Archiv für die Kategorie ‘Politik & Debatten’

Zukunft Zukunst!

Roland Fischer am Donnerstag den 9. November 2017

Es zukunftet gerade wieder mal sehr, heute. Überall strienen Kinder herum und finden heraus, wo es für sie am besten eine Zukunft gibt. Da gibt sich auch Frau Schaller heute im Bund-Interview zur nächsten Legislaturperiode gern «grosszügig» (oder nun ja: sie gäbe sich – sie kann ja nun mal nicht selber darüber entscheiden, wie voll der Kulturgeldtopf letztendlich sein wird), der Bund selber indessen leider weniger, deshalb gibt es das Interview nur für Abonennten. Aber keine Sorge, Frau Schaller ist viel zu sehr Diplomatin, als dass sie da wirklich etwas Substantielles verraten würde – journalistische Zaungäste verpassen also nichts. Vielleicht also eher heute abend im Kornhausforum vorbeischauen, beim aktuellen Berner Kulturgespräch, in dem es um dasselbe Thema gehen wird? Auch da wieder keine Verlinkung, exgüse, die Veranstaltung scheint es offiziell gar nicht zu geben. Aber ist doch öffentlich? Dürfte jedenfalls spannend werden, mit dem Dampferkapitän Märki, der Freibeuterin Kretz und der Lotsin Schaller auf demselben Podium.

Und wer aber sowieso der Meinung ist, das alles bachab geht: Man kann auch rüber ins Naturhistorische Museum, da gelingt heute das Kunststück, Vernissage und Letzte Tage zu verbinden. Und zwar geht die neue grosse Ausstellung zum Thema «Weltuntergang» auf – Untertitel «Ende ohne Ende». In dem Sinn: Es wird und muss schon irgendwie weitergehen.

Kunst aus Meeresmüll

Gisela Feuz am Donnerstag den 26. Oktober 2017

2030 wird mehr Plastik im Meer schwimmen als Biomasse. Welche Auswirkungen dies auf die Menschen haben wird, lässt sich nicht genau beziffern. Fakt ist, dass schon jetzt zuhauf Meerestiere gefunden wird, deren Mägen voll mit Plastikteilchen sind. Via Nahrungskette landen Mikro-Kunststoffteilchen dann auch in unseren Mägen. Gesund sein kann das nicht.

Auf die Plastikmenge in den Weltmeeren will der Berner Künstler Harald Reichenbach aufmerksam machen, das Mutterschiff hat hier ausführlich über sein Projekt berichtet. Mit seinem 14,5 Meter langen und 4,3 Meter breiten Einmaster kreuzt Harry einmal rund um die Weltkugel, wo immer er Halt macht, wird an den Stränden Müll gesammelt und zu Kunst verarbeitet. Der Erlös aus dem Verkauf der G-Cubes, also den gepressten, 10x10x10x cm grossen Harz-Würfeln, kommt Projekten zu Gute, welche nachhaltiges Müllmanagement betreiben. Darüber hinaus bindet Harry, wo auch immer er anlegt, die lokale Bevölkerung in sein Kunstprojekt mit ein und produziert zum Beispiel mit Schülern G-Cubes. Losgesegelt ist Harald Reichenbach am 20. September in Marseille, mittlerweile ist er offfenbar auf den Kanarischen Inseln angelangt, wo auch die lokale Presse auf ihn aufmerksam geworden ist.

Harry Reichenbachs Reise kann hier mitverfolgt werden.

Himmel und Hölle, alles dasselbe

Milena Krstic am Freitag den 6. Oktober 2017

Wie lässt sich ein solch sensibles Thema wie Suizid künstlerisch verhandeln? Die Berner Schauspielerin Martina Momo Kunz hat gestern im Schlachthaus Theater eine mögliche Form gezeigt – und damit das Publikum begeistert.

Der Wahnsinn: Martina Momo Kunz ist zur einen Hälfte Biest, zur anderen die suizidale Hélène.

