Archiv für die Kategorie ‘Bücher & Medien’

Bücherkiste: 3x Hamburg

Gisela Feuz am Samstag den 11. Oktober 2014

«When in Rome, do as the Romans do», sagt der englische Volksmund so schön, und meint damit nichts anderes, als dass man sich doch den lokalen Gepflogenheiten anpassen soll, wenn man sich in fremde Lande aufmacht. Auf die norddeutsche Stadt Hamburg bezogen würde das wohl so viel bedeuten wie «moin moin» brummeln, sich mit einem Astra oder Alsterwasser an die St. Pauli-Landungsbrücke setzten und den grossen Schiffen beim Containerverladen zugucken. Wagemutige würden sich evtl. auch das Musical «Das Wunder von Bern» antun, welches ab November im Theater an der Elbe gezeigt werden soll. Wer’s nun weniger mit singenden und tanzenden Fussballern (man stelle sich das bitte mal vor!) hat, sondern lieber literarisch in die Hamburger Welt abtauchen möchte, dem seien folgende Bücher ans Herz gelegt:

Sven Regener: Meine Jahre mit Hamburg-Heiner (2011)
Der Element of Crime-Frontmann Regener hat darin Blogs gesammelt, welche er in den Jahren 2005 – 2010 auf verschiedenen Plattformen veröffentlicht hat und die sich um Band-Tourneen, Album-Aufnahmen, Adventskalender oder Reflexionen zur Deutsch-Österreichischen-Freundschaft drehen. Das Mischwesen aus Roman und Tagebuch mit einer Vielzahl an wunderbar schlechten Fotos ist vor allem dank den abstrusen und aberwitzigen Dialogen mit einem fiktiven Freund namens Hamburg-Heiner äusserst vergnüglich und auch weil Regener überhaupt keine Scheu vor schlechten Kalauern und Nonsens-Gedankengängen zeigt. Oder wir er es selber nennt: «The endless Streams of Laber.»

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Kräne gucken am Hamburger Hafen.

Heinz Strunk: «Junge rettet Freund aus Teich» (2013)
Was hat der Strunk uns im 2005 doch für eine Freude bereitet mit seinem «Fleisch ist mein Gemüse», in dem die Welt von Schlager-Tanzkapellen, die von Dorffest zu Dorffest tingeln, beleuchtet wird. «Junge rettet Freund aus Teich» bereitet auch Freude, allerdings wird hier Komik mit schwerwiegender Tragik unterlegt. Mitte der 60er-Jahre wächst Mathias Halfpape (Heinz Strunks gebürtiger Name) im trostlosen Hamburger Stadtteil Harburg auf. Der zu Beginn der Geschichte 6-jährige Mathias erzählt auf liebenswürdige Art und Weise von den Schwierigkeiten, welche das Aufwachsen mit sich bringt, wobei der unbeschwerte naive Kinderton schwerwiegende Themen wie Depression oder körperlicher Zerfall kontrastiert. «Junge rettet Freund aus Teich» ist Strunks bis anhin traurigstes Buch. Aber wie er aus Anekdoten einer Kinder-Figur ein berührendes Drama entwickelt ist eine ästhetische Leistung für sich.

Rocko Schamoni: Fünf Löcher im Himmel (2014)
Eine fürwahr düstere und dramatische Roadnovel hat der Musiker, Autor und Schauspieler Rocko Schamoni mit «Fünf Löcher im Himmel» hingelegt. Nach einem Einbruch befindet sich der 67-jährige Paul Zech in einem geliehenen Datsun 24OZ auf der Flucht; zu verlieren hat er nichts, denn ausser seinem alten Tagebuch wurde ihm bereits alles genommen. Er beginnt die alten Einträge zu lesen und taucht dabei in seine Jugend ab, in welcher er bei Schultheater-Proben zu Goethes Werter nicht nur zwischen zwei Frauen geraten war, sondern auch in eine dramatische Eifersuchtsgeschichte, die sein zukünftiges (Gefängnis-)Leben bestimmen sollte. Auf seinem Roadtrip quer durch Norddeutschland rollt Paul die Vergangenheit und damit die grossen Fragen der Menschheit auf: Ist die Welt denn wirklich nur eine Theaterbühne? Und wenn man die Zeit totschlagen kann, kann man sie auch reparieren?

