Archiv für die Kategorie ‘Politik & Debatten’

Heiter bis wolkig

Roland Fischer am Sonntag den 10. Juni 2018

In eigener Sache: Gestern an der Tojo-Bar gesessen, Wolken Revue passieren lassen:

Granular-Synthese, Wolkenbrüche, Bühnenwahrheiten. Geschichtete Atmosphären, Kunst und Künstlichkeiten. Man war sich dann einig, dass man vielleicht deshalb gern Kultur macht: weil sie etwas Wolkiges hat, weil sie kommt und geht, weil Licht und Schatten und überhaupt nicht manifest. Dann grätscht Rihs dazwischen, vom Barhocker nebenan: Jurassicas Text ist gelöscht.

Und man denkt: Cloud und so. Digitale Unfassbarkeiten. Löschen kann man heute höchstens noch Feuer.

Und man denkt: Aufmerksamkeitsökonomie. Cumulus. Donnerwetter.

Sich vernehmen lassen!

Roland Fischer am Mittwoch den 6. Juni 2018

Die Zahlen allein sind ja wirklich beeindruckend:

So steht es am Schluss der Vernehmlassungsvorlage städtische Kulturförderung 2020-2023, die von der Präsidialdirektion unlängst präsentiert worden ist. Da wird so einiges Spannendes vorgeschlagen, das Mutterschiff hatte sich das schon mal en detail angeschaut. Ein grosses Stichwort ist die Teilhabe, und so handhaben wir es hierzulande ja auch mit politischen Prozessen (auf dem Papier zumindest). Kurz, was da von behördlicher Seite vorgeschlagen wird ist noch lange nicht in Stein gemeisselt. Bis Anfang Juli darf man sich einmischen, der Stadtpräsident persönlich hat dazu eingeladen:

Wo im einzelnen mehr Geld ausgegeben werden und wie sich das Verhältnis der Mittelzuweisung zwischen Institutionen und direkter Förderung verändern soll, darüber gibt die vorliegende Vierjahresplanung Auskunft. Die Präsidialdirektion schickt sie in eine breite Vernehmlassung, um Ihre Meinung zu hören.
Ich freue mich auf alle Rückmeldungen und auf die Diskussion mit Ihnen.

Also sorgen wir dafür, dass sich da nicht nur die Miesepeter zu Wort melden, die das Papier (und Kulturausgaben) aus Prinzip zerpflücken. Dass mehr Geld für die Kultur zur Verfügung gestellt werden soll: wunderbar! Aber wo soll es hin, wer soll wie profitieren vom Geldsegen? Hier kann man sich ganz einfach online äussern.

Glockenspiele

Mirko Schwab am Freitag den 25. Mai 2018

Der Zytglogge leuchtet frisch frisiert. Schade: Ein weiteres mal hat es die Denkmalpflege verpasst, den Zeitgeist abzubilden im Glockenspiel. Vier Vorschläge für eine modernere Repräsentation der Sandsteinstadt.

Immer wenn der Glocken-Gockel kräht, der Narr in seinen Schellen rührt, die Bärlein tänzeln ringelreih, Chronos seine Sanduhr stürzt und ein Leu die Schläge zählt, die Hans von Thann über die Schindeldächer der alten Stadt schickt, weil es Zeit ist – immer dann also, wenn der Zwölfer nicht recht passieren kann, weil eine Traube Touristen auf der Strasse steht und der entnervte Chauffeur mit dem Gedanken spielt, so eine asiatische Reisegruppe einfach mal im Sinn der Pädagogik leicht anzufahren – immer dann vergibt man hier die Chance, wirklich etwas zu erzählen von dieser Stadt und dem wilden Leben darin. Dabei böte auch das post-millenniale Bern Stoff für Geschichten, erzählt in mittelalterlicher Hemdsärmeligkeit.