Suizid, also Selbsttötung, da sind wir uns einig, ist eines der heikleren Themen. Wer darüber ein Theaterstück schreiben will, muss sich noch mit ganz anderen Dingen beschäftigen als Dramaturgie und Outfits. Martina Momo Kunz hat für ihr Stück «Les mémoires d’Hélène: The Beast in You» die Zusatzarbeit getan, sich durch Diskussionen im Netz gelesen und mit der Präventionsstelle Rücksprache gehalten. Wenn sie also als die suizidale Hélène auf die Bühne tritt, ist sie sich ihrer Verantwortung bewusst. Das zeigt ihre Aussage, die sie im Interview mit dem «Bund» gemacht hat:

«Suizid ist sehr ansteckend. Das zeigt sich etwa, wenn es nach dem Freitod einer bekannten Person zu Suizidwellen kommt. Und deshalb sprechen die SBB auch von Personenunfällen. Oder im Journalismus gibt es den Kodex, dass man einen Suizid nicht zu genau beschreiben sollte wegen des Nachahmungseffekts.»

Von Verantwortungsbewusstsein war auf der Bühne gestern Abend – zum Glück –  nichts mehr zu spüren. Jedenfalls nicht während des Stücks. Da beschrieb die überspannt  glückselige Hélène verschiedene Arten des Freitods, genüsslich, im Detail, während sie ihren Tee und den ihres imaginären Gegenübers süsste. Bassist Flo Götte (unter anderem bekannt aus der Band von Evelinn Trouble) spielte dazu eine Tonspur in den Färbungen Metal, Doom und creepy Horrorfilmmusik. Das war laut, das war gruselig und mindestens so einnehmend wie ein Blockbuster. Dessen Ästhetik hat sich Kunz nämlich bedient. Sie übersteigert mit einfachsten Mitteln, was wir sonst aus dem Film kennen: Stimmeffekte, die sie mühelos von der Rolle des Biests in die der Hélène gleiten lässt, Joker-Frazen-Schminke und ja, eben, diese donnernde Musik.

Auf ihrem Weg in den Wahnsinn singt sie uns eine eigene Version von Michael Jacksons «You Are Not Alone», nur bei ihr heisst das Lied «You Are Not Enough», eine zynische Referenz auf die schweizerisch-protestantische Leistungsgesellschaft.

Ein weiterer Auszug aus dem Interview:

«Ein Grund, warum ich das Projekt mache, ist, dass ich auf Reisen miterlebt habe, wie die Schweiz oft für das Paradies gehalten wird. Und gerade wenn man beachtet, wie gut wir es haben, ist es recht schwierig, unsere relativ hohe Suizidrate zu erklären. (…) Was ich versucht habe, war vielmehr, mich auf den Suizid als Kollateralschaden unserer Leistungsgesellschaft zu fokussieren. (…) Eine Rolle spielt auch unsere protestantische Ethik: Fleiss und Arbeit stehen im Zentrum; wir zielen darauf ab, etwas zu werden. Scheitern liegt nicht wirklich drin.»

Das Stück ist eine rasante Reise ins Jenseits, wo derbe Witze erzählt und Jahrmarktmusik gespielt wird. Ob Himmel oder Hölle spielt keine Rolle. Hélène in ihrem hautfarbenen Nachthemd wird zu einer netten Bekannten, in der sich eigene Abgründe spiegeln.

Am Ende des wilden Ritts, nach dem Verbeugen und beklatscht werden, da spricht Martina Momo Kunz zum Publikum, man möge doch noch hierbleiben, Fragen würden gern beantwortet, Rückmeldungen seien erwünscht. Während des Stücks hat Hélène völlig losgelöst von Verantwortung den Karren an die Wand gefahren. Das war schon ziemlich genial, wie sie das hingekriegt und somit das Publikum komplett und frei von jeglicher Gefühlsduselei in den Bann gezogen hat.

Für «Les Mémoires d’Hélène: The Beast in You» hat Martina Momo Kunz letztes Jahr den zweiten Platz am Premio Nachwuchspreis für Theater und Tanz gewonnen. Das Stück wird heute Abend und am Samstag um 20.30 Uhr im Schlachthaus Theater gezeigt.