Bücher und andere Blüten

Miko Hucko am Donnerstag den 9. Oktober 2014

Frankfurter Buchmesse, hussah! Buchwürmer und Büchernärrinen habe ich zum Glück nicht erwartet, denn gekommen sind bis jetzt vor allem die Anzüge. In Scharen. Einige haben meine Frage, ob sie denn was gelesen hätten, mit «keine Zeit» geantwortet. Also halt.

Mit dabei natürlich auch: Die Schweiz. Mit einem typisch semipeinlichen Flaggen-Grüezi-Auftritt (siehe Bild). Wenigstens Wilhelm Tell ist für einmal daheimgeblieben.

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Noch ein bisschen peinlicher: Die Gruppe Junge Freiheit, die korrekterweise von den Veranstalter_innen in die Religionsecke gesteckt wurde. Ausser einer Zeitung geben die nicht viel raus. Und zudem lesen sich ihre Schilder von weitem, als wären sie noch Computergegner_innen obendrein.

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Aufs Wochenende wird’s wahrscheinlich spannender, weil 1. echte Besucher_innen kommen dürfen (nicht nur Fachpublikum) und 2. SOBOOKS!!

 

der Kreis soll sich schliessen

Miko Hucko am Mittwoch den 24. September 2014

The Circle. So der Romantitel und so auch gleich der Name der Firma, um die es darin geht, ein Supergooglefacebookapple quasi. Und nein, The Circle ist nicht das 1984 oder das brave new world des 21. Jahrhunderts, so sehr das auch einschlägige Kritiken behaupten möchten. Das liegt weniger an der Thematik (zu der komme ich gleich) als an der ziemlich plumpen und vorhersehbaren Storyline, die nur im Mittelteil wahrhaftig mitzureissen mag.

Die junge Mae kommt also zum Circle, frisch angestellt – und sieht sich der völligen Transparenz ausgeliefert, die sie nur positiv wahrnimmt: Alle ihre Daten werden für alle Mitarbeitenden zugänglich in einer grossen Cloud abgespeichert. Keine Geheimnisse mehr. Sprüche wie Privacy is Theft (vage Erinnerungen an War is Peace? Na?) beginnen sich im Buch zu entfalten, ein geheimnisvoller Mann taucht auf, und so weiter, ich will Ihnen das Ende ja nicht vermiesen.

Eigentlich hochbrisant: Die Arbeitswelt in den gefeierten Grossunternehmen des Silicon Valley einerseits und anderseits die Frage nach Privatsphäre. Oder vielleicht eher Anonymität? In unserer heutigen digitalen Welt gehen beide ineinander über, was Vor- oder Nachteile haben kann, wie ich auf diesem Blog oft schon feststellen musste. Es ist ein bisschen wie mit der geheimen Abstimmung, die dazu führt, dass Leute das Abstimmen, was sie wirklich denken, und nicht das, was sie in einer halböffentlichen Umfrage von sich geben. Die Anonymität kann Pulszähler der Politik sein, der Stimmung, weil durch sie Menschen eine Stimme erhalten, die sie sonst nicht hätten. Das kann auch bedrohend sein, aber nur dann, wenn die Anonymität ungleich verteilt ist: Ich, die ich diesen Text schreiben, muss dazu stehen, allfällige Kommentierende nicht.

Ist es also Privatsphäre (im Moment noch positiv konnotiert und als schützenswert verstanden) oder Anonymität, wenn ich unter falschem username ein statement von mir gebe? Die Frage ist auch: Vor wem will ich anonym bleiben? Vor dem Staat? Vor den Firmen? Vor meinen Mitbürger_innen oder nur vor denen, die nicht meiner Meinung sind? – Aber vielleicht läuft das ja in naher Zukunft, wie dystopisch in The Circle beschrieben, sowieso alles auf dasselbe hinaus.

Haben Sie mal eine halbe Stunde?

