Irgendwo in der Stadt Bern. Es ist Abend
– Papa?
– Ja, mein Liebling?
– Erzählst Du mir noch einmal, wie das war, als Du noch Anarchist warst?
– Aber Liebling, das habe ich Dir doch schon gestern erzählt und vorgestern und letzte Woche auch zwei mal.
– Ich weiss, aber ich kann dazu immer so gut einschlafen. Warst Du ein richtiger Autonomer mit so schwarzen Kleidern und so einem Palästinatuch vor der Nase?
– Ja, mein Kleiner. Dein Papa war ein richtiger Autonomer. Ich hatte sogar ein eigenes Megafon. Also, natürlich hat es uns allen gehört, aber genau genommen war es meines.
– Und hast Du viel demonstriert?
– Aber natürlich habe ich viel demonstriert. Das war ganz schön gefährlich damals.
– Erzähl das, wo ihr im Tojo eingekesselt wurdet!
– Aber Schatz, es ist doch schon spät.
– Bitte! Bitte!
– Na schön. Also: Eines schönen Tages waren wir gerade am Proben im Theater in der Reitschule. Draussen gab es eine grosse Demonstration.
– Gegen was?
– Hm. Das weiss ich nicht mehr. Ich war ja nicht dabei, ich war wie gesagt am Proben.
– Gegen was?
– Wie, gegen was?
– Gegen was warst du am Proben?
– Oh. Ich war gegen nichts am Proben. Proben tut man für etwas, nicht gegen etwas. Manchmal Probt man vielleicht für nichts, aber nie gegen etwas.
– Ach so.
– Ja. Also, wir waren mitten in den Proben. Plötzlich: Ohrenbetäubender Lärm von draussen, Schreie, Sirenen, das Klirren von Glas –
– Schüsse?
– Nein, das nicht, keine Schüsse. Aber sonst alles.
– Ui.
– Ja. Und dann: Tränengas, ganz ganz viel Tränengas. Weißt du noch, was Tränengas ist?
– Das brennt ganz schrecklich in den Augen und im Hals und es schnürt einem die Luft ab.
– Ja genau. Schrecklich. Wir waren umzingelt, draussen war alles eingenebelt. Also haben wir uns eingeschlossen im Tojo und uns unter der Bühne versteckt. Wir hatten ziemliche Angst, wir haben sogar geheult, aber nicht wegen dem Tränengas.
– Und dann?
– Irgendwann war alles vorbei. Sie hatten uns nicht bemerkt.
– Erzählst du mir noch das, wo ihr die Dealer aus dem Wohnhaus geprügelt habt?
– Nein, das nicht. Du, weißt doch, diese Geschichte erzähle ich nicht gerne, und sowieso: Jetzt wird geschlafen.
Pause.
– Papa, hast du auch Häuser besetzt?
– Aber natürlich, mein Schatz.
– Und dieses Haus in dem wir jetzt wohnen, hast du das auch besetzt?
– Aber nicht doch. Dieses Haus gehört uns. Wir haben es gekauft.
– Warum denn? Mama hat gesagt, dass du ein erstklassiger Besetzer gewesen bist.
– Natürlich. Aber… ach, das verstehst du noch nicht, Liebling. Das ist der Lauf der Dinge. So, und jetzt träum was schönes.
– Ich werde von der Reithalle träumen. Also ich meine nicht deine Reithalle, ich mache dann eine eigene Reithalle, wenn ich gross bin.
– Meine Reithalle? Aber Kind, das ist doch nicht meine Reithalle!
– Ich will aber trotzdem meine eigene machen.
– Wie du willst, Liebling. Mach du deine eigene. Gut Nacht.
– Tschüss, Papa!
Das Buch zu 20 Jahren Reitschule feiert offiziell in einer Woche Vernissage, dies ist der Text, den ich beigetragen habe. Heute Abend ab 18.00h findet in der Grossen Halle das Ehemaligentreffen statt. Prosit!