Archiv für die Kategorie ‘Bern auf Probe’

Bern auf Probe: Frag die Zuschauer*innen! Vierter Teil

Anna Papst am Sonntag den 3. Juni 2018

Vor einer Woche ging das AUAWIRLEBEN Festival 2018 zu Ende. In einer Nachlese fragen wir noch einmal die Zuschauer*innen. Heute: Claire Dessimoz.

Wer soll hier Platz nehmen? Die Teilnehmer*innen des Lab diskutierten über das Theater und sein Publikum

Claire hat einmal Achitektur studiert. Inzwischen erforscht sie als Tänzerin und Choreographin Wandel und gesellschaftliche Wahrnehmung. Claire war eine von acht Teilnehmer*innen am Lab How do you do?, bei dem Tanz- und Theaterschaffende das AUAWIRLEBEN Festival begleitet und unter einem bestimmten Gesichtspunkt reflektiert haben. Die Gruppe hat sich mit der Frage nach dem Publikum auseinandergesetzt: Für wen machen wir Künstler*innen unsere Arbeiten und wie bewusst denken wir beim Machen schon an die Zuschauer*innen?

“Für uns wurde die Frage der Vermittlung zentral. Die Künstler*innen sollten in ihrer Arbeit frei sein, zu tun, was immer ihnen einfällt. Wenn man Neues, Ungewohntes ausprobiert, Konventionen unterläuft, Sehgewohnheiten in Frage stellt, wäre ein Heranführen des Publikums an die künstlerische Arbeit aber nicht verkehrt.

Wenn alles bei den Theaterschaffenden selbst liegt: Die Kreation, die Analyse der eigenen Arbeit und die Veranschaulichung derselben, wird das zu einem in sich geschlossenes System. Wo bleibt da die Luft für ein Publikum, andere Perspektiven einzunehmen, als der*die Künstler*in selbst?

Früher hat Vermittlung teilweise auch durch die Medien stattgefunden, indem ein*e Theaterkritiker*in, die die Szene gut kannte, eine künstlerische Arbeit in einen Kontext zu stellen wusste und aus seiner*ihrer Sicht zu deuten vermochte. Aber gerade in der Freien Szene fehlt diese Form der intensiven Berichterstattung oft.

In unseren Gesprächen ist uns auch klar geworden, welche Wissenslücke zwischen der Deutschschweiz und der Romandie besteht. Die Produktionen jenseits des Röschtigrabens kennt man kaum. Wir hatten eher bei international bekannten Künstler*innen einen gemeinsamen Nenner, als bei Schweizer Theaterschaffenden.

Kill the Röschtigraben! ist deshalb unsere interne Überschrift zur Förderung des Austauschs zwischen den Theaterschaffenden aus den verschiedenen Sprachregionen. Wir haben angedacht, dass man Residenzen an Theatern aus der ganzen Schweiz organisieren könnte, um die jeweilige Szene besser kennenzulernen, dass man sich in Workshops austauscht oder im kleinen Rahmen anfängt, gemeinsame Projekte zu entwicklen. Das ist alles noch nicht spruchreif. Aber schön wär’s.”

Das Lab How do you do?#3  fand während des ganzen AUWIRLEBEN Festivals 2018 statt. Die Teilnehmer*innen waren Dennis Schwabenland, Emma Murray, Lucie Eidenbenz, Marcel Schwald, Diana Rojas, Susanne Abelein, Leja Jurisic und Claire Dessimoz.

Bern auf Probe: Frag die Zuschauer*innen! Dritter Teil

Anna Papst am Donnerstag den 24. Mai 2018

In drei Beiträgen der Kategorie Bern auf Probe haben die Zuschauer*innen das Wort: Wie ist es ihnen bei ihrem letzten Theaterbesuch ergangen?

Wie nahe darf ich dir kommen? “for the time being” untersucht unser Verhalten in Menschenmengen.