Christian Zellweger am Freitag den 29. August 2014

Dann gehen Sie raus, solange es grad nicht regnet. Oder Sie bleiben drin, vor dem Computer. Dann können Sie sich diese zwei Dinge ansehen, völlig zusammenhangslos aus dem Internet gefischt:

1. Miranda July hatte eine Idee. Von fremden Menschen und wie sie sich begegnen. Quasi das Leitmotiv ihres Werkes. Bewährt ist: Sie hat daraus einen Film gemacht. Neu ist: Sie hat daraus ein App gemacht:

2. Teju Cole schrieb einen Text. Über das Schwarz-sein 2014 und 1953, über Leukerbad und was das Heute mit dem Früher und mit den Ereignissen in Ferguson zu tun hat. Auch er bleibt seinen Leitmotiven treu und verknüpft Hoch- und Popkultur, Politisches mit Persönlichem:
Black Body: Rereading James Baldwin’s “Stranger in the Village

Und falls Sie doch lieber rausgehen, machen Sie Halt in der Buchhandlung Ihrer Wahl und suchen Sie nach Julys No One Belongs Here More Than You und Coles Open City.

Vielseitig aber trocken

Gisela Feuz am Sonntag den 24. August 2014

Die gestrige Affiche beim Abschlussabend des 5. Berner Literaturfests wäre perfekt gewesen, um das verknöcherte und geriatrische Image, welches Literatur bei vielen vor allem jungen Menschen leider nach wie vor hat, zu verbessern. Wäre. Jawohl, Konjunktiv, denn richtig in Fahrt kommen wollte das rauschende Fest nicht.

Den durchaus vergnüglichen Einstieg machte gestern im Kornhausforum Michael Fehr, der zu Piano-Klängen von Avantgarde-Komponist Simon Ho in kurzen zum Teil dadaistisch anmutenden Geschichten die grossen Welt-Themen abhandelte. Dass der grossgewachsene Fehr dabei von Heiserkeit geplagt war, tat dem Vortrag keinen Abbruch, sondern verlieh dem Ganzen eine durchaus sympathisch raue und verruchte Note.

Was folgte, war ein Gespräch rund um Pedro Lenz’ Erfolgsgeschichte «Der Goalie bin ig» und dessen Übersetzungen, wobei der Autor selber, drei Übersetzer und eine Übersetzerin vor Ort waren: Donal McLaughlin (Schottisch), Nathalie Kehrli und Daniel Rothenbühler (Französisch) und Raphael Urweider (Hochdeutsch). Wie Lenz richtig bemerkte, sei übersetzten eben nicht einfach nur übersetzen, sondern eine Neuschöpfung und so war es denn auch spannend zu hören, welche Probleme sich bei der Findung für die Sprache des Goalies in den unterschiedlichen Zungen ergeben hatten. Eine lebendigere und dynamischere Moderation und ein anderes Setting hätten der Gesprächsrunde allerdings gut getan.

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Urweider, Lenz, McLaughlin, Kehrli und Rothenbühler

Was zudem überaus schmerzlich vermisst wurde, war eine Bar, an der man sich in der Pause des doch langen Abends hätte gütlich tun können. Heilandzack, ein Abschlussabend einer Jubiläumsausgabe ohne Bar! Dort hätten doch genau der Austausch und die Begegnungen stattfinden können, welche Literatur zu etwas Lebendigem machen. So lauschte man dann halt nüchtern im nach wie vor äusserst nüchternen Setting den Vorträgen der Autören, die da sind: Lorenz Langenegger, Urs Mannhart und Christoph Simon, bevor das Spoken-Word-Kammermusik-Duo Fitzgerald & Rimini zum Abschluss neues Material vom kommenden Album «Grand Tour» präsentierte.

Vieles war gestern Abend gut. Zum Beispiel der Versuch die Bandbreite von literarischem Schaffen zu zeigen, indem nicht nur traditionell gelesen wurde, sondern auch Duos auftraten, die einen stark rhythmisierten musikalischen Gebrauch von Sprache ausloten. Schön wäre gewesen, wenn sich diese Experimentierfreude auch in der Präsentation, im Ablauf des Abends und in der Raumgestaltung manifestiert hätte. So war die ganze Angelegenheit dann doch eher auf der trockenen Seite. Und zwar nicht nur in den Kehlen.

