Archiv für die Kategorie ‘Allgemein’

‘Dschnure / Shut Your Mouth

Mirko Schwab am Mittwoch den 7. März 2018

Über ein sehr talentiertes Duo aus Dresden und die Fahrigkeit der Musikvermarktung.

Stimmgewalt ist ein wüstes Wort. Übt gleich selbst Gewalt an den Stimmen, auf die es angesetzt wurde. Gerne verwechseln die floskelfreudigen Sadomasochisten der Promotion – ebenso wie die stinkfaule Musikjournaille – jene diagnostizierte Gewalt mit Feinfühligkeit. Inéz Schaefer ist das wahrscheinlich egal. Sie macht ihre Arbeit, sie macht sie verdammt gut und ob es die Gewalt ist oder die Liebe, die der kleine Mann mit dem Bleistift darin zu erkennen glaubt, ändert im Allgemeinen nichts.

Also:
Shut your mouth. Als mir das Lied letzten Winter im Feed zum Frass vorgeworfen wurde, da fiel ich instantly in Liebe damit; das Schlagzeug direkt ins Gesicht wie ein nasses Tuch, links rechts, und schon ist man mittendrin im wunderschönen Wahnsinn dieser Gruppe. Inéz Schaefer schmettert ihre zuweilen karibisch skandierten Zeilen hinterher und kurz bevor man den Verstand komplett verlöre, Ha!, ist Luft und Frieden: Unter Einsatz eines anmutig glucksenden Vocoder-Geräts seiltanzt sich die Sängerin, eine zurückhaltende Pianofigur als Sicherheitsnetz nur, seiltanzt sie sich in die Höhe und man glaubt Justin Vernon daneben zu erkennen, er nickt ihr zu mit einem Lächeln. Gesichert aber ist folgendes: Moses Schneider, der Bands wie Tocotronic grossartig und Bands wie AnnenMayKantereit mit Sicherheit nicht noch beschissener gemacht hat, dieser findige, zu tontechnischen Abenteuerlichkeiten neigende Intuist, hatte seine geschickten Finger an den Reglern. Schaefer singt, Schneider schält im Hintergrund – das Beste hätten wir beinahe vergessen.

«Minimalistische Beats» behauptet der Pressetext. Und lügt natürlich, jeder Pressetext lügt irgendwo, um der gegenwärtigen Mode einen Gefallen zu tun. (Lügenpresse! Sidenotiz: Die Band hat sich einst in Dresden zusammengetan.) Gelogen also darum, weil die Lieder getragen werden von einer perkussiven Opulenz, vordergründig und aufdringlich im besten Sinn, die mit fiesen Sounds und fiesen Rhythmen so zu operieren weiss, dass ihre Körperlichkeit und Direktheit dabei keinen Schaden nimmt. Dafür verantwortlich zeichnet Demian Kappenstein, Drummer at heart und wild und mindestens die Hälfte.

ÄTNA heisst das ungemein zeitgeistige Duo und brennt mit seiner polytoxischen Mischung aus Electronica und Kammerpop-Songschreibe, aus spätmodernem RxB und in die Klangwelt des Industrial verkanteten Dubmomenten gerade richtig durch. (Besagtes Lied liegt nach Spotify-Beliebtheit mit jämmerlichen 14’000 Hörmomenten auf dem siebten Platz, weit hinter der Pianoballade «Remission» mit 900’000 Plays.)

Ja, das einzige, was an dieser Band wirklich nervt: Die beiden sehen bei all der Begabtheit auch noch verdammt gut aus.

Finden Sie sich heue bei Bee-Flat im Progr ein. ÄTNA spielt auf, die – vielleicht etwas gar gut – bekömmliche Basler Folkpopgruppe Serafyn eröffnet. 19:30.