Als Nora zum ersten Mal mit Theater in Berührung gekommen ist, stand sie gleich selbst auf der Bühne: In der Theater AG ihres Gymnasiums. Nach der Praxis hat sie sich der Theorie zugewandt und studiert im zweiten Semester Theaterwissenschaft. Diese Woche ist sie jeden Abend im Theater, entweder als Zuschauerin am AUAWIRLEBEN Theaterfestival oder als Schauspielerin auf der Bühne im Stück “Lysistrata” der Zytglogge Theatergesellschaft Bern. Vergangenen Sonntag besuchte sie eine Vorstellung von “for the time being” von Schweigman& / Slagwerk Den Haag.

“Ich habe noch nie ein Stück gesehen, bei dem die Zuschauer*innen so stark beteiligt waren. Am Anfang musste ich die Performer*innen immer wieder anschauen: Sind das Wachsfiguren? Das Publikum hat sich auch wie durch ein Museum oder eben ein Wachsfigurenkabinett bewegt. Aber es waren alles echte Menschen. Als sie das erste Mal losgerannt sind, bin ich total erschrocken. Vieles von dem, was sie gemacht haben, hat mich an Aufwärmübungen im Theater erinnert. Durch den Raum gehen, jemanden anschauen, stehen bleiben und so weiter. Mit diesen einfachen Aktionen ist es ihnen gelungen eine Gemeinschaft mit dem Publikum einzugehen.

Irgendwann war mir klar, wir sind jetzt zusammen hier, der Abend gehört uns allen. Das ganze Publikum hat an einem Punkt der Performance Kartonschachteln zusammengebaut, als wäre es die normalste Sache der Welt. Man wäre sich komisch vorgekommen, wenn man sich nicht beteiligt hätte.

Ich würde das Stück Leuten empfehlen, die selbst Theater spielen. Eine Person, die gewohnt ist, dass es einen abgetrennten Zuschauerraum gibt und sie in Ruhe gelassen wird, hätte vielleicht nicht so Freude, wenn einer der Performer seinen Schweiss an ihrer Bluse trocknen würde.”

“for the time being” von Schweigman& / Slagwerk Den Haag war im Rahmen des AUAWIRLEBEN Theaterfestivals 2018 zu sehen.

Bern auf Probe: Frag die Zuschauer*innen! Zweiter Teil

Anna Papst am Dienstag den 22. Mai 2018

In drei Beiträgen der Kategorie Bern auf Probe haben die Zuschauer*innen das Wort: Wie ist es ihnen bei ihrem letzten Theaterbesuch ergangen?

Untertitel oder Subtext? “The only way is UP” von Boris Van Severen und Jonas Vermeulen

Leslie ist Mitbegründerin des Schlachthaus Theater Bern und war lange Zeit im Vorstand des AUAWIRLEBEN Theaterfestivals. Die 74-jährige Buchhändlerin begleitet das Festival seit Beginn. Wenn ihr mal etwas nicht gefällt, haut sie das nicht gleich aus der Kurve. Am Samstag besuchte sie die Vorstellung “The only way is UP” von Boris Van Severen und Jonas Vermeulen.

“Uff. Ich bin ein bisschen geschafft. So viel Energie auf der Bühne. Unglaublich! Man will entweder tanzen gehen oder sich hinlegen und ausruhen. Das sind zwei tolle Jungs. Total eigen, die Verbindung aus Konzert, Text und Bühnenbild. Es war auch ästhetisch ausgefeilt, hat mich ein bisschen an Harald Naegeli erinnert. Was ich richtig gut finde: Das hier am Festival so extrem verschiedene Theaterformen nebeneinander Platz haben. Ich habe am Donnerstag ein Stück von Lola Arias gesehen, dass mir auch sehr gefallen hat. Dokumentarisches Theater, eine völlig andere Sache.

Wie ich diese Form hier nennen würde, kann ich gar nicht sagen. Ich war froh, dass es untertitelt war. Mein Englisch ist nicht so super, so ein Schulenglisch halt, und es ging wahnsinnig schnell. Inhaltlich kennt man es ein bisschen, aber formal ist es hochspannend. Ich würde es meinen Kindern und meinen Grosskindern empfehlen. Meinen Nachbarinnen auch – aber nicht allen.”

“The only way is UP” von Boris Van Severen und Jonas Vermeulen war im Rahmen des AUAWIRLEBEN Theaterfestivals am Schlachthaus Theater zu sehen.

