Archiv für die Kategorie ‘Politik & Debatten’

Die bessere Stube

Roland Fischer am Montag den 31. Oktober 2016

In einer Stube hängt man gern einfach ein bisschen rum, Sessel und Wohnwand und Fernseher und so: gute Stube. Oder aber man versammelt sich mit einer netten Gesellschaft und erörtert die Welt, im Kleinen wie im Grossen: bessere Stube. Eben so eine hat unlängst im Progr aufgemacht.

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Hier soll es um Kultur sowie das grössere Ganze gehen. Wis­sen und Res­sour­cen sollen geteilt werden, es soll ge­mein­sam geler­nt und ge­stal­tet werden – und zwar ausdrücklich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Also sind Künstler aus dem Progr, die von ihrer Arbeit erzählen, in der Stube als Gast ebenso willkommen wie Non­pro­fit-Organisationen.

Heute abend zum Beispiel schaut der palästinensische Musiker Tamer Abu Gahzaleh nach seinem Konzert gestern in der Turnhalle auch noch in der Stube vorbei (ist ja auch nicht weit). Es wird nicht einfach ein weiteres Konzert geben, sondern ein Gespräch zur Entstehung sowie den Hintergründen seiner Musik. Und dazu passendes Essen.

Und morgen ist dann wie immer zum Monatsstart Stuben-Session, zu der das Hauptstadtkulturfonds-Projekt Time for Change eingeladen ist, das ganz im Sinne dieses Melting Pots Leute zusammenbringen und zum Nachdenken (und womöglich Dinge-Ändern) anmieren will:

Triff Dich über 10 Wochen mit anderen Menschen aus der Stadt Bern, egal ob Du alteingesessen, neu zugezogen oder gerade aus Deiner Heimat geflohen bist. Entwickle ein Hörspiel, ein Lied zu Deiner Geschichte oder schicke Deine Bekannten auf eine künstlerische Schnitzeljagd durch unentdeckte Orte in Bern.

Erzähl uns Deine Sichtweise. Was findest Du gerecht, was ungerecht in der Stadt Bern? Und auf was für grössere Zusammenhänge können wir daraus schliessen? Was lässt sich konkret ändern?

Dark Sound; Whispering

Mirko Schwab am Freitag den 28. Oktober 2016

Am Anfang steht so eine Journalistenfrage. Und weil der, der sie stellt, kein rechter Journalist ist und der, der sie beantworten soll, keine falschen Werbeslogans abgibt, entsteht daraus ein kleiner diskursiver Brand. In Gespräch und Besprechung: Clemens Kuratle, Schlagzeuger, Komponist und Kopf des Quintetts «Murmullo».

Setzt sich verbal ungern in die Nesseln und ist am Schlagzeug umso zupackender: Clemens Kuratle.

Ich frage: «Was erzählt uns deine Platte vom Jazz, was wir noch nicht wissen?» und ernte Gegenfragen. «Was erzählt uns neue Musik von der Musik, was wir noch nicht wissen? Was ist Jazz? Und was haben wir gewonnen mit Genrenamen?» Dass es eine  Notwendigkeit der Ordnung und des Sortierens gebe, wende ich ein, codierte Hinweise über Milieu-Zugehörigkeit und musikalische Beziehungen, mit dem Ziel, das Publikum zu leiten, zur Musik heranzuführen … Aber ob es produktiv ist, ob es musikalisch ist, in Säckli abzufüllen und sowieso: Was ist Jazz, ein alter Sack? Können wir Jazz stilistisch und ästhetisch hinreichend verorten? Oder zeichnet sich, was zeitgenössische Musiker damit und darin und daneben anstellen, vor allem dadurch aus, dass sie sich alle Freiheiten nehmen, ausscheren – und also erst eine methodische Definition dieser stumpfen Frage, was Jazz denn überhaupt sei, etwas Kontur zu verleihen vermag? «Das Komponieren im Moment, die Improvisation. Und daneben das Zeitverständnis als Bekenntnis zum musikalischen Puls, zum Time. Aber wir müssen sorgfältig sein mit Genrezuschreibungen.» – gerade weil weite Teile der medialen Öffentlichkeit damit operierten sei es wichtig, darüber ein feines Sensorium wachen zu lassen. Clemens Kuratle ist vorsichtig im Abschluss. Immer gibt es Ausnahmen – und vielleicht ist die Ausnahme die einzige Regel im Jazz, denke ich bei mir. «Oder den Begriff abschaffen: Jazz.»