Postkarte aus Fränwilje-Tobenlosch

Anna Papst am Mittwoch den 28. Februar 2018

Der wunderschöne Erdenfleck ist bilingue und wir sind es auch: Wir diesjährigen Autor*innen des Stück Labors haben uns für eine Schreibretraite im Gasthaus “Des Gorges” in Frinvillier-Taubenloch, ja, eingenistet, und erzählen auf Französisch und Deutsch von poststrukturalistischen Soldaten und gefallenen Kosmonauten, von gebrochenen Verbrechern und Löchern in der Wirklichkeit.

Innerhalb der nächsten zehn Monate werden unsere Stücke in Basel, Bern und Genf uraufgeführt werden, aber noch befinden wir uns in der Autorenblase, in der jede Änderung nur eine Backspacetaste entfernt ist. Wenn der Kopf zu voll und der Magen zu leer ist, fallen wir dreimal um und landen bei Juri im Restaurant. Vier Wildschweinwürste später rattert die Gedankenmaschine wieder, es klappert die Tastatur. “Schreiben ist eine einsame Tätigkeit”, lautet gefühlt jede zweite Überschrift eines Interviews mit einem*r Autor*in. Schön, dass wir an diesem einsamen Ort zu viert sind.

Taubenlochschlucht (schönes Wort)

Im Gasthaus “Des Gorges” kann man fantastisch essen und tief schlafen

Im Stück Labor wird Gegenwartsdramatik gebraut

Dieser Schrieb wird Ihnen präsentiert von der Tamedia AG

Mirko Schwab am Samstag den 24. Februar 2018

Die Widersprüche aushalten. Es ist so ein Satz, den mein lieber Bongoboi Urs gerne einschiebt, wenn sich die Fronten zu verhärten drohen, der Diskurs Fratze zeigt statt Fruchtbarkeit. Es geht um das Dazwischen und die Demokratie. (Und um «Duscholux»!)

Die Widersprüche aushalten. Nichts beschreibt die Sandsteinstadt, in der wir leben, wohl besser als dieses Leitmotiv.

Bild: Jessica Jurassica

Und eines ist sicher: Das Wort «Diskurs» in der Kopfzeile hat noch nie jemanden zum Weiterlesen eingeladen und also Gratulation von Herzen, wenn Sie jetzt noch bei mir sind. Aber zwischen all den lustvollen und aus Überzeugung treuen Kulturgängen und Rezensionen, nebst dem Blick fürs Spezifische, nebst Rosinen, Ausschnitten, Momenten und all den Nahaufnahmen aus der Mitte unseresgleichen, im Abseits vielleicht (ihr Wichser!) – da könnte kurz Platz sein für die Frage nach den sandsteinernen Rahmenbedingungen und einer kollektiven Identität im Widerspruch.

Mach mal halblang (that’s what she said!). Was meinst Du zu erkennen?

Ich lebe zwischen Bundeshaus und Polizeirevier über den Stromleitungen der Strassenbahn, über Strassenmusik und Guggenmusik, über den Stromwegen des Tourismus, der Gschaffigkeit und des Rumlungerns. Eidgenossen und Marcellos Casa und das Bellevue-Fumoir sind sich nah. Projektionen am Parlament erklären mir die Schweiz in Bild und Ton, dann hat das Bürgertum eine Schlöf hingemacht, dann ist Markt. Dann ist Umzug dagegen oder dafür, Alertalerta. Amt und Bank, Armut auf Bänkli, Schachspielen und mit Drogen dealen. Irgendwo dazwischen sind wir alle.

Vorgestern las ich Rysers brillanten WOZ-Report über Kokain. Auf Kokain. Gestern gab ich mir Battlerap, freute mich an Punchlines like «Ich hab mit deiner behaarten Mutter Analsex auf Speed», diskutierte über Feminismus und war gut zu einer Frau. Heute gehe ich ins Stadion und schreie in der Kurve aus Linken und Rechten, Idioten und Gescheiten, Stadtchauvinisten und Landeiern, lasse mich von Werbung penetrieren bei jedem Eckball, jeder Einwechslung, jeder Gelben Karte, obwohl ich wirklich keine «Lust» habe auf ein neues Bad, fick dich «Duscholux» oder befriedige dich selber mit der Brause, ich gehe ins Stadion und träume von einem Meistertitel, der eigentlich wertlos, eigentlich sinnlos und doch aufs Ehrlichste mit meinem Glück – und dem vieler vermeintlich sehr anderer – versponnen ist.