Bern auf Probe: Frag die Zuschauer*innen!

Anna Papst am Sonntag den 20. Mai 2018

In den nächsten drei Beiträgen der Kategorie Bern auf Probe haben die Zuschauer*innen das Wort: Wie ist es ihnen bei ihrem letzten Theaterbesuch ergangen?

Am Bilingue Slam wurde um zu applaudieren gewinkt, statt in die Hände geklatscht.

Sandro, ein dreissigjährige Werbetechniker, besuchte am Freitag, 19. Mai im Rahmen des AUAWIRLEBEN-Festivals den Bilingue Slam, ein Poetry Slam an dem hörende und gehörlose Slammer*innen um die Gunst des Publikums  kämpfen. Sandro ist hörbehindert, kann aber mit Hilfe eines Hörgeräts Lautsprache verstehen und selbst in Lautsprache antworten.

“Der Slam hat mir gut gefallen. Mein Favorit hat am Ende gewonnen. Ich sehe am liebsten Gehörlose auf der Bühne, weil sie Körper und Gesicht stärker einsetzen als Hörende. Ein bisschen vermisst habe ich die Ausstattung. Ich mag es, wenn Theater auch etwas fürs Auge bietet. Beim Deaf Slam in Winterthur wurde noch stärker auf Dekoration und visuelle Effekte gesetzt. Aber das ist nur ein kleiner Abstrich.

Der Abend hat viele hörbehinderte Zuschauer*innen angezogen. Logisch, die Hälfte des Line Up waren gehörlose Slammer*innen und alle Texte wurden in Gebärdensprache übersetzt. Im Publikum sassen viele meiner Freunde, auch einige der Slammer*innen kenne ich persönlich. Die Community trifft sich regelmässig an Veranstaltungen für ein gehörloses Publikum. Darum habe ich leider fast alle Beiträge der hörbehinderten Slammer schon gekannt. Nur der letze Zusatzbeitrag des Finalisten Beat Marchetti war eine Überraschung für mich.

Wenn ein Theaterstück nicht in Gebärdensprache übersetzt wird und keine Untertitel hat, gehe ich nicht hin. Obwohl ich Lautsprache verstehen kann, bin ich im Theater aufgrund der akustischen Verhältnisse auf Gebärdensprache oder Untertitelung angewiesen. Für mich ist es cool, dass es am AUA dieses Angebot gibt. Hörende leben in einer anderen Welt als Gehörlose. Schön, wenn wir uns mal treffen. ”

Veranstaltung: Bilingue Slam im Tojo Theater im Rahmen des AUAWIRLEBEN Theaterfestival.
Line-up: Andreas Juon, Beat Marchetti, Cristian Verelst, Daniela Dill, Gina Walter, Jakob Rhyner, Milva Stark, Remo Zumstein  Moderation: Marguerite Meyer

Bern auf Probe: Tanz der Genderidentitäten

Anna Papst am Dienstag den 17. April 2018

Perückenköpfe, Sterne, Spiegel und rosarote Plastikpferde: Die Kunst heisst Musical!

 

Betritt man diese Tage die Vidmar 1, wähnt man sich in den späten Achtzigern: Ein riesiger, grünglänzender Stern nimmt die Bühnenmitte ein, die Protagonistin trägt eine Lederkluft mit Bikershorts, Corsage und Fransenjacke. Coiffeurstühle und Perückenköpfe säumen den Bühnenrand, die Seitenwände sind mit Spiegeln versehen; der ganze Raum schafft eine Anlage von Verkleidung und Travestie. Wo ausgefallene Frisuren auf rollbare Sitzgelegenheiten treffen, ist das Musical nicht weit: Geprobt wird „Coco“, geschrieben von Alexander Seibt, komponiert von Marcus Schönholzer. Diesen Beitrag weiterlesen »

Bern auf Probe: Eine Lektion in äthiopischer Geschichte

Anna Papst am Mittwoch den 21. März 2018

Gebrehanna Productions möchten individuelle und kollektive Erfahrungen theatral erforschen. Zum Beispiel den Fall des sozialistischen Regimes in Äthiopien.