Also liegt vor mir zunächst ein Stück Musik. «Murmullo», bald jährig, eine Sammlung grösstenteils von Kuratle selbst komponierter Stücke. Eingespielt von einer Truppe, die zum Studiotermin selbst noch nicht sehr eingespielt gewesen sein soll und darob im besten Sinn neugierig und im Prozess begriffen: Kuratle am Schlagzeug, Weiss an der Posaune, Jerjen am Bass, Hellmüller an der Gitarre und Voirol am Tenorsax.

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Kunst, Politik und Chaschperlitheater

Milena Krstic am Donnerstag den 20. Oktober 2016

«Em Schnäuzli sine letschti Kampf» ist eine Splätterlitheater-Produktion aus dem Jahr 2010. Es ist ein zünftiger Seitenhieb gegen rechts und wird im Rahmen des Reitschule Fests noch einmal gezeigt. Gestern war «Premiere» im Tojo.

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Tatort Tojo: Blick auf den Boden nach der «Schnäuzli»-Vorstellung.

Nein, des Luzerner Splätterlitheaters bester Wurf ist der «Schnäuzli» sicher nicht (das ist schon «Schlachthuus Südpol»). Toll ist sie zwar, die Idee, die Nazithematik in einem Chaschperli-Theater für Erwachsene zu verarbeiten, mit herrlich ulkigen Handpuppen (bedient von Nina Steinemann, Patric Gehrig, Jürg Plüss) und tollen, discoiden Toneffekten (Rebecca Stofer). Aber da gibt es zu viel Gebrüll, zu viele nervige Wiederholungen (die Tochter von Professor Möngele schreit gar zu oft nach ihrem «Papi») und saftig ist das herumspritzende Kunstblut, aber eher weniger die Pointen.

Es gibt sie aber. Sie stecken in der Aktualität: Etwa dann, wenn sich das Krokodil und die Eso-Nazi-Braut Eva von Thule auf den Weg zum «Rocktoberfest» in Unterwasser machen und sich der dumpfbackige Siegfried darüber ärgert, dass er sich «schon wieder die neue CD vom Gölä» anhören muss. Es geht in dieser Produktion wohl weniger um die perfekte Inszenierung, als um eine kunstpolitische Ansage: Rechtsrutsch? Finden wir kacke.

Und wenn wir schon bei der neuen CD von Gölä sind, nehme ich das zum Anlass, den Geniestreich der GeilerAsDu-Crew zu posten (auch ein kunstpolitischer Kommentar, einfach mit tief sitzender Hose):

Weitere Vorstellungen vom «Schnäuzli» gibt es am Freitag und Samstag im Tojo Theater.

Die Stadt lebt, wo sie ächzt

Mirko Schwab am Freitag den 30. September 2016

Dass die letzten Tage des Treppendachs am Bahnhof Ausserholligen GBS angebrochen sind, ist schnell gesehen: Der neue Stationsname ist mit Folie notdürftig über das alte Leuchtschild gepappt, Löcher im Plastik gähnen seit Monaten – in einer Stadt, in der kaum eine Kritzelei die Nacht ihrer Entstehung überlebt.

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«Ausserholligen GBS» Verschiedene Materialien auf Plastik, Stahl und Beton, Gemeinschaftsarbeit. Verschiedene Autoren, Bern, 2016.