Google fragt irgendwas, ich stimme zu.
Avocado kommt von irgendwo, ich lange zu.
Du sagst irgendwas, ich höre zu.

Im Dazwischen sind wir alle. Und das ist unser Glück. In unserer kleinen Sandsteinstadt verdichtet und verdoppelt sich der Widerspruch, denn wir sitzen alle am selben Tisch und im selben Tram. Sind selbst schon wandelnde Widersprüche. Auch wenn wir uns auf dem Dachboden verschanzen, Transparente aus den Fenstern hängen, Blasen aufblasen, Mauern hochziehen, gescheite Dinge behaupten und dumme Dinge schönreden (s/o to myself!) – es ist zu eng hier im Sandsteingemäuer, als dass wir uns nicht grüssen würden oder auf die Schuhe stehen und uns miteinander zu konfrontieren haben.

Es ist zu eng unter der Hirnrinde, als dass wir uns nicht selber ständig widersprechen würden. Das ist unser verdammtes Glück.

Rauchen im Gebüsch

Anna Papst am Mittwoch den 21. Februar 2018

Theaterprobe unter freiem Himmel am Magdi Elnour Theater Festival

 

Als Ahmed Abdel Mohsen die mit ihm befreundete Filmerin Elvira Isenring 2016 einlud, einen Workshop am Magdi Elnour Theater Festival in Khartoum zu geben, wusste sie vom Sudan bloss, was man in der Zeitung las. Und das war wenig. Die internationalen Medien und ihre Leser*innen waren mit der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigt, das Land, in dem fünf Millionen Menschen am Existenzminimum leben, war vom Radar verschwunden.

Isenring beschloss, diese Wissenslücke aus eigener Kraft zu schliessen. Je mehr sie über die jüngere sudanesische Geschichte las, desto klarer wurde ihr, was in der Schweiz alles an uns vorbeigegangen ist. Dass das Land beispielsweise einen eigenen Arabischen Frühling erlebte, weiss hierzulande kaum jemand. Oder dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung knapp neunzehn Jahre beträgt.

Die ausgesprochen junge Bürger*innen lechzten nach Ausdruck und Austausch, so Isenring, weil das Land so lange isoliert gewesen sei und unter dem autoritären, streng islamistischen Regime von Präsident al-Baschir noch immer wenig Freiheiten erlaubt seien. Von den Freiheiten in der Kunst, die sich die sudanesischen Kulturschaffenden nehmen, handelt Isenrings Radio-Feature „The Black Elephant – Kultureller Widerstand im Sudan“. Bei ihrem Besuch im Sudan habe sie Leute kennengelernt, über die sie berichten wollte: Junge Künstler*innen, die aller Repression zum Trotz experimentelles Theater machen und mit Witz und Kunstfertigkeit den Alltag in einem Staat, in dem offiziell fast alles verboten ist, auf der Bühne widerspiegeln. Dass in einem Theaterstück am Festival etwa ein Schauspieler einen Betrunkenen darstellt, ist eine kleine Sensation, denn der Konsum von Alkohol ist illegal, Betrunkene darf es eigentlich nicht geben.