Wie bringt man einen jahrhundertelangen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit auf die Bühne? Zum Beispiel, in dem man davon erzählt. Der äthiopischen Regisseur Aron Yeshitila, der inzwischen in Brugg wohnt, wollte in seiner ersten Inszenierung “Kings of Interest” auf die Interessen europäischer Mächte aufmerksam machen, die den demokratischen Wandel in seinem Heimatland immer wieder erschweren. Als Grundsituation wählt er ein Treffen unter Freunden: Seine Gruppe “Gebrehanna Productions”, zur Zeit bestehend aus vier Performenden, zwei davon Schweizer*innen, zwei davon Äthiopier sitzen bei Aron am Küchentisch. Man diskutiert über die neusten politischen Entwicklungen. Während die Schweizerin begeistert und hoffnungsvoll ist, winken die beiden Äthiopier ab: Zuviele Versprechungen wurden schon gemacht und nicht gehalten, als dass man den neusten Versicherungen Glauben schenken würde. Um zu erklären, woher dieser Pessimismus rührt, beginnt man, die letzten 150 Jahre äthiopischer Geschichte zu rekapitulieren, springt bald vom Stuhl auf und spielt in brecht’scher Manier Treffen zwischen politischen Führern nach.

Die Entscheidung, nicht nach einer Identifikationsmöglichkeit mit den involvierten historischen Grössen zu suchen, sondern ein distanziertes, schemenhaftes Spiel zu wählen, ist eine richtige. Dennoch kommt es nach dem ersten Durchlauf zu Diskussionen: Die beiden weissen Schauspieler*innen deutscher Muttersprache haben deutlich mehr Text als die beiden Äthiopier. Was aus pragmatischen Gründen entschieden wurde – die Deutsch- und Englischkenntnisse der beiden letzteren sind begrenzt, und man wendet sich schliesslich an ein Deutsch sprechendes Publikum – wird zum Statement: Wieder scheinen die Europäer*innen das Sagen und damit die Deutungshoheit über die geschichtlichen Ereignisse zu haben. Diese Aussage wollte man aber eigentlich nicht treffen, vielmehr soll die äthiopische Geschichte, die zu grossen Teilen auch europäische Kriegs- und Kolonialgeschichte ist, einmal aus der Sicht eines Äthiopiers erzählt werden.

Die Diskussion über die Wirkung der Textverteilung erweist sich als nicht ganz einfach: Zum einen ist da das Sprachproblem, zum anderen die unterschiedlichen Sehgewohnheiten und Theaterkonventionen. Während die schweizerische Hälfte sich über Tanzeinlagen wundert, die die äthiopische als passend empfindet, kann das Schweizer Testpublikum ein Bild nicht klar lesen, was den äthiopischen Darstellern schon fast zu deutlich ist: Während der Diktator eine Rede hält, erklingt ein Summen, dass zum bedrohlichen Gebrumm anschwillt. Der Führer sieht sich von einem Bienenschwarm bedroht. Das Insekt ist das Symbol der damaligen Widerstandsbewegung, die heute Regierungsmacht ist.

Es braucht viel Übersetzung, um dieses Stück gemeinsam zu stemmen, aber es lohnt sich: Das Ergebnis lässt sowohl die Performer*innen als auch die Zuschauer*innen einen anderen Blickwinkel auf die eigene Geschichte einnehmen.
“Kings of Interest” von Gebrehanna Productions, 21./23./24. März 20:30 Uhr, Tojo Theater Reitschule Bern

Die Lenzburgerin Anna Papst arbeitet für ein Jahr als Hausautorin am Konzert Theater Bern. Dieses vorübergehende Asyl nutzt sie, um die lokalen Probegepflogenheiten auszukundschaften. Einmal pro Woche schielt sie über den kantonalen Gartenzaun, um mitzukriegen, was in Bern so geübt wird.

Rauchen im Gebüsch

Anna Papst am Mittwoch den 21. Februar 2018

Theaterprobe unter freiem Himmel am Magdi Elnour Theater Festival

 

Als Ahmed Abdel Mohsen die mit ihm befreundete Filmerin Elvira Isenring 2016 einlud, einen Workshop am Magdi Elnour Theater Festival in Khartoum zu geben, wusste sie vom Sudan bloss, was man in der Zeitung las. Und das war wenig. Die internationalen Medien und ihre Leser*innen waren mit der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigt, das Land, in dem fünf Millionen Menschen am Existenzminimum leben, war vom Radar verschwunden.