An der Sache vorbeigelärmt

Mirko Schwab am Freitag den 22. September 2017

Der Schweizer Musikpreis wird heute verliehen. Und natürlich darf geschossen werden. Trotzdem ist geboten, die Kirche im Dorf zu lassen. Leise Replik auf einen lärmigen Noisey-Text.

Eine der fünfzehn Nominierten für den Hauptpreis: Elina Duni, Sängerin zwischen Tradition und Avantgarde.

Wenn heute Abend in Basel die Hauptgewinnerin oder der Hauptgewinner des vierten Schweizer Musikpreises verkündet wird, sind die bitteren Zeilen längst verfasst. Kollege Riegel etwa bemängelt bei Noisey, dass nur Alte auf der Shortlist stünden, darüberhinaus noch solche aus unpopulären stilistischen Fächern. «Wieso gewinnen nur alte Menschen den Schweizer Musikpreis?» fragt sich entsprechend die gewohnt poetische Überschrift über dem Text des Musikmagazins von Vice. Blick zurück: Vor einem Jahr wurde Sophie Hunger mit demselben Preis geehrt. Alter: dreiundreissig. Handwerk: Pop. Ergebnis: Scheisssturm.

Im genannten Artikel selbst wird das nicht unterschlagen. Trotzdem verschenkt sich der Text der These, wonach der Musikpreis zunehmend zur Würdigung «hochstehende(r) Musik für alte Menschen» würde. Eines stimmt: Im Vergleich zu den Vorjahren (der Preis besteht seit 2014) ist etwas weniger Pop auszumachen im Spektrum der Nominierten. So what? Nächstes Jahr schon könnte es wieder anders sein.

Die vage Formulierung des Anspruchs, der an die Preisträger*innen gestellt wird, das Fehlen von Kategorien – sie sind gleichzeitig Fluch und Segen dieses Preises. Fluch deshalb, weil sie den Lautsprechern das beste Angebot sind, draufloszustänkern – immer verbunden mit der Anmassung, die musikalische Landschaft eines Landes in ihrer Gänze besser erfassen zu können, als es eine siebenköpfige (swiss so sweet, isn’t it?) Jury von Expertise zu leisten im Stand ist. Für eine gehaltvolle Auswahl, gerne auch mit Akzenten und Überraschungen hie und da, ist die grosszügige Auslegung freilich ein Segen.

Natürlich darf geschossen werden. Ein Preis von hundert Kisten bedarf einer feinen Begründung und ist der Öffentlichkeit ausgesetzt, Denkanstösse und Diskussion sind wichtige Korrektive. Ab er es stellt sich immer auch die Frage der Qualität solcher Wortmeldungen, wenn Kritik offenkundig verkürzt daherkommt. So gibt sich Riegel als Fürsprecher einer Generation «unter 51», Advokat eines koketten «Pöbel(s) von Noisey», der sich ums Musikschaffen in der Vielfalt nicht schert. Das ist erstens eine brüchige Position für einen Musikredaktor, selbst bei Spartenheftern wie Noisey. Zweitens falsch, weil gerade Exponentinnen wie Elina Duni oder Jojo Mayer durchaus viele Bewunderer haben in unserer Generation und als Vorbilder dienen. Und drittens und vor allem ist es: irrelevant.

Ginge es nämlich beim Schweizer Musikpreis um einen Popularitätswettbewerb, hätten auch die von Riegel als spontane Gegenvorschläge angeführten Künstler nicht die geringste Chance. Das ist die musikalische Marktlogik unseres kleinen Lands. Der echte, vielleicht Vice scrollende, kaum je Noisey lesende Pöbel nämlich zuckte mit den Schultern vor Namen wie Fai Baba, One Sentence. Supervisor oder JPTR. Allesamt verdammt gute Projekte, die den Sprung ins Ausland schafften oder schaffen werden, die also vorerst auf die Reperbahn gehören, bitte von Pro Helvetia und Swiss Music Export und den inländischen Förderinstrumenten vergoldet werden sollen. Die aber, schlicht schon aufgrund ihrer relativ kurzen bisherigen Schaffenszeit, kein Thema sein können für einen solchen Schweizer Musikpreis, der auch spezialisierten Lebenswerken von Gewicht und Länge Tribut zu zollen hat, Jürg Wyttenbach als Beispiel.