Bei Mehera Salim wusste Isenring gleich als sie sie zum ersten Mal sprechen hörte, dass sie im Radio-Feature zu Wort kommen muss. „Ihre Stimme, wie sie die Dinge erzählte – wie ein frischer Pausenapfel.“ Die junge Filmemacherin hat einschneidende Erfahrung mit dem repressiven Staat gemacht: Ihren Kurzfilm „Lust“ durfte sie an keinem Festival zeigen. Die behandelten Themen Liebe und Sexualität seien „eine Zumutung“, wurde ihr mitgeteilt. Dabei wird im Film kein sexueller Akt und keine Nacktheit gezeigt, es geht lediglich um zwei Menschen, die sich küssen wollen. Aber Küsse dürfen wie Betrunkenheit nicht von der Öffentlichkeit gesehen werden. Im Anschluss an ihr Gespräch versteckten sich die beiden Filmerinnen gemeinsam im Gebüsch – um zu rauchen.

Dass im Sudan überhaupt ein Theaterfestival stattfinden kann, führt der Theaterregisseur und Aktivist Maruan Omar, den Isenring ebenfalls befragt hat, darauf zurück, dass es einfach zu viele junge, ehrgeizige Menschen gibt, die sich kulturell engagieren. Die Regierung habe gemerkt, dass sie Kunst zulassen und der jungen Generation dieses Stück Freiheit gönnen müsse, weil sie sich sowieso nicht stoppen lasse. Es ist eine Stärke des Features, dass man alle Gesprächspartner*innen in ihrer Muttersprache reden hört. Isenring hat ganz bewusst darauf verzichtet, die Interviews auf Englisch zu führen. Sie wollte Khartoum einfangen, wie sie es erlebt hat, nicht in einer künstlichen, vermeintlich internationalen Sprache.

Ausserdem war es Isenring wichtig, auch die Rolle Europas zu thematisieren. Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde ein EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika ins Leben gerufen, an dem sich auch die Schweiz beteiligt. Hilfsgelder werden jedoch nicht für Bildung und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung eingesetzt, sondern für die staatliche Grenzsicherung, damit keine Flüchtlinge über den Sudan nach Europa kommen. Die sudanesische Regierung sichert die Grenzen und damit ihre eigene Macht – finanziert von den Ländern, die vorgeben, die autokratische Herrschaft zu verurteilen.
Dass der Bericht, der von so weit her kommt, also direkt mit uns zu tun hat, wird wohl auch die Zuhörer*innen am SonOhr Festival leer schlucken lassen, wenn sie am Samstag im Kino Rex „The Black Elephant“ lauschen. Das Feature dauert fast eine Stunde. Eine Stunde, in der man miteinander im Kino sitzt, wobei die Leinwand schwarz bleibt, während der Film im Kopf abgeht.

 

“The Black Elephant- Kultureller Widerstand im Sudan” ist im Rahmen des SonOhr Festival am Samstag, 24. Februar um 18 Uhr im Kino Rex zu sehen.

Bern auf Probe: Literatur gehört auf die Bühne!

Anna Papst am Mittwoch den 14. Februar 2018

Ursina Greuel las 2014 in der Zeitschrift Theater der Zeit ein Interview mit Melinda Nadj Abonji. Die Autorin äusserte sich darin nach einer unglücklichen Uraufführung ihres inzwischen unter dem Titel „Schildkrötensoldat“ erschienen Romans wie folgt: „Literatur, die literarische Sprache erscheint mir geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein, das ich als Ort der Überbelichtung empfinde, der ohne Tricks und (mediale) Effekte nicht mehr auskommt.“ Dieser Satz provozierte die Regisseurin Ursina Greuel, die auch den Stücktext gelesen und Gefallen daran gefunden hatte, so sehr, dass sie Kontakt zu Nadj Abonji aufnahm. Die beiden Frauen lernten sich kennen und die Regisseurin wollte der Autorin gerne beweisen, dass ihr Roman und die Bühne sehr wohl zusammenpassen. Nadj Abonji war sehr zurückhaltend, ihr war die Lust auf Theater zeitweilig vergangen und auch die Arbeit am Roman wollte sie vorerst beiseite legen. Greuel wartete, bis drei Jahre später der Roman beendet und die Lust auf eine szenische Umsetzung zurückgekehrt war.