Isenring beschloss, diese Wissenslücke aus eigener Kraft zu schliessen. Je mehr sie über die jüngere sudanesische Geschichte las, desto klarer wurde ihr, was in der Schweiz alles an uns vorbeigegangen ist. Dass das Land beispielsweise einen eigenen Arabischen Frühling erlebte, weiss hierzulande kaum jemand. Oder dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung knapp neunzehn Jahre beträgt.

Die ausgesprochen junge Bürger*innen lechzten nach Ausdruck und Austausch, so Isenring, weil das Land so lange isoliert gewesen sei und unter dem autoritären, streng islamistischen Regime von Präsident al-Baschir noch immer wenig Freiheiten erlaubt seien. Von den Freiheiten in der Kunst, die sich die sudanesischen Kulturschaffenden nehmen, handelt Isenrings Radio-Feature „The Black Elephant – Kultureller Widerstand im Sudan“. Bei ihrem Besuch im Sudan habe sie Leute kennengelernt, über die sie berichten wollte: Junge Künstler*innen, die aller Repression zum Trotz experimentelles Theater machen und mit Witz und Kunstfertigkeit den Alltag in einem Staat, in dem offiziell fast alles verboten ist, auf der Bühne widerspiegeln. Dass in einem Theaterstück am Festival etwa ein Schauspieler einen Betrunkenen darstellt, ist eine kleine Sensation, denn der Konsum von Alkohol ist illegal, Betrunkene darf es eigentlich nicht geben.

Bei Mehera Salim wusste Isenring gleich als sie sie zum ersten Mal sprechen hörte, dass sie im Radio-Feature zu Wort kommen muss. „Ihre Stimme, wie sie die Dinge erzählte – wie ein frischer Pausenapfel.“ Die junge Filmemacherin hat einschneidende Erfahrung mit dem repressiven Staat gemacht: Ihren Kurzfilm „Lust“ durfte sie an keinem Festival zeigen. Die behandelten Themen Liebe und Sexualität seien „eine Zumutung“, wurde ihr mitgeteilt. Dabei wird im Film kein sexueller Akt und keine Nacktheit gezeigt, es geht lediglich um zwei Menschen, die sich küssen wollen. Aber Küsse dürfen wie Betrunkenheit nicht von der Öffentlichkeit gesehen werden. Im Anschluss an ihr Gespräch versteckten sich die beiden Filmerinnen gemeinsam im Gebüsch – um zu rauchen.

Dass im Sudan überhaupt ein Theaterfestival stattfinden kann, führt der Theaterregisseur und Aktivist Maruan Omar, den Isenring ebenfalls befragt hat, darauf zurück, dass es einfach zu viele junge, ehrgeizige Menschen gibt, die sich kulturell engagieren. Die Regierung habe gemerkt, dass sie Kunst zulassen und der jungen Generation dieses Stück Freiheit gönnen müsse, weil sie sich sowieso nicht stoppen lasse. Es ist eine Stärke des Features, dass man alle Gesprächspartner*innen in ihrer Muttersprache reden hört. Isenring hat ganz bewusst darauf verzichtet, die Interviews auf Englisch zu führen. Sie wollte Khartoum einfangen, wie sie es erlebt hat, nicht in einer künstlichen, vermeintlich internationalen Sprache.

Ausserdem war es Isenring wichtig, auch die Rolle Europas zu thematisieren. Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde ein EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika ins Leben gerufen, an dem sich auch die Schweiz beteiligt. Hilfsgelder werden jedoch nicht für Bildung und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung eingesetzt, sondern für die staatliche Grenzsicherung, damit keine Flüchtlinge über den Sudan nach Europa kommen. Die sudanesische Regierung sichert die Grenzen und damit ihre eigene Macht – finanziert von den Ländern, die vorgeben, die autokratische Herrschaft zu verurteilen.
Dass der Bericht, der von so weit her kommt, also direkt mit uns zu tun hat, wird wohl auch die Zuhörer*innen am SonOhr Festival leer schlucken lassen, wenn sie am Samstag im Kino Rex „The Black Elephant“ lauschen. Das Feature dauert fast eine Stunde. Eine Stunde, in der man miteinander im Kino sitzt, wobei die Leinwand schwarz bleibt, während der Film im Kopf abgeht.

