es schwingt schon bittere Schönheit mit, wenn Black Lung aus Baltimore im grössten Fumoir der Stadt einfahren.

Dem Hartblues verpflichtet: Black Lung aus Baltimore, USA.

Dem Hartblues verpflichtet: Black Lung aus Baltimore, USA.

Am Eingang zum Rössli steht unter der Affiche: «OHRENSTÖPSEL-PFLICHT!!!» Das will was heissen in einem Haus, wo ausser ein paar humanistischen Grundsätzen eigentlich gar nichts Pflicht ist.

Zuerst gilt das berüchtigte Berner Duo Sum Of R angehört. Ein hypnotisches Steinbruch-Mantra wird da zwischen Bar und Tür installiert, ein architektonischer Dialog von wenigen schaurigen, in feinste Verzerrung gekleideten Noten und einem Schlagwerk, das dem Teufel ab dem Karren gefallen ist.

Rasch Pfröpflüften, Auftritt Black Lung. Der Heavy-Blues-Dreier aus der Rabenstadt in Maryland fackelt nicht lange, greift rudimentäre Gitarrenriffs aus der angestaubten Truhe rudimentärer Gitarrenriffs – und schmettert sie der zahlreichen, etwas verdutzten Hörerschaft so entgegen, als wäre der Hartblues gerade eben on stage erfunden worden.

Vehemenz hilft, das ist auch dem Instrumentarium anzusehen. Der Verschleiss von Saiten ist antizipiert. Weil das Trio ohne Bass, dafür mit zwei Bassverstärker-Kühlschränken anreist, ist für den Wumms gesorgt. Auch schön: Hie und da werden die kreisrunden Klischeeriffs angebrochen oder verkettet, sodass statt mitgestampft auch mal mitgezählt werden darf. Über alldem (und diese Notiz ist der Kompetenz am Mischpult gewidmet), kreist und sägt der Pressgesang von Dave Cavalier in konstant angezerrter Körnigkeit. Selten hat man das paar Härchen im Innenohr so gerne geopfert vor dem Segen lauter Gitarrenmusik.

Black Lung – See The Enemy ist am 29. April 2016 auf Noisolution erschienen.



Mit diesem Beitrag begrüssen wir Herrn Schwab auf unserem kleinen Kulturstatt-Dampfer. Herzlich Willkommen!

Bad Bonn Kilbi 2016: Schmerzende Ohren und nasse Füsse

Christian Zellweger am Samstag den 4. Juni 2016

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Und dann ist es auf einmal Samstag und die Kilbi schon fast wieder vorbei. Was hat man davon bis jetzt mitgenommen? Ausser klatschnassen Sneakers (schlechte Wahl, klar)? Zum donnerstäglichen Start den düsteren Neo-Industriellen Samuel Savenberg alias s s s s, der ein pochendes, lärmiges und umbequemes Set von der grossen Bühne über die Düdinger Felder schleuderte. Das ging naturgemäss etwas verloren, so früh am Tag. Wie andernorts berichtet wird, gab es vom Luzerner aber am Freitag aushilfsweise auch noch ein Haus-Konzert, dass sich dann eher an der Tanzfläche orientierte. Den Schluss am Donnerstag machte Ty Segall mit grossen Rock-Gesten, Baby-Masken und Stagedivern. Segall kommt aus der Garage, bringt aber den Rock mit ebenso grosser Geste wie Präzision auf die Bühne – in seiner Einfachheit eine Erleichterung.

Denn zuvor waren da noch die Boredoms. In der ersten halben Stunde war das vor allem anstrengend, mit einem zu dominierenden Schlagzeug. Danach wurde es aber toll: Klänge, deren Herkunft unbestimmt bleiben muss (eine seltsame Bassbox, ein Synthie-Modul, Heringe und andere Metalligkeiten auf Lautsprecher-Membranen), die in den Ohren schmerzten. Und natürlich Julia Holter: Erstaunlich, wie genau hier die Sounds des Albums anklangen, nur schon beim Soundcheck. Beim Konzert blieb dann eine unüberwindbare Distanz, aber auch wohliges Wiedererkennen all der Details des Albums «Have You in My Wilderness».