Überhaupt wird in solcher Kritik ein seltsam schwarzweisses Bild gemalt. «Wir» gegen die andern. Pop gegen die «Elite». Grosszügig übergangen wird hier aber das Selbstverständnis vieler Popmusiker*innen, Teil eines interagierenden, universalmusikalischen Ganzen zu sein. Viele der Biographien dies- und jenseits dieser fragwürdigen Grenzziehung streifen einander oder werden es noch tun. One Sentence. Supervisor taten sich jüngst für einige Konzerte mit dem Oud-Virtuosen Bahur Ghazi zusammen, beinahe die gesamte Band Fai Baba hat an einer Jazzhochschule ihr Handwerk gelernt und man wünschte sich JPTR als treffliche musikalische Zutat einer zeitgenössischen Theaterproduktion. Was der «Pöbel» dazu fände? Ist eben scheissegal.

Gegen eine laute, zickige These, die Platz findet in einer Überschrift, hat dieser Kommentar mit Sicherheit einen schweren Stand. Aber ich plädiere für eine leise und umsichtige Beobachtung dieses für die Schweizer Musiklandschaft in ihrer Ganzheit wertvollen Formats. Gerade weil es sich nicht numerisch, kategorisch oder direktdemokratisch festlegen lassen muss. Der Schweizer Musikpreis verdient es als überblickender, nicht an der aufs Jahr abgerechneten, numerischen Ausbalanciertheit aller erdenklichen Stilrichtungen interessierter Preis, dass Kritik an seiner Praxis ebenso mit ganzheitlichem Blick formuliert wird.

Also abwarten, erstmal easy bleiben und ein bisschen Demut gegenüber den Expert*innen, zwei bisschen Gönnerschaft gegenüber den Prämierten aufbringen – und die Kirche im Dorf lassen. Dorfgeschwätz wirds auch nächstes Jahr wieder zur Genüge geben.

Der Preisverleihung kann ab 19 Uhr via Livestream beigewohnt werden.

Dampfere einst und jetzt aber!

Roland Fischer am Donnerstag den 14. September 2017

Es hatte eigentlich alles seine Ordnung:

Mitte der 1980er-Jahre war das Veranstaltungsangebot der Bundesstadt bescheiden: Die freie Tanz- und Theaterszene suchte nach Auftrittsorten. Die Reitschule war verbarrikadiert, die Hüttensiedlung Zaffaraya niedergewalzt. Der Verein Dampfzentrale entstand 1986. Sein Ziel war die kulturelle Nutzung der Dampfzentrale Bern. So reichte er beim Gemeinderat der Stadt Bern ein Gesuch ein.

So hatte das mal ausgesehen da unten – zunächst ländliche Idylle (aus dem Archiv der Burgerbibliothek: Ansicht der Dampfzentrale von Süden – Kamerastandort: ehemaliger Spitz des Marzilibades), dann Rumpelkammer (merci Dampfere! Fotograf: Hansueli Tachsel).

FP.E.186, Bern: Marzilistrasse 47; Marzili, 1904 – ca. 1940, Artist:anonym

Und weil sich in diesen bewegten Zeiten auf dem Dienstweg nicht so viel bewegte, wurde

im Mai 1987 die Dampfzentrale Bern für eine Nacht besetzt und der Züri West-Song «Hansdampf» entstand: «D Wäut schteit uf em Chopf u dräit sech überem Parkett, 1000 Bärner dräie mit u i schtah irgendwo ir Mitti, u cha nid gloube, was i gseh.»

Und für die Nostalgiker hier noch ein Youtube-Fund, 1993:

und das, 1988.

Weitere Funde gern in die Kommentare! Nun wird aber erst mal gefeiert, ab morgen. Mit einem tollen dreitägigen Programm.

Bitte lenken!