 

“The Black Elephant- Kultureller Widerstand im Sudan” ist im Rahmen des SonOhr Festival am Samstag, 24. Februar um 18 Uhr im Kino Rex zu sehen.

Bern auf Probe: Literatur gehört auf die Bühne!

Anna Papst am Mittwoch den 14. Februar 2018

Ursina Greuel las 2014 in der Zeitschrift Theater der Zeit ein Interview mit Melinda Nadj Abonji. Die Autorin äusserte sich darin nach einer unglücklichen Uraufführung ihres inzwischen unter dem Titel „Schildkrötensoldat“ erschienen Romans wie folgt: „Literatur, die literarische Sprache erscheint mir geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein, das ich als Ort der Überbelichtung empfinde, der ohne Tricks und (mediale) Effekte nicht mehr auskommt.“ Dieser Satz provozierte die Regisseurin Ursina Greuel, die auch den Stücktext gelesen und Gefallen daran gefunden hatte, so sehr, dass sie Kontakt zu Nadj Abonji aufnahm. Die beiden Frauen lernten sich kennen und die Regisseurin wollte der Autorin gerne beweisen, dass ihr Roman und die Bühne sehr wohl zusammenpassen. Nadj Abonji war sehr zurückhaltend, ihr war die Lust auf Theater zeitweilig vergangen und auch die Arbeit am Roman wollte sie vorerst beiseite legen. Greuel wartete, bis drei Jahre später der Roman beendet und die Lust auf eine szenische Umsetzung zurückgekehrt war.

“Dumm wie Brot” scheint Zoli seinen groben Mitmenschen. Er schweigt – und bäckt. “Soldat Kertész!” ist ab 22. Februar im Schlachthaus Theater zu sehen.

Es ist kein Zufall, dass sich Greuel herausgefordert sah, zu beweisen, dass zeitgenössisches Theater und literarische Sprache miteinander einher gehen können. Seit dem Ende ihres Studiums beschäftigt sich die Regisseurin mit Stücken, bei denen die Sprache im Zentrum steht. Wenn sämtliche Effekte, „Verzierungen“, wie sie es nennt, wegfallen, bleiben nur die Schauspieler*innen und die Sprache übrig. Das reiche, um Theater zu machen. Diesen Beitrag weiterlesen »

Was Andy Warhol gerne gemacht hätte

Anna Papst am Dienstag den 30. Januar 2018

“I never wanted to be a painter. I wanted to be a tap dancer”, behauptete Andy Warhol von sich selbst. Nachdem man Daniel Borak knapp 90 Minuten lang die Füsse schlackern gesehen hat, ahnt man, warum.

9-Point-Inc nennt sich eine junge Formation von sechs Musiker*innen um den Komponisten Kilian Deissler und den elffachen Stepptanz-Weltmeister Daniel Borak. Der neunte im Bunde ist der Bühnenbauer Raffael Hafner, der in Zusammenarbeit mit Deissler eine Tanzfläche entwickelt hat, die Bühne und Instrument zugleich ist. Neun quadratische Platten, jede einem anderen Instrument nachempfunden, bilden die Grundlage der Komposition “kick the square”. Gespielt wird dieses Neun-Quadratmeter-Instrument von Tänzer Borak. Durch seinen Stepptanz werden die Holzplatten, Gitter oder Metallrohre angeschlagen und zum Klingen gebracht.

Auf diesem Schlagzeug, darf getanzt werden: Stepptanzinstrument und Bühne der Produktion “kick the square”.