Vorschlag I
«Reit for your Reit o. der Rytglogge»

Der Hahn kräht – und trägt jetzt Igelfrisur, ach Erich zu Hesz, du alter Blasebalg – und immer immer die selbe Leier! Die Drehscheibe bringt einen Bären hervor, darauf reitet Retho Nause, der mit langer Schlangenzunge nach einem Reigen schwarzgekleideter Narren faucht. Die Narren heben das Kopfsteinpflaster aus dem Boden und werfen es dem Aargauer Tyrannen als Bsetzi-Steine vor den Latz. Wieder kräht der Hesz. Taugenichtse, Tagediebe, Trunkenbolde: ein Miniatur-Vorplatz wird gezeigt, knöcheltief im Wein tanzen Jung und Alt, stiernackige Ritter geben sich auf die Grinde, zwei Kinder stehen auf einer Scheibe, die sie ins Lot zu bringen versuchen, derweiil die Zeiger der grossen Uhr wild übers Zifferblatt wischen. Kräht der Hesz ein letztes mal, so umarmen sich die Kinder, die Balance ist gefunden und die Zeit wird angezeigt.

Vorschlag II
«Bern und die Kultur o. der Filzglogge»

Der Hahn kräht, diesmal verkörpert durch Herzog von Leduc. Die drei ersten Töne von «O VII IX», ein Lied über die verhinderte Minne, sind zu vernehmen. Die Drehscheibe zeigt den kulturellen Austausch der Generationen: Karl Tellenbach schneidet Simeon v. Hari den Schnauz, Mani «der Barde» Matter zieht Olivarius «dem Barmann» Kehrli eine Laute über die Rübe, Friedenreich zu Glausern aus dem Siechenhaus legt indes Matho Kämpf eine Krone auf. Wieder kräht der Herzog. Ein frivoler Bärentanz der Berner Kultur und ihrem Filz. Der vorderste Tanzbär wird vom folgenden am Anus geleckt, hinter dem Rücken des ersten dann dreht sich der zweite, spuckt zu Boden und lässt sich vom nächsten bedienen, der sein Zünglein spielen lässt und schliesslich spuckt – immer weiter und so fort. Das letzte Herzogs-Krähen. Die weiblichen Kulturschaffenden scharen sich um den Oppenheimbrunnen, Jeszika von Jurassien stellt eine grosse Sanduhr auf den Kopf – die Zeit ist angezählt, time’s up!

Vorschlag III
«Wolfram und Johannes o. der Heldenglogge»

Der Hahn kräht «Fuessbau-Schwizermeischter!» Ein Helden-Tableau wird angerichtet, in gold-schwarz bemalte Ritter jonglieren einen Lederball über den Köpfen ihrer Widersacher hin- und her. And just because we’re going medival: Köpfen ihre Widersacher hinterher. Rotes und blaues Blut tränkt den Heldengrund. Der Hahn kräht « Schölölö!» Der kraushaarige Ritter Wolfram Marcus Wölflîn fliegt durchs Halbrund und fängt mit seiner rechten Hand den Lederball. Der Hahn kräht ein letztes mal recht trunken, bevor der heldenhafte Mohr Johannes Petrus im Turmhelm droben – eine Minute vor der vollen Stund – an die Glocke stüpft. Sie wird in der Folge zwölfmal angeschlagen.

Vorschlag IV
«Glocke der Gastfreundschaft o. der Metaglogge»

Der Hahn lacht. Kleine asiatische Touristen erscheinen auf der Drehscheibe, zücken Stab und Telefon und fotografieren die staunende Schar asiatischer Touristen mit Stab und Telefon, die am Turmfusse sich eingefunden hat.

Oder kann das weg? Da, unter dem Baldachin?

Roland Fischer am Donnerstag den 26. April 2018

Der Auftakt zu einer neuen Rubrik, womöglich. Im Stadtraum ist viel Kunst verstreut, auf Plätzen, an Strassenecken, an Hausfassaden. Manchmal springt etwas ins Auge, von dem man nicht recht sagen kann, ob das nun auch zur Kategorie «Kunst im öffentlichen Raum» gehört, oder ob man es, (sehr) frei nach Beuys, wegmachen kann.

Für die Ausstellung im Schloss Morsbroich ging das Werk nach Leverkusen und wurde dort eingelagert, da die Ausstellung noch aufgebaut werden sollte. Der SPD-Ortsverein-Leverkusen-Alkenrath feierte am 3. November 1973 in diesem Museum ein Fest. Zwei SPD-Mitglieder, Hilde Müller und Marianne Klein, suchten eine Schüssel zum Gläserspülen und entdeckten die scheinbar mit Heftpflaster und Mullbinden verschmutzte Badewanne, ohne zu ahnen, dass diese mit ihren Materialien ein Kunstwerk war. „Wir dachten, das alte Ding könnten wir schön sauber machen und benutzen, um darin unsere Gläser zu spülen“, erinnern sie sich, „so wie die aussah, konnten wir sie nicht gebrauchen. Deshalb haben wir die Wanne geschrubbt.“ Dadurch wurde ein Skandal ausgelöst; Beuys war nicht begeistert.

