Archiv für die Kategorie ‘Bücher & Medien’

Kultur allein zuhause #7: Unter Leuten

Saskia Winkelmann am Donnerstag den 17. März 2016

In Juli Zehs neuem Roman „Unterleuten“ kämpfen zwölf Menschen für und gegen einen Windpark in ihrem Dorf. Zehs zehntes Buch ist ein Gesellschaftsroman geworden.

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Sie haben es vielleicht mitbekommen: Bestseller-Autorin Juli Zeh hat vor ein paar Tagen einen Gesellschaftsroman veröffentlicht. Um es vorwegzunehmen: Herausgekommen ist ein mehr als gelungener Roman.

Juli Zeh hat Gutes und weniger Gutes geschrieben,
zehn Bücher und ein Theaterstück sind es inzwischen. Als Teenager habe ich „Adler und Engel“ und „Spieltrieb“ geliebt, gerade wegen dem Drama, den Themen, den grossen Metaphern und den Sprachspielen nach dem Motto mehr ist mehr. Später, als ich Autoren wie Markus Werner zu verehren begann, auch gerade wegen der Einfachheit der Sprache und Handlungen, wurde mir von Zehs Sätzen manchmal schlecht wie von zu viel Schwarzwäldertorte – auch wenn Zucker und Fett ja an sich super sind, zu viel davon verursacht einfach Bauchschmerzen. Die Krimis und Dystopien („Schilf“, „Nullzeit“, „Korpus Delicti“) habe ich mir dann gar nicht mehr zu Gemüte geführt. Das Theaterstück „Yellow Line“ war meiner Meinung nach eine Katastrophe (Stephan Schmieding und sein Schauspielteam haben es trotzdem erfolgreich zusammengestrichen und eine tolle Inszenierung letzten Frühling am Konzert Theater Bern gezeigt).
Dann habe ich den Reisebericht, eines ihrer ersten Bücher „Die Stille ist ein Geräusch” entdeckt, das seltsamerweise genau von den Wortspielen lebt, die mir beim Lesen von „Spieltrieb“ inzwischen so auf den Sack gehen würden.

Und jetzt also ein Gesellschaftsroman. Wer einen sich an dieses Genre wagt, will nicht viel weniger als alles. Der Roman will etwas abbilden, das für ein Grösseres steht und er will eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft sein. Ein Wagnis also für Zeh, an das sich wenige Deutsche Autorinnen wagen. Traditionell sind die Meister des Gesellschaftsromans allesamt Amerikaner.

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gegenaufgeklärt

Saskia Winkelmann am Freitag den 22. Januar 2016

Gegenaufklärung ist ein tolles Wort. Noch schöner ist es in Neonlettern geschrieben und über eine Bühne gehängt. Es macht viel auf und verbaut nichts. Ausgerechnet das Konzert Theater Bern veranstaltet die Talkshow von und mit Jürg Halter. Die in der Ankündigung verspricht “das Show-Prinzip“ zu „unterlaufen“. Passt das zusammen? Geht das? KSB war in der 2. Ausgabe der Reihe dabei.

Zum Anfang seiner selbsternannten Anti-Talkshow liest Jürg Halter, gekleidet in etwas, das später als grauer Overall in Erinnerung bleibt, ein Pamphlet, mit dem er das Publikum aufklärt über Dinge, die wir schon wissen, sich dafür entschuldigend, dass wir sie schon wissen. Dass die 62 Superreichen zum Beispiel so viel besitzen wie… Sie wissen schon. Impliziert ist natürlich der Vorwurf, dass sich niemand empört, obwohl wir sehen, was schief läuft. Das aufgeklärte, selbstkritische Theaterpublikum nickt zustimmend – in seiner Komfortzone der Kunst, ist es sicher. (Es klatscht einer im Publikum laut bei den Wörtern Fondue und Münchenbuchsee, die später an diesem Abend fallen.) Der Vorwurf ist richtig. Und Halter ist wütend und verzweifelt über die Welt. Er formuliert das immer wieder sich stoisch wiederholend auf Facebook, in Kolumnen, in seinen Gedichten. Auch heute auf der Bühne.