“Dumm wie Brot” scheint Zoli seinen groben Mitmenschen. Er schweigt – und bäckt. “Soldat Kertész!” ist ab 22. Februar im Schlachthaus Theater zu sehen.

Es ist kein Zufall, dass sich Greuel herausgefordert sah, zu beweisen, dass zeitgenössisches Theater und literarische Sprache miteinander einher gehen können. Seit dem Ende ihres Studiums beschäftigt sich die Regisseurin mit Stücken, bei denen die Sprache im Zentrum steht. Wenn sämtliche Effekte, „Verzierungen“, wie sie es nennt, wegfallen, bleiben nur die Schauspieler*innen und die Sprache übrig. Das reiche, um Theater zu machen. Diesen Beitrag weiterlesen »

Alles Pisse

Urs Rihs am Mittwoch den 7. Februar 2018

Gestern, ein Höhepunkt der Dringlichkeit im I nternational S styler C lub – Pisse aus Hoyerswerda war da. Wer da?
Pisse!

Müde von diskurskritikdreschenden MisepeterInnen komm ich aus dem Sitzungszimmer, knall mir den ersten Korn Appenzeller hinter die Binde und verscheisspiss mich zu Scheisse Pisse ins ISC –

Ein konzeptuell konzeptzerreissendes Postneuewelle-Viergespann aus grossem Nachbars Osten, welches seit seiner Gründung im Zwölf alles bezüglich Indiemusikschmutztbusinesstechnischem so hart konsequent an die Wand fährt, dass es jeder allesdurchdringenderverwertungslogikkritischen Persona eine scheiss pisse Freude sein muss. Und trotzdem oder gerade desswegen sind sie hype.

«Alle machen einen schönen Spagat zwischen Karriere hier und Abfuck dort. Die Generation ˓Soliparty˒ hat sich hier im wahrscheinlich sichersten Land der Erde in die Depression gefeiert und draußen ersaufen die Menschen im Mittelmeer. Syrien, der ganze nahe Osten, Ukraine, Afrika…alles im Arsch. In ganz Europa marschieren neue Rechte… Griechenland und so weiter und so fort…alles im Arsch…. und wir kaufen uns Second-Hand-Schuhe für 100€ und spülen unsere vegane Pizza mit handgemachter Fairtrade-Rhabarberpisse in den Hals.»

(Das Zitat ein Auszug aus einem der selten aus erster/m Hand Mund geführten Interviews des Quartetts)

110 Dezibel in live – ich fass mir beim Konzert nicht an die Ohren und stopf mir auch nichts in ihre Vorgänge, aus Respekt vor der Kraft durch Freude, obwohl es gesundheitsprophylaktisch wohl zu empfehlen gewesen wäre. Aber «Empfehlenswert» ist ohnehin linksliberale Spiesserkackepisse.

Und darum nur eins noch, wenn du in Zukunft das Glück hast diesen Namen in deiner Nähe spielen pissen zu hören, geh hin und stell dich!

Veränderung passiert nicht aufgrund aufgeblasener Phrasen oder nur Attitüde, sondern aufgrund von Überzeugung und der konsequenten Auseinandersetzung mit Widersprüchen.
Darum wird’s von Pisse zur Wahrung der Hoffnung auch nie breitbrüstige Parolen ab der Bühnenfront geben, sondern höchstens Zitate derselben in Form gelbgrünroter Wimpel im Bühnenhintergrund.

Bella Ciao und natürlich alles Pisse!

Wie sieht man denn aus, wenn man performende Menschen per digitalem Klotz während der Show festzuhalten sucht? Respektlos! Darum hier anstelle, das wunderbare Konzertposter.