Noch berühmter ist natürlich die Fettecke. Noch einmal Wiki:

Die Ereignisse um die Fettecke machte dieses Werk zu einer der bekanntesten Arbeiten des Künstlers. Die Arbeit wirkte provozierend auf einen großen Teil der Gesellschaft und führte zu Kontroversen über die Frage, was als Kunst angesehen werden könne.

Na dann: Was sollen denn diese Linien auf dem Bahnhofplatz?

 

Kleines PS: Diesen Sommer lanciert die Kommission Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Bern das Projekt «Kunstplätze»: In Zusammenarbeit mit der Quartierbevölkerung werden Kunstschaffende temporäre Kunstinterventionen umsetzen. Gestartet wird in den Stadtteilen Länggasse-Felsenau und Breitenrain-Lorraine. Die «Kunstplätze» sollen in den kommenden Jahren zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Wohnort anregen, wie die Stadt mitteilt. Nächste Woche gibt es die erste Zwischenpräsentation für Länggasse-Felsenau – San Keller (Zürich), Ines Marita Schärer (Bern/Chur), das Künstlerinnenduo Hofer/Oppliger (Biel), Philip Matesic (Zürich) und Marinka Limat (Fribourg) haben Vorschläge für ortspezifische Interventionen erarbeitet. Samstag, 5. Mai 2018, 10 bis 14 Uhr, Gartenhalle des Blinden- und Behindertenzentrums, Neufeldstrasse 95.

Was soll die Schütz?

Roland Fischer am Donnerstag den 5. April 2018

Good News, es gibt wieder ein Neustadtlab auf der Schütz! Da formiert sich gerade ein Verein, der bestenfalls dann auch die kommende, gewissermassen offizielle Zwischennutzung für drei Jahre bestreiten möchte. Zunächst gibt es aber noch einmal eine (von der Stadt finanziell auch wieder unterstützte) Zwischenlösungs-Zwischenlösung.

Sammlung Hans-Ulrich Suter 1319, Bern: Länggasse; Schützenmatt — Rummelplatz; Freizeit, ca. 1925

Den Auftakt zur autofreien Schützenmatte macht das No Borders-No Nations-Festival der Reitschule am 27. und 28. Juli 2018. Dann wird aufgebaut und eine Woche später kann wieder experimentiert werden im Berner Städtebau-Labor. Aber was versucht man da genau eigentlich herauszufinden? Gute Gelegenheit für einen guten Text. Der Stadtplaner Chris­toph Haerle spannt in einem Gespräch mit Philipp Sarasin einen grossen Bogen, von den Foren der Römer bis zu den Public Spaces von heute.

Es erfolgt sogar eine Drei­tei­lung, indem im Hoch­mit­tel­alter, von Italien bis Deutsch­land, die drei Mächte der Politik, der Wirt­schaft und des Kultes ihre je eigenen öffent­li­chen Räume schaffen – den Markt­platz, den Domplatz und den poli­ti­schen Platz, wie etwa in Siena die Piazza del Campo oder in Rom den Campi­do­glio. Das ist der Platz, der eine Loggia hat, von der aus verkündet wird, was die Politik zu sagen hat; der Platz vor der Kirche hingegen ist der Ort der Prozes­sionen, und auf dem Markt­platz steht der Brunnen, an dem nach dem Mercato gewa­schen werden konnte. Mit anderen Worten, das, was bei den Römern, zumin­dest in der Zeit der Repu­blik, noch auf einem Platz zusam­men­ge­halten wurde, hat sich im Mittel­alter auf drei Plätze verteilt.

Das passt nun irgendwie gar nicht mehr heute. Dann kamen die Bürger und reclaimten die Strassen.

Im ausge­henden 19. Jahr­hun­dert aller­dings wurde mit dem bour­geois der Besitz­bürger zele­briert, der sich als Mit-Besitzer des öffent­li­chen Raumes verstand. Hier spielte aller­dings eine listige Dialektik: Indem der bour­geois gegen die voll­stän­dige Verein­nah­mung des öffent­li­chen Raumes durch die Macht auf der Teil­habe, auf der Teil­nahme am öffent­li­chen Raum bestand, war er immer auch citoyen, Staats­bürger, poli­ti­scher Bürger.