Der kleine im grossen Tierpark

Gisela Feuz am Freitag den 22. August 2014

Man könnte sich ja durchaus die Frage stellen, wieso ehrenwerte Kultur im trivialen Tierpark stattfinde, bemerkte gestern Bernd Schildger, Direktor des Tierparks Dählhölzli, bei seiner einleitenden Rede zur nachfolgenden Literaturlesung vor dem Bärengehege im Berner Tierpark. Ein hochgestochener philosophischer Exkurs sei ja nun aber fürwahr nicht von Nöten, um diese Frage zu beantworten, führte Schildger weiter aus, «denn wo bitteschön sonst soll ein Werk mit dem Titel ‘Der kleine Tierpark’ präsentiert werden?» Wo er recht hat, hat er recht, der Herr Direktor, zumal die Bärenanlage im Dählhölzli eine wirklich fulminante Kulisse lieferte für die Lesung aus Robert Walsers Tiergeschichten.

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In Walsers «Der kleine Tierpark» haben Lucas Marco Gisi und Reto Sorg, beide vom Robert Walser-Zentrum, Tiergeschichten des rätselhaften deutschschweizer Autors zusammengestellt und herausgegeben. Gestern Abend las Schauspieler Stefan Suske seine Lieblingstiergeschichten aus dieser «bestialischen» Anthologie, wobei ihm die realen Bären im Dählhölzli zeitweise die Show stahlen mit ihren tapsigen Sprints durchs Gehege und mehr oder weniger eleganten Badeausflügen.

Robert Walsers Tiergeschichten sind vergnüglich und lustig, dann aber auch überraschend menschlich. So lässt sich von der liederlichen Lerche, dem strammen Kuckuck und der listigen Maus stets auch auf das Kalb in uns schliessen und wenn der verliebte Storch dem grimmigen Stachelschwein seine Liebe gesteht und bittere Tränen, ja Niagarafälle, vergiesst ob der groben Verachtung des Schweins im Stachelmantel, dann leiden und lachen wir gleichermassen. Walsers Texte fanden gestern grossen Anklang, zumal Suske diesen auch den nötigen (tierischen) Ernst zu verleihen wusst. Derweilen flitzten und hüpften die Spatzen durch die Bärenanlage und kümmerten sich herzlich wenig um die zahlreich aufmarschierte Zuhörerschaft, sondern dachten vielleicht allerhöchstens: «Ist doch für die Katz.»

Robert Walser: Der kleine Tierpark. Insel Verlag, Berlin 2014.

Die Lesung fand im Rahmen des 5. Berner Literaturfests statt, welches noch bis am Sonntag 24. August an verschiedensten Orten in der Stadt Bern und ausserhalb durchgeführt wird. Zum ganzen Programm gehts hier.

Bücherkiste: Die blaue Katze – Ein Frauenleben in römischer Zeit

Gisela Feuz am Samstag den 16. August 2014

RomanWomenWritingRömer? Die trugen Toga und Sandalen, hatten Sklaven und assen im Liegen. Cäsar? Der mit dem Lorbeerkranz? Ungefähr so viel oder so wenig dürfte dem Durchschnittsbürger aus dem Geschichtsunterricht, Asterix-Comics oder Hollywood-Schinken wie «Gladiator» bekannt sein. Populäre Erzeugnisse mögen zwar einen Eindruck vermitteln, wie es in Rom bei Brot und Spielen zu und her ging, allerdings ist bei solchen Werken auch immer viel Fantasie mit im Spiel.

Im wissenschaftlichen Umfeld ist Fantasieren verpönt. Darüber setzt sich die promovierte Prähistorikerin Geneviève Lüscher hinweg. In ihrem Roman «Die blaue Katze – ein Frauenleben in römischer Zeit» verknüpft die Wissenschaftsjournalistin gesicherte Fakten zum Imperium Romanum mit einer fiktiven Liebesgeschichte. Dazu stützt sich Lüscher einerseits minutiös auf Quellen aus römischer Zeit wie zum Beispiel den Historiker Tacitus (59–117 n. Chr.), hat sich mit Archäologen und Spezialisten ausgetauscht, alle Schauplätze besucht und lässt nur dort ihrer Fantasie freien Lauf, wo Details zum Leben einer Person nicht verbürgt sind. Auch die Liebesgeschichte zwischen der Helvetierin Mara und dem römischen Hauptmann Marcianus, die als roter Faden durch den Roman führt, ist so wohl nie passiert, das tut aber der Plausibilität von Lüschers Werk keinen Abbruch.