Am Europaplatz wird eifrig an jener mutlosen Idee peripherer Stadt gewerkelt, wie sie auch im Wankdorf Niederschlag findet in gläsernen und doch feisten Büroklötzen und auf weitläufigen Betonplätzen, die sogar den Vögeln zu tot sind, um darauf zu rasten. «Entwicklungsschwerpunkte» nennen die Behörden diese städtebaulichen Versäumnisse der Spätmoderne. Und putzen weg, was noch da ist aus der Zeit der Vernachlässigung. Nur weil sich aber jahrzehntelang kein Schwein vermarktbare Namen ausgedacht hat für solche Orte, bedeutet das nicht, dass dort nicht auch gelebt worden wäre.

Zum Beispiel unser Treppendach. Eine in ungünstigster Weise modische Tat aus der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, heruntergehundet, und vergilbt, von kunstvollen Graffiti und hingekotzten, von sinnigen und juvenilen Kritzeleien übersät, Kleber, Kleister, Kaugummi, schlängelt es sich wie ein armer Wurm zu den Gleisen der Gürbentallinie herab. Es ist ein grossartiger, grossstädischer Ort, dem eine Geschichte ins Gesicht geschrieben steht. Die Geschichte der Wütenden, Verliebten und Gelangweilten, die sich am Europaplatz schon herumtrieben, als der Ort noch nach dem Karrosseriebauunternehmen Gangloff hiess und kein eigenes Einkaufszentrum hatte. Wer denkt sich eigentlich immer so innovative Konzepte aus?

Es ist also ein symbolischer Ort amtsgrauer Ideenlosigkeit und unliebsamer urbaner Sprenkel. Das autonome «Café Toujours» ist Anrainer des Platzes, sie werden es räumen. Und sie werden das Treppendach wegputzen, weil es den «Kundenanforderungen» nicht mehr genüge und verschandelt sei. Das Hässliche aber gehört zur Stadt und die Verschandelung hat Urheber. Sie lassen sich nicht folgenlos weggentrifizieren. Und auch: Wollen wir Kunden sein?

Lasst den armen Wurm stehen und lasst ihn verenden. Solange ein Dach verhindert, dass alte Leute die nasse Treppe heruntergereicht werden, solange der Lift jene befördern kann, die ihn benötigen. Als Denkmal für den Wandel eines Orts, für Gleichzeitigkeit und Imperfektion. Als Oppenheimbrunnen und zufälliges Kunstwerk. Die anmutigsten urbanen Orte sind Schichtwerk – ironischerweise kann genau dieser aus der Zeit gefallene Ort jene Ahnung von Grossstadt einlösen, der die gutgemeinte Aufwertungsarchitektur provinziell hinterherhechelt.

Wie relevant ist Shnit?

Roland Fischer am Mittwoch den 28. September 2016

Was für einen Filmgeschmack hat ein Algorithmus? fragte gestern Der kleine Bund. Keinen, natürlich. Oder vielleicht doch einen bitteren Nach? Was das Shnit da als grosse Big Data-Revolution für Festivalmacher verkauft, ist eine Mogelpackung – und wohl kaum im Sinn der Filmemacher.

Gemeinsam mit einer englischen Firma hat Shnit ein digitales Instrument entwickelt, das die «relevanten Filme», wie van der Hoeven sagt, finden soll. Es analysiert alle wichtigen Filmquellen, vor allem Auszeichnungen, Festivals und Online-Plattformen, und sortiert dann die Filme nach vorgegebenen Kriterien.

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Relevanz gemessen in Auszeichnungen, Klickraten und Nominationen? Das klingt nicht nach Kultur sondern nach Rankinglogik (das immerhin in Reinkultur). Und es entlarvt dieses Festival wieder mal als Soufflé – rasch gewachsen, ohne viel Substanz. «Relevanz» ist nicht umsonst die Lieblingsworthülse der Silicon Valley-Weltumwälzer – die bei ihren Gewinnstrategien notabene sehr gern auf die Arbeit anderer setzen. So wie die Shnit-Macher auch, denn das mühselige Visionieren erledigen nun einfach andere Festivals für die algorithmisch versierten Schlaumeier. Wer so auf die Suche nach Qualität geht und Kunst als Summe von Kennzahlen begreift, dem ist es nicht eigentlich um gute kulturelle Inhalte zu tun, sondern vor allem um den eigenen Erfolg (der sich wiederum anhand von Publikumszahlen bemisst).