Und am Freitag? Cate Le Bon und Jenny Hval hab ich leider verpasst, es sei aber toll gewesen, erzählt man sich. Bei den Pissed Jeans wurden erstmals die Füsse so richtig nass, wenn man mal unter dem Zeltdach der B-Stage war, mochte man nicht mehr so richtig weg, auch wenn man sonst nicht unbedingt geblieben wäre. Ebenfalls nicht so gut, weil mit der Brechstange und schlimmer Gitarre angerührt: Die Live-Umsetzung des Albums Elaenia des sonst geschätzten Sam Shepherds alias Floating Points. Die Brechstange hatte auch die laute Chaostruppe Fat White Family im Gepäck, wobei diese den lärmig-theatralischen Songs eindeutig besser anstanden. Ein versöhnlicher Abschluss. Zu den ersten Tönen der Supergroup Minor Victories ging es dann auch schon wieder auf den Zug, um bald die Schuhe unter die Heizung zu stellen.

Bizarre Musikgenres 24: Gospel Porn

Gisela Feuz am Samstag den 23. April 2016

Die Welt der Musikgenres ist eine vielfältige, bunte und manchmal unfreiwillig komische. In dieser Serie sollen Genres zum Zuge kommen, von denen Sie bis anhin vielleicht (zu recht) noch nie gehört haben. Heute: Gospel Porn.

Sie wollten ihre Anliegen der Zuhörerschaft so brutal, grob und direkt wie möglich um die Ohren hauen, sagt Hip-Hop-Künstler M3NSA im Interview. Er ist Teil des Rap-Duos Fokn Bois, zwei Sprechgesangs-Anarchos, die in ihrer Heimat Ghana ebenso umstritten sind wie die korrupte Regierung. So handeln die einen die Fokn Bois als regierungskritische Helden, für die anderen sind die Zwei gotteslästernde Staatsverräter.

Es ist durchaus im Interesse der Herren Fokn Bois, kreativ Unruhe zu stiften. Schliesslich sollen mit der Musik kritische Themen angesprochen werden wie etwa der doppelmoralige Religionswahn im eigenen Land, das Bleichen schwarzer Hautfarbe oder Homophobie. Für das Ausreizen der Genre- und Schamgrenzen haben die Fokn Bois eine eigenes Genre ausgerufen: Gospel Porn. Wie Wanlov the Cubolor erklärt, sei Porno doch nichts anderes als eine abstossende Flut an Bildern. Für die Fokn Bois sind dies aber nicht nur Bilder mit sexuellen Inhalten, sondern eben auch Kirche, Krieg und Kapitalismus gehören zu Porno. Und weil sie zeigen wollten, wie abstossend das Ganze sei, hätten sie ihren grenzensprengenden Sprechgesang Gospel Porn genannt. Halle-fucking-lujah, wie Trash-Reverend Beat-Man sagen würde.

Bizarre Musikgenres Teil 23: Atonal Kitten Music

Gisela Feuz am Dienstag den 12. April 2016

Die Welt der Musikgenres ist eine vielfältige, bunte und manchmal unfreiwillig komische. In dieser Serie sollen Genres zum Zuge kommen, von denen Sie bis anhin vielleicht (zu recht) noch nie gehört haben. Heute: atonal kitten music.

Atonale Musik und Katzenvideos kommen ja aus zwei unterschiedlichen Universen. Letzteres ist komplett bescheuert, ersteres je nach Sichtweise auch, oder aber das Resultat einer der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Atonale Musik ist nicht auf einen Grundton fixiert, sondern basiert auf der chromatischen Tonleiter, was aus der Sicht der Befürworter für Komplexität spricht, aus der Sicht der Gegner als Beliebigkeit eingeschätzt wird und gerne auch mal ketzerisch als Katzenmusik betitelt wird. Und da kommt Cory Arcangel ins Spiel.

Der 38-jährige Cory Arcangel ist ein New Yorker-Künstler, der sich in unterschiedlichen Gefilden austobt. Oft stellt er Werke her, indem er aus bereits existierendem Material wie Fotos, Videos oder dancing stands neue Arbeiten schafft und damit die Beziehung von digitaler Technologie und Popkultur untersucht. Und so lässt er auch mal herzige Büsis Arnold Schönbergs – der Übervater der atonalen Musik – elftes Opus klimpern.