Rückblickend berichtet Mara aus Vindonissa (heutiges Windisch bei Brugg) ihren beiden Töchtern, was sie in den Jahren 68 bis 70 n. Chr. erlebt hat. Im schweizerischen Mittelland, das seit gut 100 Jahren römisch besetzt ist, findet eine langsame Romanisierung statt, einige vornehme Helvetier erhalten das römische Bürgerrecht und nehmen römische Sitten an. Zeitgleich erschüttern Bürgerkriege das Reich, ein Aufstand der Helvetier wird blutig niedergeschlagen und Überlebende werden von Hilfstruppen massakriert. Dörfer werden eingeäschert, Frauen und Kinder versklavt, derweilen in Rom innerhalb kürzester Zeit vier Kaiser nacheinander den Thron besteigen.
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Eine andere Welt ist möglich

Christian Zellweger am Donnerstag den 14. August 2014

Es ist wahrlich ein Lesesommer, wenn auch eher im Ohrensessel als auf dem Strandtuch. Auch im Häuschen im Wallis lässt sich ganz gut lesen (obwohl da das Wetter sogar Ausflüge auf Bergspitzen und Gebirgsgrate erlaubte, in der letzten Woche). Meine Lektüre für den wachen Kopf zu den müden Beinen war Der Innerschweizer, der Debut-Roman von Urs Zürcher.
innerschweizer

Der ist intelligent-vergnügliche Unterhaltung und ein gigantisches Spiel mit der Schweizer- und der Welt-Geschichte der 80er-Jahre. Bei Zürcher bleibt der Kalte Krieg keineswegs kalt, sondern mündet geradewegs in einen Dritten Weltkrieg, in ein Basel, das von den Russen besetzt gehalten wird, eine geteilte Schweiz. Direkt Schuld daran trägt die Basler WG, in die der Innerschweizer Urs (der Autor besteht darauf, dass bis auf Name und Herkunft keine Parallelen zu seinem Protagonisten bestünden) für sein Studium zieht.

Zu Beginn, Anfang 1979, ist auch bei Zürcher die Welt ganz in Ordnung, akribisch bis aufs tatsächliche Wetter zeichnet er den geschichtlichen Hintergrund für die WG-Soap aus der Sicht eines naiven Landeis. zürhcerWir lesen Urs’ Tagebuch, verfolgen, wie sich die linksrevolutionäre WG nach und nach radikalisiert. Und man entdeckt immer mehr kleine Fehler in der Weltgeschichte, bis zum grossen Knall: Bei einem Anschlag der Gruppe aus Leuten der WG, der eigentlich einem Schweizer Militärlastwagen gegolten hätte, kommt der höchste russische Spion im Lande zu Tode…und die Russen beginnen ihren Marsch in Richtung Westen. Basel wird zur Garnisonsstadt. Wie sich die Attentäter durch den Krieg stehlen, ist dann alles andere als antikapitalistisch, und wie sich der Protagonist nach dem Krieg durchs Leben schlägt, liest sich ganz anders als die Stimme des Jünglings zu Buchbeginn. Aber: Lesen Sie selbst.

Es wird Ihnen leicht fallen, trotz der Dicke des Buches, denn dem Sog der Tagebuch-Form entzieht man sich nur schwer. Ein schönes Sommer-Buch also, auch wenn der ohne Sonnenbrand vergehen sollte.

Übrigens: Ergänzt wird das Tagebuch von korrigierenden Anmerkungen eines Staats-Spitzels, der die WG in ihrer Basler Zeit überwacht haben will. Von ihm soll der Autor das editierte Tagebuch dann auch zugespielt bekommen haben, behauptet der. Diese Anmerkungen untergraben nicht nur die Verlässlichkeit des Tagebuchschreibers und seiner Notizen, sie lassen in Zeiten von neuen Überwachungsskandalen auch ein ganz schön ungutes Gefühl zurück.

Ändere deine Sicht!

Oliver Roth am Mittwoch den 30. Juli 2014

Manchmal bekommt man von guten Menschen, gute Tipps. Das Spiel Ingress gehört zu diesen Tipps. Es gehört auch zu den sogenannten «Alternate Reality»-Spielen und benutzt die Realität, um sie zu verändern. Es verändert beispielsweise Bern.