Gegenauflärung_KonzertTheaterBern_Foto:Michael_Schaer

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Weggelegt: The Circle

Christian Zellweger am Dienstag den 12. Januar 2016

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Gekauft hab ich The Circle vor allem, weil mich das Buch beim Weihnachtseinkauf so orange angeleuchtet hat. Und weil ich natürlich schon davon gehört habe (unter anderem auch hier oder hier). Mittlerweile bin ich etwa bei Seite 60 und ich weiss nicht genau, ob ich da weiterkommen werde.

Da ist also diese Mae die bei einem ultra-dynamischen zukünftigen Facebook/Google/Twitter-Bezwinger arbeitet. Vorher war sie Informatikerin bei den unendlich trägen Elektrizitäts-Werken des Städtchens, in dem sie aufgewachsen war. Ihre neuen Mitarbeiter sind alle hochintelligent und -motiviert und verbessern mit visionären Projekten jeden Tag die Welt.

Maes Familie hingegen kämpft mit existenziellen Problemen, ihr Vater ist an MS erkrankt. Ihr Ex-Freund betreibt ein kleines Business, fast ganz ohne Internet-Marketing. Irgendwann setzt er zu einer Tirade gegen die Kommunikation in der heutigen Gesellschaft an, weil Mae mit ihm nur noch darüber spricht, was jemand anders im Internet über ihn geschrieben hat. Maes Chef lanciert derweil günstige High-End-Webcams, welche es ermöglichen sollen, dass die ganze Welt überwacht werden kann, um Böses zu verhindern.

Soweit in etwa die Exposition. Ich weiss jetzt natürlich nicht, welche Plot-Twists da noch kommen werden. Und man muss Egger zugute halten, dass er ein Thema, das wichtig ist, aber nicht so verfängt auch für grundsätzlich weniger Interessierte potentiell interessant macht. Aber: So schwarz-weiss und plakativ, wie dieser Roman angelegt ist, lässt er sich leider kaum lesen.

Roy Batty Frankenstein

Roland Fischer am Freitag den 8. Januar 2016

Ob wohl irgendein Kinobetreiber zur Feier des Tages den guten alten Blade Runner ins Programm genommen hat heute?

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Es ist übrigens ein ziemlich verrücktes Jubiläumsjahr. Im grauenhaft (!) verregneten Sommer 1816 sassen ein paar gelangweilte Literaturdandys in einer Villa in Genf, darunter Mary Shelley, und vertrieben sich die Zeit mit einem Gruselgeschichtenwettbewerb. The rest is history, as they say (und so hätte das vielleicht auf Twitter ausgesehen). Wie prophetisch Frankenstein ist, merken wir erst heute, wo wir es tatsächlich mit künstlichen Kreaturen aus dem Computer zu tun bekommen. Die Macher von Blade Runner waren da ein wenig zu optimistisch, was künstliche Intelligenzen in Menschenform angeht, soweit ist die Technik 2016 doch noch nicht. Realität dagegen sind automatische Telefonstimmen, die uns weiterverbinden, ohne dass wir merken, dass wir da gerade mit einer Maschine gesprochen haben. Das Mensch-Maschine-Durcheinander? Es beginnt genau hier und jetzt.

Und ach ja, wer erinnert sich noch an E.T.A. Hoffmanns Sandmann mit der unheimlichen Puppe Olimpia? Erscheinungsjahr: 1816.

Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. Und auch in Nathanaels Innerm glühte höher auf die Liebeslust, er umschlang die schöne Olimpia und durchflog mit ihr die Reihen. – Er glaubte sonst recht taktmäßig getanzt zu haben, aber an der ganz eignen rhythmischen Festigkeit, womit Olimpia tanzte und die ihn oft ordentlich aus der Haltung brachte, merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt.