Und wo wir schon bei Zahlen sind: Ab nächstes Jahr muss das Shnit auf 70’000 Franken vom Bundesamt für Kultur verzichten, doch «mit den neuen Gebührengeldern wird diese Lücke zu kompensieren sein», sagt Festivalchef van der Hoeven – für jeden eingereichten Film wird neu eine Gebühr fällig. Wegfallende Subventionen auf die Künstler abwälzen? Auch eine Möglichkeit. Eine Lenkungsabgabe, finden die Festivalmacher, statt 10’000 müssen sie so nur noch knapp 5000 Filme visionieren. Dürfte sich auch so noch rechnen: 5000 mal 35 Franken (im Schnitt) – mit einem sechsstelligen Plus unter dem Strich verschmerzt man die Absage des BAK natürlich leicht.

Ah übrigens, «kuratieren» kommt, via englisch curate, vom lateinischen curatus: one responsible for the care (of souls). Man darf es also ruhig sagen: ziemlich seelenlos, so eine Festivalphilosophie.

Die HKB auf Landgang

Roland Fischer am Freitag den 16. September 2016

Der Kanton Bern ist ein eigenartiges Konglomerat von Stadt und Land. Die HKB will dem 2017 auch mehr Rechnung tragen und nicht mehr nur die Zentren Bern und Biel bespielen. Sie hat deshalb die Ausschreibung «HKB geht an Land / La HKB touche terre» lanciert und die rund 350 Kantonsgemeinden eingeladen, Ideen für künstlerische Projekte einzureichen, die in einjähriger Zusammen­arbeit mit Dozierenden und Studierenden der HKB zur Umsetzung kommen. Gestern wurde das Siegerprojekt präsentiert: Das Rennen gemacht hat nicht etwa der Süden, das Vorzeige-(Ober)land, sondern der oft übersehene Norden. Saint-Imier und die umliegenden bern­jurassischen Gemeinden im Regionalpark Chasseral konnten mit einer spannenden Historie zwischen Industrialisierung und Anarchie und vor allem natürlich mit vielen leerstehenden Industriebauten punkten, die nun künstlerisch wiederbelebt werden sollen.

Zum Beispiel der alte Schlachthof gleich neben dem Bahnhof Saint-Imier, allein schon ein Ausflug wert (nebenbei: seltsam, was man früher als postkartenmotiv-würdig erachtet hat):

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Und dann eben: Leerräume à discretion. Was der Stadt notorisch fehlt, im Jura ist es vorhanden. Vielleicht sollte die HKB da oben eine fixe Dependance einrichten? Berührungsängste hätten die Jurassier bestimmt keine.

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Vorbei 1 nicer Sommer

Mirko Schwab am Donnerstag den 1. September 2016

Wie kann man Ihnen und sich selbst, frühmorgens und bei bestem Wetter die Laune vermiesen? Mit einer zünftigen Dosis Endlichkeit. Der Sommer ist vorbei. Anlass, einen fünfundzwanzigjährigen Songtext auf unsere Zeit hin zu befragen.

Symbolbild: Winter kommt.

Symbolbild: Winter kommt. (Lucien Lenoir)

1991 ist schon ein Vierteljahrhundert her. Ich war damals erst ein schüchterner Flirt vor dem ISC. Aus Westnordwest wehte ein rauher Wind über den atlantischen Ozean und aus Ostnordost eine abgeflaute eiserne Bise. Und mein Held Kuno gab seiner Stimme ein bisschen Extraluft: «Dr Summer isch verbii.» Ein lakonisches Résumé über die paar einfachen Dinge, Halt statt Verlangen, ein wenig Demut vor dem Altweibersommer. Das bisschen Weltschmerz, das bisschen Konsum, das bisschen Melancholie und das bisschen Nachsicht mit den Dingen.