Roland Fischer am Mittwoch den 23. August 2017

Welche Museen wollen wir? Beziehungsweise: will der Bund? Es ist derzeit nicht mehr so einfach zu sagen – die Förderstellen üben sich in einer Kulturpolitik des Ungefähren. Wollen wir ein Alpines Museum? Aber ja! sagt das BAK, es ist selbstverständlich eines der auch mit Bundesgeldern geförderten Schweizer Museen. Aber nein! sagt es gleichzeitig – denn die Höhe des Beitrags stellt den Weiterbetrieb in Frage. Die Mittel werden in einer Weise verteilt, die an kafkaeske Behördenapparaturen denken lassen. Unpersönlich, opak, für den Behördengänger auf ewig fremd. Aber mit einer unerbittlichen Logik versehen.

Soweit die bekannte Geschichte aus Berner Sicht. Aber schauen wir mal über den Tellerrand. So tönt es in Basel:

Das HeK, Haus der elektronischen Künste Basel, gehört auch ab 2018 zu den Empfängern von Subventionen durch das Bundesamt für Kultur (BAK) und darf sich damit darüber freuen, als Institution mit nationaler Bedeutung ausgezeichnet worden zu sein. Leider geht dieser Entscheid einher mit einer grossen Enttäuschung, da das HeK eine Kürzung der Subventionsgelder um 40% verkraften muss.


Und das Architekturmuseum steht nach dem BAK-Entscheid ebenfalls vor der Schliessung. Gut hat die WOZ mal ein wenig genauer hingeschaut und beim BAK nachgefragt, wie da entschieden wird – mit anderen Worten, welche Strategie hinter dem neuen System steckt. Und man muss sagen: offenbar gar keine.

Kritik von Hächler [Chef Alpines Museum]: Ihm fehle eine inhaltliche Auseinandersetzung bei der Auswahl: «Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der in den Museen verhandelten Themen wurde bei der Mittelvergabe offensichtlich nicht gestellt.» Natürlich nicht, kontert Menna [Mediensprecher BAK]: «Thematische Lenkung zu machen, ist nicht die Funktion des Bundes.»

Natürlich nicht? Man sagt es am besten mit Watzlawik: Liebe Kulturfunktionäre, man kann nicht nicht lenken! Wenn man sich also entscheidet, keine thematische Lenkung zu machen, dann wüsste man immerhin gern, welche andere Lenkung da gewählt wird. Nochmal die WOZ:

«Das Modell einer Kulturförderung per Rechenschieber ist besorgniserregend», schreibt der Verein der Museen im Kanton Bern, der gemeinsam mit anderen regionalen Verbänden eine Stellungnahme verfasst hat. «Inhalte, Ansätze, Vernetzung, Bedeutung und Ausstrahlung passen in kein Rechenmodell. Sie zu gewichten, gehört zu den Aufgaben einer verantwortungsvollen Kulturpolitik.»

Oder verendet klinisch tot

Mirko Schwab am Freitag den 11. August 2017

Sternschnuppen am Nachthimmel, ganz Bern tanzt zur Temporärmusik. Vergessen wir die Treue nicht. Alles Gute unter der Brücke!

Schützenmatsch. (Franziska Scheidegger)

Es ist Sommer und die Sandsteinstadt mal wieder in der Manischen: Holzbühnen, Siebdruck, Volksküchen allenthalben, überall schöne kleine Projekte zur Verlustierung und politischen Wohlfühlmassage. Ein Hauch von Grossstadt eben, sagen sich die Berner*innen stolz, aber leise. Auch dem Sommer ist es nicht hunnipro geheuer: Er schickt das Städtchen zurück ins Grau und verhängt Nieselnächte bei 11° Celsius – nicht gleich «meinen» und schön demütig bleiben. Hopp YB.

Ein guter Grund für kulturpolitische Demut feierte gestern sein Vierteljahrhundert. Das «Sous Le Pont», Hausrestaurant der Reitschule. File under: stadtweit beste Frittes (ausser bei bisweilen allzu verliebter Besalzung und nebst überhaupt recht vielseitiger Karte zwischen kulinarischer Ambition und saisonaler Bodenhaftung) und im wortwörtlichen Volksmund liebevoll «Souli» geheissen. Und so zeitgeistig sich dieses Geburtstagsfest gerierte mit flockig Freiluft-Dayrave und DJ-Culture und so, als wäre auch hier nur die Lust am Flüchtigen zu zelebrieren, so ungleich grösser ist das Verdienst dieses Hauses.