Transforming Christmas

Roland Fischer am Donnerstag den 24. Dezember 2015

Merci für das Weihnachtsgeschenk, transform! Gestern haben die Macher endlich erste Infos zur nächsten Versuchsanordnung ausgeplaudert:

Das Experiment geht weiter. Während der Versuchsanordnung 5 vom 1. Februar bis zum 13. März 2016 transformieren um die 30 Kunstschaffende ein ganzes Quartier: Bern-Holligen

Aber das Quartier wurde schon gefragt, oder? Nicht dass die Bewohner nicht mehr nach hause finden, weil die Künstler kurzerhand alles umgestellt haben. Ich finde sonst, man könnte beim Europaplatz mal anfangen mit transformieren.

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Und wer noch ein Last-Minute-Geschenk braucht: transform gibt es auch als Buch, frisch herausgekommen. Man es dann ganz bewusst zwischen die anderen Bände im Regal stellen.

transform begibt sich damit auf ungewohntes Terrain: Das Projekt hinterfragt mit seinen Versuchsanordnungen nicht nur starre Abgrenzungen zwischen den Gattungen, sondern stellt sich bewusst ins Dazwischen und wird dadurch schwer fassbar. Diese Publikation versucht es trotzdem: Sie erzählt die verschiedenen Prozesse als eine Art Zwischenbericht nach und vertieft in sechs Beiträgen ausgewählte kunsttheoretische Ansätze.

Schenken mit KSB III: Fuchswerfen und Oktopuswrestling

Gisela Feuz am Donnerstag den 17. Dezember 2015

foxtossingAus irgendeinem Grund sind sämtliche Sportarten, welche Edward Brooke-Hitching in «Fox Tossing, Octopus Wrestling and Other Forgotten Sports» zusammengetragen hat, ausgestorben. Aus einem guten Grund bzw. mehreren guten Gründen. Zum Teil sind die historischen Freizeitbeschäftigungen nämlich furchtbar kompliziert in der Durchführung, zum Teil unsäglich dämlich oder unbeschreiblich grausam. Bespiel gefälligst?

Da wäre etwa Eis-Tennis, in der angelsächsischen Welt auch gerne als Ten-Ice (ahahaaa) bezeichnet, eine Kombination aus Tennis und Schlöflen, bei der garantiert jeder Teilnehmer regelmässig schmerzhaft den Boden küsst. Oder aber Zentrifugal-Bowlen oder Looping-Bowlen, bei welchem aus Mangel an Raum eine kreis- oder U-förmige Bowling-Bahn gebaut wurde. Die Idee war, dass Bowling so auch in den trauten vier Wänden stattfinden könnte. Weil aber die Laufbahn der Kugel bei dieser Art von Bahnen äusserst unberechenbar war, hat sich Zentrifugal-Bowling nie durchsetzen können. In die gleiche unpraktische Kategorie fallen auch Flugzeug-Golf, Auto-Polo oder Telefonzellen-Moschten.

Lebensgefährlich trieben’s die ollen Vikingern gerne in ihrer Freizeit, drückten sie doch beim «Sund» («ersäufen») einander gegenseitig bis zur Ohnmacht unter Wasser. Auch nicht ohne ist Mob-Fussball, bei dem eine nicht definierte Anzahl Spieler gegeneinander antritt und versucht, einen Ball in ein paar Kilometer entferntes Tor zu manöverieren. Regeln gibt es so gut wie keine, weswegen Mob-Fussball mit viel Aggression und Gewalt verbunden war.  Ladenbesitzer verbarrikadierten regelmässig ihre Schaufenster, wenn sie wussten, dass ein Mob-Fussballspiel angesagt war, bei dem es auch schon zu Toten gekommen sein soll.

Wenn sich Menschen gegenseitig verprügeln oder Schaden zufügen, ist das ja eine Sache. Wenn aber Tiere involviert sind, hört der Spass irgendwo auf und damit wären wir bei den zahlreichen weniger lustigen «Sportarten», von denen Edward Brooke-Hitching ebenfalls eine ganze Menge beschreibt: Fuchswerfen, Oktopuss-Wrestling, Esel-Hauen, Aal-Zerren; kein Viech, das nicht vor Aberglaube, Idiotie oder Grausamkeit verschont geblieben wäre. Nichtsdestotrotz hat der englische Autor alles in allem eine äussert vergnügliche Sammlung an exzentrischen Sportarten zusammengetragen, die von den alten Römern übers Mittelalter bis in die Neuzeit reicht und die jeden erfreuen wird, der mit krudem Humor ausgestattet ist.