Und so schön es ist und stimmig – und bei aller Verehrung für meinen Helden, wundert es mich doch, wo mich dieses Lied hinführen könnte am heutigen Tag im Jahr Zweitausendundsechzehn.

Der Sommer ist vorbei. Es war 1 nicer Sommer. Und es ist viel passiert und viel Scheisse die Facebook-Timeline runtergeflossen und oft hatte das wenig gemeinsam miteinander. Die Welt dreht sich noch immer. Wenn wir uns Ferien verdient haben und die harte Gönnung, und ein Lüftlein geht und etwas Bräunung, dann ist das Leben hier doch gar nicht mal so schlimm. Wenn wir die Welt anschauen würden. Wenn wir die Zeitung lesen würden. Aber so gibts keinen Grund zum grübeln. Solang der Kater noch säuft und #läuft, und es noch grad für die nächste Scheibe reicht, liegts irgendwie, haltkleb noch drin. Solang am Morgen noch ein neuer Tag anfängt. Solang noch Kohle Koma Karma etwa stimmt. Solangs Bilder gibt vom eigenen Gesicht. Solang man alles schluckt und nicht erbricht.

Werkstipendien der Musikkommission Bern: Allez-y!

Milena Krstic am Dienstag den 9. August 2016

Sie machen Musik, stammen aus Bern (oder tummeln sich grösstenteils hier herum) und haben eine gloriose Idee? Natürlich haben Sie das. Aber Ihnen fehlt die Kohle, um Ihr Vorhaben umzusetzen. 

Was aber wäre, wenn die Musikkommission der Stadt Bern Ihnen finanziell unter die Arme greifen würde? Et voilà. Das könnte eben passieren, wenn Sie sich für ein Werkstipendium bewerben. Das Konzept ist neu und die Kommission versucht damit, von der typischen CD-Produktionsförderung wegzukommen, um auch spartenübergreifenden Projekten eine Chance zu geben.

Klingt doch ziemlich luxuriös, sich schon während der Entwicklung einer neuen Chose nicht so sehr um den Zaster kümmern zu müssen? Eben. Bewerben Sie sich.

Und bitte: Lassen Sie sich was Tolles einfallen, damit die Auswertung für die Jury auch ein bisschen Spass macht. Ich gehöre da nämlich dazu und freue mich, viele spannende Anträge prüfen zu dürfen. 

Hier noch die Eckpunkte, die Sie aber auch in der offiziellen Medienmitteilung finden:

  • Der Bezug zur Berner Musikszene muss deutlich erkennbar sein (we mean it).
  • Es heisst in der Medienmitteilung zwar, dass Sie professionell sein müssen, aber das heisst jetzt nicht, dass ein Studium vorausgesetzt wird. Wichtiger ist, dass Ihre Idee uns umhaut.
  • Eingabefrist: 31. Oktober. Sie haben also noch knapp drei Monate Zeit.

Allez-y!

Wie ein Rössli aus der Asche

Mirko Schwab am Donnerstag den 4. August 2016

Das Stadttheater ist am Ende! Sie denken jetzt bestimmt an den sympathischen Klotz auf dem Waisenhausplatz, messieurs dames – aber die Rede ist von einem Haus mit Ecken und Kanten mehr. Die Reitschule macht heut den Laden wieder auf und hat nebenbei sämtliche gesellschaftlichen Probleme aus der Welt geschafft. Alle Neuerungen in der exklusiven KSB-Übersicht.

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Einen knappen Monat gaben sie sich Zeit im alten Pferdestall, auszumisten, einzurenken, durchzulüften. Manch einer hat die chaotischen Zustände beinahe vergessen, die vor dem selbstverordneten Time-Out das Volk auf Trab gehalten, wehrlose Tele Bärn-Praktikanten durch die Gefahrenzone gepeitscht und ein ungezügeltes mediales Überschäumnis provoziert haben. Wir liefern deshalb die Ausgangssituation mit und beleuchten die Hintergründe, vor denen dieser Neuanfang zu bewerten ist.