Und dann kam, hoppla, die Postmoderne.

[…] die Verbin­dung zur Frage nach dem post­mo­dernen Raum ist sicher darin zu sehen, dass diese neuen Räume nicht mehr auf den Zweck hin konzi­piert wurden, sie für die klas­si­schen poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen oder reli­giösen Funk­tionen auszu­statten.

Von da an kreist das Gespräch eigentlich um eine Leerstelle: Wenn für einen heutigen öffentlichen Raum keine dieser Funktionen mehr gilt, welche tritt dann an deren Stelle? Aber vielleicht ist das ja nicht Problem, sondern Lösung. Denn dann sagt Hearle noch etwas, das man ganz gut als Schütz-Motto brauchen könnte, oder?

Ich bin der festen Über­zeu­gung, dass öffent­liche Räume nur dann gute öffent­liche Räume sind, wenn sie funk­tional unter­be­stimmt sind.

jessica jurassica #8

Mirko Schwab am Samstag den 31. März 2018

Yallah Kulturbürger*innen! Gastautorin Jessica Jurassica nimmt Sie mit auf Tour de Lowlife, Mittelstandsverwahrlosung shady side up.

auf einer toilette im bundeshaus wird eine linie koks gezogen / in einem backstage speed gerupft / in irgendeinem schummrigen keller eine pille geschmissen / vor dem casa marcello folie geraucht / irgendwo an einer fiesta am stadtrand liegt ein filz unter einer zunge / im rosengarten zündet sich jemand einen joint an //

alltägliche lebensrealitäten / umgeben von einer unumstösslichen mystisch-dämonisierten aura und im schatten der kriminalität / also übernimmt man halt selbst die verantwortung für sich und den konsum und für andere und für das was einem passiert / versuchen die kids halt selbst den umgang mit den stoffen zu lernen / meistens erfolgreich / manchmal weniger / und manchmal geht jemand kaputt dabei / irgendwo zwischen überdosiert und schlecht informiert und stigmatisiert und kriminalisiert / aber alles ist gut solange man unsichtbar ist und nicht zur problem gruppe gezählt wird / im schatten des untergrunds bleibt / während die öffentlichkeit den weissen teufel an die wand malt und von suchtfreier gesellschaft träumt / während in jeder einzelnen bar dieser stadt jemand mit einem bier sitzt und den feierabend mit nervengift begiesst

Jessica Jurassica ist unsere neue Gastautorin, die in unregelmässigen Abständen aus dem bernischen Prekariat berichtet. Zur Erinnerung: Boy Schwab hat hier ausführlich introduced.

Liebe BesetzerIn

Mirko Schwab am Freitag den 30. März 2018

Ich bin einer eben dieser, die du der doppelten Moral bezichtigst. Ich mache Musik für Geld (manchmal) und organisiere Musik für Geld (sometimes) und schreibe über Musik für Geld (pafrois).

Dieser Text erscheint nur deshalb, weil die Mutter der Selbstbereicherung, Ta-mère-dia!, so sehr keinen Fick auf dieses Blog gibt, so sehr, dass sie nicht nur keine anständige Entlöhnung aufbringen mag für die Zeilen, die wir aus uns herausprügeln (ajvt). Sie nimmt wahrscheinlich nicht mal Notiz davon und ich kann hier also treten, schreien, quängeln im Schatten meiner fetten und trägen Mutter.

Darum lass uns über Selbstbereicherung reden. Und lass uns das am Beispiel meiner fetten Mutter tun. Und am Beispiel der Reitschule und ihres Dachstocks, der schon lange leise und jetzt mal wieder laut in die Kritik geraten ist, Kollateralkritik, ich weiss, aber eben latent – und Kritik vielleicht auch von dir. Weil du findest, dass der Kommercedes Benz hier falsch parkiert habe, weil du findest, dass die Bilettpreise zu hoch seien oder die Barpreise oder die Bühnenkante. Und weil du glaubst, dass sich da oben Menschen auf dem Buckel anderer oder zumindest auf dem Buckel einer Idee selber bereichern würden.