Edward Brooke-Hitching: «Fox Tossing, Octopus Wrestling and Other Forgotten Sports», Simon & Schuster UK Ldt, XY Seiten, S. Fr. 20.-. Vorerst nur in Englisch erhältlich.

Schenken mit KSB I: Wolfgang Herrndorf

Christian Zellweger am Freitag den 4. Dezember 2015

Es lässt sich nicht länger leugnen: Es weihnachtet sehr. Damit Sie sich nicht den Kopf zerbrechen müssen, präsentiert Ihnen KSB die Geschenktipps der Redaktion.

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Wolfgang Herrndorf war erst Maler, dann Illustrator, dann Schriftsteller. «Tschick» von 2010 war sein Durchbruch, der Jugendroman ist längst Schullektüre und für die Theaterversion war es auch in Bern schwierig, Plätze zu ergattern, die Verfilmung ist im Tun. Doch Herrndorf ist mehr als «nur» ein Jugend-Autor. Das grossartige «Sand» ist – ja was eigentlich? Ein Wüsten-Kriminalroman am ehesten, in dem sich der Leser genau so verirrt, wie der gedächtnislose Held. Und dann ist da «Arbeit und Struktur»: Bis zu seinem Tod 2013 dokumentiert Herrndorf etwa drei Jahre lang sein Leben mit einem bösartigen Hirntumor – von totaler Verzweiflung bis grosser Euphorie, von riesiger Schaffenswut und Zusammenbrüchen, die in der Psychiatrie enden.

Jetzt gibt es eine schöne Gesamtausgabe: Natürlich mit «Tschick, «Sand» und «Arbeit und Struktur», aber auch mit früheren Werken wie dem Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» und dem Debüt «In Plüschgewittern». Schenken!

Bücherkiste: Do No Harm

Roland Fischer am Freitag den 20. November 2015

Wieder mal ein Fall für die Titelpolizei: Warum das subtile «Do No Harm» so dramatisch und plump zu «Um Leben und Tod» machen? Wenn Henry Marsh, ein bald pensionierter Londoner Neurochirurg, aus seinem Berufsalltag erzählt, aus seinem Leben und von den Konflikten, die sich aus dem einen bzw. dem anderen ergeben, dann geht es immer um die Kluft zwischen der guten ärztlichen Absicht und dem teilweise katastrophalen Resultat. Und um die Zerrissenheit, die diese Tatsache für den Chirurgen bedeutet.

«You can’t stay pleased with yourself for long in neurosurgery», my colleague said. «There’s always another disaster waiting round the corner.»

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Sehr ehrlich und sehr berührend geschrieben ist das, ein ungeschönter Einblick in das Gelingen und eben auch das Versagen moderner Medizin – und den Mut, das Versagen zu wagen. So wünscht man sich die Reflexion über die ärztliche Zunft und ihr allerhöchstens halbgöttliches Tun. Gut, manchmal kratzt Marshs Schreibe ziemlich scharf an der Eitelkeit vorbei, weil er genau weiss, dass er erstens gut schreiben kann und zweitens einen der dramatischsten Berufe hat, die unsere durchregulierte Welt zu bieten hat – eine hochoffizielle Borderline-Existenz. Aber wenn er dann eine weitere rührende oder abgrundtief elende Geschichte zum besten gibt, ist das rasch wieder verziehen. Würden doch alle Ärzte so offen zu ihren Fehlern stehen. Und wären sie doch alle so gute Erzähler!

Die gezeichnete Stadt zum Klicken

Christian Zellweger am Freitag den 23. Oktober 2015

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Es sind ja patente Typen, Nikolaj Vejlstrup, Rodja Galli und Basil Anliker vom Grafik-Atelier a259.ch und in Bern kennen sie sich natürlich aus.

Das persönliche Bern – von Kultur bis Kulinarik – der drei Gestalter ist nun auf einer interaktiven, handgezeichneten Karte festgehalten. Diese stammt Lea Schneider, welche das Werk während ihrem Praktikum bei a259 für ihre Ausbildung an der Grafikfachklasse in Biel gezeichnet hat.