 

Was Andy Warhol gerne gemacht hätte

Anna Papst am Dienstag den 30. Januar 2018

“I never wanted to be a painter. I wanted to be a tap dancer”, behauptete Andy Warhol von sich selbst. Nachdem man Daniel Borak knapp 90 Minuten lang die Füsse schlackern gesehen hat, ahnt man, warum.

9-Point-Inc nennt sich eine junge Formation von sechs Musiker*innen um den Komponisten Kilian Deissler und den elffachen Stepptanz-Weltmeister Daniel Borak. Der neunte im Bunde ist der Bühnenbauer Raffael Hafner, der in Zusammenarbeit mit Deissler eine Tanzfläche entwickelt hat, die Bühne und Instrument zugleich ist. Neun quadratische Platten, jede einem anderen Instrument nachempfunden, bilden die Grundlage der Komposition “kick the square”. Gespielt wird dieses Neun-Quadratmeter-Instrument von Tänzer Borak. Durch seinen Stepptanz werden die Holzplatten, Gitter oder Metallrohre angeschlagen und zum Klingen gebracht.

Auf diesem Schlagzeug, darf getanzt werden: Stepptanzinstrument und Bühne der Produktion “kick the square”.

Die Idee dazu kam Deissler, als er seinem ehemaligen Schulkollegen Borak nach längerer Zeit wieder über den Weg lief. Beide hatten das Gymnasium abgebrochen, der eine war inzwischen Kompositionsstudent an der Zürcher Hochschule der Künste, der andere feierte als Tänzer und Choreograf Erfolge. Aus musikalischer Perspektive seien ihm die klanglichen Möglichkeiten beim Stepptanz limitiert erschienen, erzählt Deissler. Es reizte ihn, nach neuen klanglichen Qualitäten zu suchen, woraufhin er Borak dazu überredete, auf ungewöhnlichen Flächen zu steppen. Die Suche nach geeigneten Klangkörpern führte ihn zum Küchenbedarfsgeschäft Kuhn Rikon, wo man ihn nach anfänglicher Skepsis enthusiastisch darin beriet, welche Bratpfannen wohl die interessantesten Töne hervorbringen würden, wenn man mit Steppschuhen darauf tanzte.

Erinnert die Fläche mit den fünf Bratpfannen klanglich an eine Cowbell, ist der Quadratmeter mit dem Gitterrost einem Waschbrett, wie es in der Country-Musik eingesetzt wird, nachempfunden. Die vertiefte, mit Polenta bestreute Holzfläche erzeugt beim Tanzen einen Klang von Schlagzeugbesen, betritt Borak mit seinen Steppschuhsohlen das Feld mit den acht Metallstäben, meint man, ein Xylophon zu hören. Zwei nach der Bauweise der Cajon gefertigte Würfel bilden “Snare” und “Bass Drum” der Perkussionsbühne.

Um diese Klangplatten so präzise spielen zu können, dass sie in einer Gesamtkomposition als Rhythmusinstrument  fungieren können, bedarf es einer ausgefeilten Notation, die nicht nur rhythmische Werte, sondern auch Art und Weise der Tanzschritte festhält. Da es eine solche noch nicht gab, haben Borak und Deissler kurzerhand eine entwickelt. Für Borak ist die Aufführung von “kick the square” ein Akt höchster Konzentration. Er, der es nicht gewöhnt ist, im Ensemble zu musizieren, hält mit seinem Tanz nun als “rhythm section” eine sechsköpfige Band zusammen. Klarinette, Trompete, Posaune, Saxophon, Akkordeon und wahlweise E-Bass oder Kontrabass (gespielt von der einzigen Frau im Team) grooven zwischen Swing und neuer Musik.

Aber nicht nur Borak betritt mit diesem Projekt Neuland: Alle Musiker*innen tragen Steppschuhe und tanzen in einem furiosen Höhepunkt des Abends gemeinsam mit ihm auf den neun Quadratmetern Klangfläche, dass die Wände wackeln. Stampfen, hüpfen, hopsen, springen, ein Tanz zwischen Aggression und Lebenslust: Warhol wäre gern dabei gewesen.