KulturStattBrenn: Mit Konzerten, Kino und Kost gegen den Terror

Vor der Reform: Die Reitschule gleicht einer Stadtwüste. Ausser ein paar abgegammelten Jugendlichen ohne Perspektiven wagt sich keine Menschenseele auf den Vorplatz. Im Innern der Festung: von Kultur keine Spur. Im Infoladen wird die Bibel verbrannt, das Dojo bildet in Stadtguerilla aus. Einzig aus der Cafete ist Musik zu hören, leider Goa. Kein schöner Anblick.

Damit ist nun Schluss. Erstmalig sollen die Räumlichkeiten für kulturelle Zwecke genutzt werden, im Dachstock sind Darbietungen verstärkter Musikgruppen geplant, darüberhinaus ein Kinematografentheater mit Leinwand an der Stelle, wo jahrzehntelang desilussionierte Aktivist_innen gegen die nackte Wand gestarrt haben. Flohmarkt, Tanztheater und ein Restaurationsbetrieb runden das gefreute Angebot ab.

Systemüberholung: Frauenstimmrecht und Demokratie jetzt!

Vor der Reform: Es gilt das Gesetz des Stärkeren, Pfefferspray zerstreut scharfsinnige Kritik, diskutiert wird, wenn je, in skandierten Halbsätzen und schreihalsiger! Interpunktion. Frauen und Minderheiten ziehen sich in einen eigenen Panikraum zurück.

Das hat jetzt ein Ende. Eine Delegation fortschrittlicher Reischüler_innen hat sich durch den unterirdischen Geheimschacht ins Bundeshaus geschlichen, um beim Anblick einer Parlamentssession einmal so richtig mitzuschneiden, wie Demokratie und Gesprächskultur funktionieren. Die Reitschule wird in der Folge fix in eine Handvoll verfeindeter Kleinstgruppen aufgesplittert, die möglichst aneinander vorbeizureden haben, aber wenigstens mit Rednerpult. Wer nicht dran ist, soll sich den Beobachtungen im föderalen Palast zufolge seinen privaten Korrespondenzen widmen oder am Online-Feed gütlich tun. Frauen und Minderheiten dürfen mitreden, werden aber meistens überstimmt.
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«Original»™

Roland Fischer am Mittwoch den 3. August 2016

2016, die Autoren sind längst tot. Und die musikalischen Originale sowieso. In Deutschland verlieren die nicht mehr so neuen Musikerneuerer Kraftwerk höchstinstanzlich eine wichtige Runde im Sampling-Streit gegen einen Emporkömmling namens Moses – was sogar die betuliche FAZ feiert, wenn auch ein wenig frotzelnd:

Das Bundesverfassungsgericht hat für das Grundrecht auf Hiphop entschieden. Vize-Gerichtspräsident Ferdinand Kirchhof sagte, ein Verbot würde „die Schaffung von Musikstücken einer bestimmten Stilrichtung praktisch ausschließen“, womit er die Stilrichtung des kopierten Bum-Tschak meinte.

Und in der Schweiz macht der böse Bube Kummer wieder mal von sich reden und bringt die versammelte Journaille mit so etwas Profanem (und ja eigentlich schon fast Steinzeitlichem) wie Copy/Paste zum Geifern. Wahrlich seltsame Zeiten, was Original und Kopie angeht. Womit man allerdings nicht gerechnet hätte: Dass ein, sagen wir mal: diskurstheoretisch wenig ehrgeiziges Festival wie das Lakeland (im Seeland!) den nächsten Meta-Schritt wagt. Und das Original kurzerhand zum Zitat erhebt. Sehr souverän gelöst, die Frage, wieviel Ursprung in dieser Uralt-Band noch drin steckt.

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