In der Zwischennutzungs-Euphorie geht nämlich manchmal fast zverlieren, wer erstens im Winter die Stellung (in dem Fall: die Stallung) hält, wenn der Glasbrunnen versiegt und Schneematsch liegt auf der Schütz und die Boys mal wieder zehn oder mehr Punkte Rückstand bejammern. Wer sieht dann zu, dass es was zu festen gibt, Obdach ist für die nächtliche Herumtreiberei von uns Tagedieben und eine Flasche Grappa bereitsteht, wenn einem die Frau das Bett verwechselt hat?

Zweitens sind es gerade diese Instiutionen, die unter widrigsten Umständen und im eiskalten Klima bürgerlicher Verstocktheit gekämpft haben: Dafür, dass wir heute mal eben gemütlich bei der Stadt anklopfen können, für einzwei lustige Tage, Wochen oder Monate einen Flecken  zwischennutzen können und noch gäbig ein paar Kisten Kulturgeld hinterhergeworfen bekommen, sobald wir «Interdisziplinarität» richtig schreiben können. Ist das nicht schön? Sicher doch. Ist es selbstverständlich?

Ein paar Identitätsfragen sollten wir also nicht zu faul sein, sie zu stellen. Bei all der Freude an der sommerlichen Temporär-Diversität, gegen die ich hier nicht anzuschreiben gedenke, sie mitfeiere und selbst mitgestalten will. Institutionen wie die Reitschule sind im Gegenteil sogar darauf angewiesen, dass neue Akteure die Initiative ergreifen und die Bürde verschiedenster sozialer Bedürfnisse mitschultern, die von der Reitschule als Kuckucksmutter des Berner Nachtlebens immer selber getragen werden muss. Aber eben: Nachhaltigkeit hört nicht auf mit der Wahl des richtigen Mehrweggeschirrs.

Mein fav boy Urs, wie so oft mit dem Durchblick zwischen Stil und Standpunkt – du hast diese kulturpolitischen Fragezeichen bei verschiedenen Gelegenheiten schon anklingen lassen und nichts mehr als ein Anschluss daran sind meine Worte: Don’t forget your Brasserie, your Eidgenossen, verleugnet nicht den Internationalen Strobo Club, das Ross, die Cafete nicht, das Kapitel nicht und den Dachstock nicht, landet spät in der Casa M oder verendet klinisch tot beim Henkerbrunnen, auch wenn der Sommer glauben macht, sie alle seien gar nicht nötig.

Und meinem lieben Souli Alles Gute, du alte Sau.

This Is The Funniest Metallica Shred Ever Made. Period.

Mirko Schwab am Donnerstag den 27. Juli 2017

«About the absence of women and the presence of hair.» Die Berner Buckelkatze Roger F. grätscht gesellschaftskritisch ins Stadionkonzert.

Viermal brüderliches Reiben mit Mähne.

Was ist ein Shred? Mensch nehme einen Filmauschnitt eines auf allen ebenen übersättigten Grosskonzerts, eines Events; starring zu viel weisse Mannen mit phallischen Gitarren auf einer zu kolossalen Bühne, zuviel Lichtschau, zuviel mass hysteria – und unterlege den Ausschnitt mit einer Neuinterpretation des Originalsongs in extra verschissen. Ein Attentat auf die hegemoniale Zurschaustellung der eigenen Macht im Popkanon oder auch einfach ein schadenfreudiges Spässchen.

In meiner Fantasie allerdings stecken dahinter Frauen aus aller Welt, die den licks-wichsenden Bühnenchauvis einen reinbremsen. Nicht die generationell-zyklische Lust am Vatermord also, sondern eine feministische Briefbombe wird hier in die youtube trends geschmuggelt. Und auch wenn die meisten der abertausend auffindbaren Shreds inna Interwebs wohl ein sauglatter Einfall gelangweilter weisser Kifferjungs sind, bietet dieses Digitalgenre doch einiges an politischer Projektionsfläche.

Roger F. – White Men With Guitars (Schnitt: Roger F. und Giorgia P.)