Die Idee dazu kam Deissler, als er seinem ehemaligen Schulkollegen Borak nach längerer Zeit wieder über den Weg lief. Beide hatten das Gymnasium abgebrochen, der eine war inzwischen Kompositionsstudent an der Zürcher Hochschule der Künste, der andere feierte als Tänzer und Choreograf Erfolge. Aus musikalischer Perspektive seien ihm die klanglichen Möglichkeiten beim Stepptanz limitiert erschienen, erzählt Deissler. Es reizte ihn, nach neuen klanglichen Qualitäten zu suchen, woraufhin er Borak dazu überredete, auf ungewöhnlichen Flächen zu steppen. Die Suche nach geeigneten Klangkörpern führte ihn zum Küchenbedarfsgeschäft Kuhn Rikon, wo man ihn nach anfänglicher Skepsis enthusiastisch darin beriet, welche Bratpfannen wohl die interessantesten Töne hervorbringen würden, wenn man mit Steppschuhen darauf tanzte.

Erinnert die Fläche mit den fünf Bratpfannen klanglich an eine Cowbell, ist der Quadratmeter mit dem Gitterrost einem Waschbrett, wie es in der Country-Musik eingesetzt wird, nachempfunden. Die vertiefte, mit Polenta bestreute Holzfläche erzeugt beim Tanzen einen Klang von Schlagzeugbesen, betritt Borak mit seinen Steppschuhsohlen das Feld mit den acht Metallstäben, meint man, ein Xylophon zu hören. Zwei nach der Bauweise der Cajon gefertigte Würfel bilden “Snare” und “Bass Drum” der Perkussionsbühne.

Um diese Klangplatten so präzise spielen zu können, dass sie in einer Gesamtkomposition als Rhythmusinstrument  fungieren können, bedarf es einer ausgefeilten Notation, die nicht nur rhythmische Werte, sondern auch Art und Weise der Tanzschritte festhält. Da es eine solche noch nicht gab, haben Borak und Deissler kurzerhand eine entwickelt. Für Borak ist die Aufführung von “kick the square” ein Akt höchster Konzentration. Er, der es nicht gewöhnt ist, im Ensemble zu musizieren, hält mit seinem Tanz nun als “rhythm section” eine sechsköpfige Band zusammen. Klarinette, Trompete, Posaune, Saxophon, Akkordeon und wahlweise E-Bass oder Kontrabass (gespielt von der einzigen Frau im Team) grooven zwischen Swing und neuer Musik.

Aber nicht nur Borak betritt mit diesem Projekt Neuland: Alle Musiker*innen tragen Steppschuhe und tanzen in einem furiosen Höhepunkt des Abends gemeinsam mit ihm auf den neun Quadratmetern Klangfläche, dass die Wände wackeln. Stampfen, hüpfen, hopsen, springen, ein Tanz zwischen Aggression und Lebenslust: Warhol wäre gern dabei gewesen.

Die zweitletzte Station ihrer Tournee führt 9-Point-Inc nach Bern. Heute Abend in der Mahogany Hall um 20.30 Uhr.

Bern auf Probe: Im Wilden Westen der linksliberalen Utopie

Anna Papst am Mittwoch den 27. Dezember 2017

Im Schlachthaus wird Geige geübt. Vera Urweider, eine von zehn Statist*innen die im neusten Stück der Gruppe PENG!Palast mitwirken, soll Christine Hasler beim Verbreiten hitziger Wild-West-Stimmung begleiten. Hasler gibt den Einsatz und Urweider geigt zu E-Gitarre und wummernden Beats. “Ja, das fägt!” findet Markus Luginbühl am Mischpult. Urweider verspricht, über Weihnachten ganz viel Country zu hören, um den Fiedelstil ins Ohr zu kriegen. “Na dann, fröhliche Weihnachten!” meint Hasler grinsend.

Wem gehört die Stadt? PENG!Palast diskutieren beim Line Dance.

Regisseur Dennis Schwabenland trommelt die Spieler*innen zusammen, die Zuschauer*innen werden gebeten, Platz zu nehmen. Geprobt wird die erste Szene aus “Die Asozialen – Ein Endzeitwestern”. Die traditionelle Schlachthaustribühne wurde abgebaut, stattdessen sitzt man den Wänden des Raumes entlang auf Holzpaletten der SBB. Ein “Saloon der Zukunft” wird hier behauptet, in dem die Stadt Bern als linksliberale Enklave neu erfunden wird. Diesen Beitrag weiterlesen »