Was ich sehe: Im Dachstock wird Geld verlangt von Leuten, die bereit sind, Geld zu zahlen für die Kunst. Die Preise liegen weit unter dem, was der Markt (who dat boy?) rechtfertigen würde und zwar deshalb, weil da oben fürs Putzen und fürs Plakatieren alle gleich viel verdienen. Wenig. Einige leben davon. Dann vielleicht ermöglicht ihnen die mit Herzblut und einem glühenden ideellen Überbau (heisst: sinnvoll) verrichtete Arbeit eine Existenzgrundlage. Bleibt Geld übrig, wird es weiterverwendet. Für die Kunst, die sich nicht «lohnt» und für die Politik des Mittelfingers, den auch ihr erhebt.
Zwischen dieser Existenzgrundlage als Nährboden und der Selbstbereicherung besteht ein grosser Unterschied in der Welt, wie ich sie verstehe.

Zurück zur fetten Mutter. Die verlangt auch Geld für ihre Idee, den Journalismus. Im Unterschied zum Dachstock aber, der für seine Idee bereit ist, weitgehend auf Gewinn zu verzichten – individuell auf höhere Löhne und kollektiv im Nullsummenspiel – im Unterschied dazu lässt die fette Mutter ihr einstiges Innerstes langsam verkümmern und wirft es dem Markt (who him is?) vor zum Frass, investiert nach dessen Logik gerade dort, wo die Gewinne stimmen. Und anstatt den (noch dazu oftmals schmutzigen) Profit zurückzugeben an eine sinnvolle Idee, an eine Philosophie, schaut sie zu, wie sich das Geld schön weitervermehren lässt in den Mühlerädern sinnleerer, trauriger Selbstzweckbranchen oder schiebt sich den Gewinn gleich selbst in ihren faltigen, fetten Börsenarsch.

Es scheint mir wichtig, auch in grundsätzlicher Kritik in Verhältnissen zu denken. Wir, die Heuchler, die sich auf das Spiel einlassen, Geld nehmen und versuchen, etwas Sinnvolles vielleicht oder etwas Schönes immerhin damit zu treiben oder einfach nur zu leben von dem, was wir auzudrücken haben – wir sind am Seilziehen gegen die Selbstbereicherer, Kulturfeinde und Egoisten.

Willst du dieses Seil zerschneiden? Nur, damit die Lager eingegrenzt wären und die Feindbilder einfarbig? Damit es endlich nichts mehr zu diskutieren gäb?

Dass die Reitschule ein Ort ist, der sich grundsätzlich mit der Welt auseinanderzusetzen hat, ihre impliziten und expliziten Verträge brechen darf, ist richtig. Es hat sie zum wichtigsten Ort dieser Stadt gemacht. Dass die Reitschule auch ein Ort ist, der Teile der Welt, wie sie ist, anerkennt und dank dieser Anerkennung die Welt von innenher verändern kann, ist genauso richtig. Es hat die Reitschule vielleicht über die Zeit gerettet.

Mit dem Dachstock lässt sich reden.
Die fette Mutter hört mich nicht.

Liebe.
mrk

Lasst uns das System von innen aufmischen!

Gisela Feuz am Mittwoch den 28. März 2018

«Ein überwiegend weisses, männliches Line-Up fördern wir nicht.» Katja Lucker fand letzten Samstag klare Worte auf dem M4Music-Podium «Gender, who cares?!» zum Thema Gleichstellung in der Musikbranche. Lucker ist Geschäftsleiterin des Berliner Unternehmens Musicboard, welches es sich zum Ziel gesetzt hat, neue Impulse für die Pop- und Rockwelt zu setzen, beziehungsweise diese zu unterstützen, wofür der GmbH Landesgelder zur Verfügung stehen. Wenn Katja Lucker über fehlende Frauen und mangelnde Diversität in Line-Ups von grossen Festivals spricht, dann tut sie das mit Bestimmtheit und zeigt auf, dass durch ihre Art von «Erpressung» durchaus eine Verbesserung eingetreten ist. «Früher haben die vorwiegend männlichen Festivalmacher einfach ihre Kumpels angerufen und die auf die Bühne gestellt, heute sind die Line-Ups von Festivals, welche bei uns um Subventionsgelder anfragen, einiges vielfältiger.»