 

Wohl auch für Roger Fähndrich also known as Roger F., der gerade seinen Protestsong «White Men With Guitars» im Shredgewand ins lokale Internet abgelassen hat. Nicht einfach als Videoclip, wie er betont haben möchte, und auch mitnichten nur als weitere Metallica-Verballhornung. Nein, hier sind wir erst an der Oberfläche dessen, was Fähndrich mal wieder an subversiver Buckelkatzen-Action bereithält.

Der Text erzählt uns von der Vormachtstellung des weissen, männlichen Gitarrenhelden und seiner Inszenierung als Rebell und Prophet einer besseren Gesellschaft, besserer Werte, die nichts weiter mehr sein kann als ein billig tapezierter Marketinggag und letztlich der Selbsterhaltung ebenjener dicktatur zu dienen hat. Und also sind wir angehalten, nie!, nie mehr zu verfallen diesen white men with guitars als Marionetten von Marionetten. Besser mal das eigene Büchlein plündern und sich rausnehmen aus der ganzen Scheisse. Empfiehlt uns Roger F., weisser Mann mit Klampfe. Ein Widespruch, der keiner Auflösung bedarf und dem Protestsong verleiht, was ihm traditionell fehlt, eben auch den brusthaarigen Gitarrenhelden und ihren Verkündungen fehlt: Ironie.

Weil hier nach Aussage des Interpreten nichts verkauft werden will, kein Promo-Porno abgezogen wird, verzichten wir auf die – an dieser Stelle übliche – Verlinkerei zum Werk. Stellvertretend sei dafür auf meinen Lieblingsshred verwiesen. Und auf der Krstics Lieblingsshred.

(Appendix: Die grössten Freuden bereiten solche Filmchen übrigens dann, wenn die originale Irritation der Band, wahrscheinlich über einen Monitormix, der geringfügig anders geraten als auf den vorangegangenen 157 Konzerten der Welttournee, wenn dieser kurze Moment der Unsicherheit also mit einer besonders miesen Stelle im Shredtrack zusammenfällt. Love that.)

Jung und stolz

Mirko Schwab am Donnerstag den 15. Juni 2017

Wir trinken, tanzen, taumeln an den urbanen Sehnsuchtsorten einer Jugend im Herbst. Er schaut zu und drückt ab. Nicola Schmid ist der Chronist unserer Jahre in Schwarz und Weiss.

Ich schicke voraus, auch dieses kleine Portrait entlang dem Gefühl einer gewissen Verliebtheit aufschreiben zu müssen. Sehen andere Schriebsteller ihre Ehrlichkeit darin vergütet, die Dinge aus sicherer Distanz beobachten und bezweifeln zu können, schreibe ich lieber Liebesbriefe, wo ich es ehrlich kann. So this song is another love song.

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Er, sie, es? Egal!

Milena Krstic am Freitag den 5. Mai 2017

Verzeihen Sie mir, ich bin wirklich ganz kurz angebunden nur, aber ich möchte Ihnen sagen, dass Sie sich «Genderpuff» im Schlachthaus Theater ansehen gehen sollten. Mit ihrer Grossmutter, ihrem Kind, ihren Eltern, ihren Neffen. Nehmen Sie alle mit, die Sie mobilisieren können (wobei es eben nur noch am Montagmorgen Tickets gibt).

Der Jugendclub Schlachthaus spielt
‘Genderpuff’. Foto: Yoshiko Kusano

Das wird zwar lustig, aber keine leichte Kost, wenn der Jugendclub des Schlachthaus Theaters auf der Bühne gebährt, sich benetzstrumpft, schauläuft und  s ä m t l i c h e  Geschlechterklischees voneinander nimmt. Ariane von Graffenried hat einen mächtigen Text geschrieben zum ewigen «Was-isches»-Thema und Caroline Ringeisen hat ihn gemeinsam mit den Jugendlichen vorzüglich auf die Bühne gebracht.

Ich habe vor Ergriffenheit fast geheult und trage die Hoffnung in mir, dass zukünftige Generationen tatsächlich ein Museum besuchen müssen, um sich darüber zu wundern, wie das früher möglich war, dass man Menschen in Männer und Frauen unterteilen musste.

Es gibt nur noch Karten für am Montagmorgen um 9.30 Uhr.