Wo Anliker einst Burger gewendet hat, warum Galli früher Müllmann werden wollte und wo Vejlstrup in unbezahlbaren Büchern stöbert, lässt sich auf ihrer Webseite entdecken.

Das Heft selber in die Hand nehmen

Gisela Feuz am Samstag den 17. Oktober 2015

«Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand», so der Untertitel des Buches «Standort Strasse», welches der Verein Surprise soeben herausgegeben hat. Seit 18 Jahren unterstützt der unabhängige Verein Menschen aus sozial und finanziell schwierigen Situationen, wobei der Verkauf des Suprise Strassenmagazins zur Hauptaktivität gehört. Insgesamt 360 Personen verkaufen in der Schweiz besagtes Magazin, welches alle zwei Wochen in einer Auflage von 17’000 Stück erscheint. In «Standort Strasse» finden sich 20 aktuelle und einige ältere Porträts (Aufzeichnung Olivier Joliat, Bilder Matthias Willi), welche einen Einblick gewähren, wer denn diese Surprise-Verkaufenden sind und welche Lebensgeschichten sie zu erzählen haben.

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Bei der Lektüre von «Standort Strasse» wird schnell einmal klar: Keiner ist davor gefeit, sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wieder zu finden. Da ist zum Beispiel die 72-jährige Rentnerin, welche mit den AHV-Beiträgen alleine schlichtweg nicht über die Runden kommt, der Radrennfahrer aus Eritrea, der vor dem Krieg in seiner Heimat in die Schweiz flüchten musste, der ehemalige Verdingbub mit Leukämie-Diagnose oder der einstige Elite-Junior des HC Davos, der plötzlich für seine schwangere Mutter und seine Schwester zu sorgen hatte. Schicksalsschläge, körperliche oder psychische Versehrtheit, Krankheit, Sucht oder Migrationshintergrund sind Faktoren, welche ein Bestehen in unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft erschweren oder gar verunmöglichen und somit in den sozialen Abstieg führen können.

Das Verkaufssystem des «Surprise Strassenmagazins» funktioniert so, dass die Verkaufenden eine bestimmte Anzahl Magazine beim Verteiler zum Einkaufspreis von Fr. 3.30 beziehen und diese dann an bestimmten Standorten für Fr. 6.- verkaufen können, wobei der Differenzbetrag bei ihnen bleibt. Mit diesem niederschwelligen Job-Angebot liefert der Verein Surprise unbürokratische Hilfe zur Selbsthilfe. Aber nicht nur das. Surprise bietet auch Beratung, Unterstützung, Möglichkeit zur Integration und somit auch das wichtigste von allem: menschliche Wärme, Halt und Anerkennung. Jedes der 20 Porträts verdeutlicht dies, betonen doch praktisch alle Porträtierten, welche wichtige soziale Funktion die Surprise-Familie für sie darstelle. Die Lebensgeschichten zeigen auch, dass wenn ein minimales Grundgerüst an Menschlichkeit vorhanden ist, auch wieder ein sozialer Aufstieg erfolgen kann. So ist heute der ehemalige hoch verschuldete Punk ein selbständiger Limousinen-Chauffeur und der einstige Säufer, der ohne einen Grundpegel von 3,5 Promille kollabiert wäre, ist heute Abwart von neun Liegenschaften – in beiden Fällen stand die Arbeit bei Surprise am Anfang der Wiedereingliederung.

«Standort Strasse» porträtiert ungeschönt, aber keinesfalls rührselig und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für einen sozialen Abstieg sein können. Alle Porträtierten sind auf ihre eigene Art Kämpfernaturen, die trotz schwierigen Umständen oder Schicksalsschlägen nicht kapituliert haben, sondern hartnäckig den Widrigkeiten des Lebens trotzen und eben das Heft selber in die Hand nehmen.

«Standort Strasse. Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand.» Verein Surprise (Hg.) Christoph Merian Verlag, 140 Seiten, Fr. 29.-