vlnr: Katja Lucker, Philippe Phibe Cornu, Regula Frei, Sandro Bernasconi, Hedy Graber, Moderation: Anne-Sophie Keller

Was im multikulturellen Berlin vorgelebt wird, stecke bei vielen Schweizer Festivals wie zum Beispiel auch dem Gurtenfestival noch in den Kinderschuhen, kritisierte Regula Frei von Helvetiarockt, was Gurten-Papa Phibe Cornu mit seinen Aussagen indirekt bestätigte (Frauenanteil Gurtenfestival 2018: etwas über 20%). Man sei aber auf gutem Wege, die Vielfalt auf den Bühnen zu erhöhen, sagte er. Ihm sei die Problematik von einseitigen, weiss und männlich dominierten Line-Ups lange schlichtweg nicht bewusst gewesen, sagte Sandro Bernasconi vom Open Air Basel. Erst im Gespräch mit weiblichen Bekannten sei er für diese Thematik sensibilisiert worden.

Frau Feuz wagt jetzt mal zu behaupten, dass hier einer der Hunde begraben liegt, die zu niedrigen Frauenquoten auf Schweizer Bühnen führen. Nicht böser Wille oder eine ernsthafte Diskriminierungsabsicht, sondern vielmehr fehlendes Bewusstsein, dass da etwas im Argen liegt. Drum: Darüber reden, reden und nochmals reden und zwar mit allen, die es hören wollen, und insbesondere mit allen, die es nicht hören wollen.

Und aber vor allem auch: Ladies tut euch zusammen, ergreift selber die Initiative und die Instrumente, werdet Tontechnikerinnen, Tourmanagerinnen, Jurymitglieder, Agentinnen, Veranstalterinnen, Produzentinnen und Bookerinnen! Unterstützt euch gegenseitig, rekrutiert andere Ladies! Lasst uns das System von innen aufmischen, bis Egalität und Diversität eine Selbstverständlichkeit geworden sind und wir dann wirklich mit ruhigem Gewissen sagen können: «Gender, who cares?!»

P.S. Beim M4musc lag der Frauenanteil gemäss Aussage von Hedy Graber, Leiterin Direktion Kultur Soziales der Migros-Genossenschaft, gesamthaft bei 44%. Am selbigen Abend standen ein paar Strassen weiter in der Marsbar bei Zayk, ebenso bei den Hexen im Dynamo 100% Ladies auf der Bühne. Schön!

P.P.S. Bevor Sie in die Kommentarspalten-Tasten hauen, werte Leserschaft, möchte ich noch den Vertreter des Berliner Labels Springstoff zitieren: «Wer heute als Booker kein diverses Line-Up präsentiert, hat ganz einfach seinen Job nicht richtig gemacht.» Diese Aussage bestätigte draussen bei der Zigarette danach der Vorzeigebooker aus der freiburgischen Pampa. Musiker würden ihm zuhauf angeboten, nach Frauen müsse man bisschen tiefer graben. Aber wer sich bemühe, könne durchaus ein diverses Line-Up auf die Beine stellen. Und der Mann weiss, wovon er spricht.

jessica jurassica #4

Mirko Schwab am Sonntag den 25. Februar 2018

Yallah Kulturbürger*innen! Damit hätten Sie nicht gerechnet, als Sie eben Ihren ABO+-Tagespass gelöst haben: Gastautorin Jessica Jurassica nimmt Sie mit auf Tour de Lowlife, Mittelstandsverwahrlosung shady side up.

Montage: Jessica Jurassica

lowlife lohnarbeit am heineken zapfhahn im rücken der YB fankurve / dafür sorgen dass die nüchternen betrunken werden und die betrunkenen noch betrunkener und die betrunken-hungrigen satt / dass der schaum auf dem bier nicht zu viel und nicht zu wenig ist / dass die YB wurst auf dem mit senf werbung bedruckten pappteller neben dem brötchen liegt / man weiss nie so recht ist es wirklich brot oder ist es karton / ist es pop kultur oder faschismus / ist es sklaverei oder lohnarbeit / aber alle sind nett solange die boys in führung sind und manchmal gibt es trinkgeld aus mitleid weil das bier auf der theke gefriert // und die mitarbeiterinnen working class heroines / halb befreit aus doppelter ausbeutung / damals irgendeine lowlife arbeit im gastro und zuhause irgendein lowlife boy der fürsorge und fütterung einfordert / verlebt aber nicht gelebt aber nicht gebrochen

Jessica Jurassica ist unsere neue Gastautorin, die in unregelmässigen Abständen aus dem bernischen Prekariat berichtet. Zur Erinnerung: Boy Schwab hat hier ausführlich introduced.