Heruntergeladen auf das Android– oder iOS-Smartphone wird schon zu Beginn klar: Das ist kein Spiel! «You have downloaded what you believe to be a game, but it is not!» 

Exotic Matter (XM) unbekannten Ursprungs sickert in unsere Welt! Entweder auf der Seite der Enlightened oder der Resistance kämpfend, sammeln die Spieler diese XM, hacken möglichst viele Portale, um diese schliesslich einzunehmen und miteinander zu flächendeckenden Feldern für die eigene Gruppe zu verlinken. Der Kampf um das Quartier, die Stadt, das Land, die Welt beginnt. «It’s happening all around you!»

Portale sind Sehenswürdigkeiten oder kleinere Gegenstände im ‘echten’, öffentlichen Raum, zu denen man sich hinbewegt. Zum Beispiel die Christoffel-Statue in der Bahnhofshalle, das Burgerspital oder die Paulskirche in der Länggasse.

Ingress verwandelt die sommerlich verregneten Gassen Berns zu einem alternativen Cyber-Schlachtfeld. Das Spiel lässt dich auf Spaziergänge mit Ab- und Umwegen geraten. Es verändert und erweitert deine Realität.

(Achtung: Für Datenlieferungen an das grosse «G» ist man selber verantwortlich.)

Heavy Metal und Melancholie

Gisela Feuz am Sonntag den 20. Juli 2014

Am zweiten Tags des diesjährigen Gartenfestivals im Kairo gab es eine Premiere: Eine Buchtaufe und zwar die von Roland Reichens «Sundergrund». Angeteigt hatte diese Matto Kämpf, der neue designierte Chef der Abteilung Literatur im Kairo, der gestern in bester Laune der heissen Wetterlage einen Zweizeiler widmete:

Bier im Summer.
Eher nid.

Roland Reichen hatte sich für seine Taufe den Gitarristen Patrick Abt auf die Bühne geholt, der kurze Intermezzi zwischen den gelesenen Textpassagen spielte. Und was für welche. Da im getauften «Sundergrund» (das bereits hier besprochen wurde) ab und an Heavy Metal gehört wird, steuerte Abt Einschübe aus diesem Genre bei, obwohl er normalerweise eher in ruhigeren musikalischen Gewässern segelt. Er habe sich im Vorfeld akribisch vorbereitet und sich durch diverse Schwermetall-Erzeugnisse durchgehört, erklärte Abt grinsend. Auf der Bühne lieferte dann ein Schlagzeugcomputer mit Doppelpauke die Basis für die wilden und lauten Einlagen, wobei Abt offensichtlich Freude an der Sache hatte und seine Gitarre schränzte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als in Heavy Metal-Bands zu spielen. Einzig die Flip Flops waren nicht so richtig Schwermetall-Uniform-konform.

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Patrick Abt und Roland Reichen bei der «Sundergrund» Lesung

Freude an der Sache hatte dann auch das Büsi aus dem Quartier, dass sich zu den Klängen der Lausanner Combo Cheyenne in luftiger Höhe über der Bühne von Ast zu Ast hangelte. Cheyenne wiederum hatten es mehr mit der Tiefe. So war die Stimme von Sängerin Dayla eine kräftige und kehlige, die Gitarrenarbeit, die dazu geliefert wurde, eine bluesig-psychedelische und repetitive, alles zusammen erinnerte phasenweise ein bisschen an den verdrögten Sound von The Doors.

Generell wurde viel Französisch gesprochen gestern im Kairo-Garten. Das mag daran liegen, dass Cheyenne und die Abschluss-Combo Buvette (wer kann berichten?) beide aus Lausanne kommen, vielleicht aber auch an Puts Marie aus Biel. Sobald die Tücken der Tontechnik ausgemerzt waren, boten diese beste musikalische Dramatik. Puts Marie haben den Dreh definitiv raus, wie man Songs aufblasen und wieder zusammenfallen lassen kann. Dieses dynamische Spiel wird durch die eigentümliche nasale Stimme von Frontmann Max Usate perfekt komplementiert. Das Resultat: wunderbar schwermütige Spannung und Melancholie. Und über allem glühten die grünen Fuchsohren.