Dieser Schrieb wird Ihnen präsentiert von der Tamedia AG

Mirko Schwab am Samstag den 24. Februar 2018

Die Widersprüche aushalten. Es ist so ein Satz, den mein lieber Bongoboi Urs gerne einschiebt, wenn sich die Fronten zu verhärten drohen, der Diskurs Fratze zeigt statt Fruchtbarkeit. Es geht um das Dazwischen und die Demokratie. (Und um «Duscholux»!)

Die Widersprüche aushalten. Nichts beschreibt die Sandsteinstadt, in der wir leben, wohl besser als dieses Leitmotiv.

Bild: Jessica Jurassica

Und eines ist sicher: Das Wort «Diskurs» in der Kopfzeile hat noch nie jemanden zum Weiterlesen eingeladen und also Gratulation von Herzen, wenn Sie jetzt noch bei mir sind. Aber zwischen all den lustvollen und aus Überzeugung treuen Kulturgängen und Rezensionen, nebst dem Blick fürs Spezifische, nebst Rosinen, Ausschnitten, Momenten und all den Nahaufnahmen aus der Mitte unseresgleichen, im Abseits vielleicht (ihr Wichser!) – da könnte kurz Platz sein für die Frage nach den sandsteinernen Rahmenbedingungen und einer kollektiven Identität im Widerspruch.

Mach mal halblang (that’s what she said!). Was meinst Du zu erkennen?

Ich lebe zwischen Bundeshaus und Polizeirevier über den Stromleitungen der Strassenbahn, über Strassenmusik und Guggenmusik, über den Stromwegen des Tourismus, der Gschaffigkeit und des Rumlungerns. Eidgenossen und Marcellos Casa und das Bellevue-Fumoir sind sich nah. Projektionen am Parlament erklären mir die Schweiz in Bild und Ton, dann hat das Bürgertum eine Schlöf hingemacht, dann ist Markt. Dann ist Umzug dagegen oder dafür, Alertalerta. Amt und Bank, Armut auf Bänkli, Schachspielen und mit Drogen dealen. Irgendwo dazwischen sind wir alle.

Vorgestern las ich Rysers brillanten WOZ-Report über Kokain. Auf Kokain. Gestern gab ich mir Battlerap, freute mich an Punchlines like «Ich hab mit deiner behaarten Mutter Analsex auf Speed», diskutierte über Feminismus und war gut zu einer Frau. Heute gehe ich ins Stadion und schreie in der Kurve aus Linken und Rechten, Idioten und Gescheiten, Stadtchauvinisten und Landeiern, lasse mich von Werbung penetrieren bei jedem Eckball, jeder Einwechslung, jeder Gelben Karte, obwohl ich wirklich keine «Lust» habe auf ein neues Bad, fick dich «Duscholux» oder befriedige dich selber mit der Brause, ich gehe ins Stadion und träume von einem Meistertitel, der eigentlich wertlos, eigentlich sinnlos und doch aufs Ehrlichste mit meinem Glück – und dem vieler vermeintlich sehr anderer – versponnen ist.

Google fragt irgendwas, ich stimme zu.
Avocado kommt von irgendwo, ich lange zu.
Du sagst irgendwas, ich höre zu.

Im Dazwischen sind wir alle. Und das ist unser Glück. In unserer kleinen Sandsteinstadt verdichtet und verdoppelt sich der Widerspruch, denn wir sitzen alle am selben Tisch und im selben Tram. Sind selbst schon wandelnde Widersprüche. Auch wenn wir uns auf dem Dachboden verschanzen, Transparente aus den Fenstern hängen, Blasen aufblasen, Mauern hochziehen, gescheite Dinge behaupten und dumme Dinge schönreden (s/o to myself!) – es ist zu eng hier im Sandsteingemäuer, als dass wir uns nicht grüssen würden oder auf die Schuhe stehen und uns miteinander zu konfrontieren haben.

Es ist zu eng unter der Hirnrinde, als dass wir uns nicht selber ständig widersprechen würden. Das ist unser verdammtes Glück.