Die zweitletzte Station ihrer Tournee führt 9-Point-Inc nach Bern. Heute Abend in der Mahogany Hall um 20.30 Uhr.

Postkarten aus Leukerbad

Urs Rihs am Freitag den 26. Januar 2018

Ich sitz da in diesem dampfenden Dorf fest, eingekesselt von meterhohen Schneewänden und hunderte Meter hohen Felstürmen.

Bedrohlichschön hier und bizarr aus der Zeit gefallen alles.
Gewürfelte Architektur – neoklassizistischer Kitsch aus spiegelglattpoliertem Marmor, neben brutalistisch anmutenden Betonruinen, neben schwarzgebrannten Holzhäuschen aus der Urzeit, neben Konfektionsferienchalets in XXL.

Was halt in den Alpen so rumsteht, historische Dorfkerne erweitert um die Wucherungen des Siebzigerjahre Baubooms.
Plus, speziell Leukerbad, die üblen Nachwirkungen eines in den Neunzigern völlig wild gewordenen Dorfkönigs, der die Gemeindekasse auf dem Gipfel seiner Hybris durch einen Schuldenberg von 350 Millionen – verursacht vor allem durch irrsinnige Luxusbauten – implodieren liess. Story been told. Aber auch eine ästhetische Hypothek.

Brutalismus(?) im Skigebiet – gefällt vom Sessel aus.

Konfektionschalet XXL mit Felsturm im Hintergrund.

Herumlaufen hier ist wie das Wandeln in einer riesigen Kulisse. Leukerbad Kolorit. Der Reiz des Pompösen neben dem des Kaputten und Leeren – Viel Verheissung und viel Projektionsfläche, flankiert von einer Angst aber, die gesamte Szenerie könnte bei der nächsten Staublawine einstürzen und dem Erdboden gleichgemacht werden.

Neben dem Spazieren gönn ich mir darum Bäder in den Thermen, solange alles noch steht und lese dazu «Stranger in The Village» von James Baldwin. Der Meister hat diesen Essay – Pflichtlektüre und Grundstein zum kritischen Weisssein – 1953 hier geschrieben und dem Dorf somit den kulturhistorischen Höhepunkt der letzten hundert Jahre verschafft. Nebst dem Erhalt der Bäder natürlich, den haben die BadnerInnen trotz Vollpleite 1A hingekriegt.

Mehr von mir, wenn zurück in der grossen Siedlung, bis dahin Tschaui, der Urs

Das dampfende Dorf.

Die Prunkbauten der späten 90er – das Stigma Leukerbads bis heute.

Wenn du Erich Hess in Guatemala triffst

Mirko Schwab am Freitag den 19. Januar 2018

Yallah Kulturbürger*innen! Damit hätten Sie nicht gerechnet, als Sie eben Ihren ABO+-Tagespass gelöst haben: Gastautorin Jessica Jurassica nimmt Sie mit auf eine kleine Tour de Lowlife, Mittelstandsverwahrlosung shady side up. Eine Einführung.

Foto: Jessica Jurassica.

Schon krass, was sich mit unserem bodenlosen Ta-mère-dia-Budget alles anstellen lässt. Jetzt gönnen wir uns schon die zweite Gastautorin nach Frau Papst. Wobei, es geht hier um Balance. Oder wie hat Nick Cave so schön gesagt: An Sonntagen sei er zuerst in die Kirche gesessen, bevor er sich alsdann einen Schuss implementiert hat. A little bit of good, a little bit of bad. Ab nächster Woche also kommentiert hier das Internetphänomen Jessica Jurassica den Berner Zeitgeist und Sie fragen sich mit Recht: Who dat girl? Who she is?

Sie dominiert auf Twitterlänge, denn das asozialmediale Bermudadreieck aus Instagram, Facebook und Twitter ist ihr natürliches Habitat. Durch die verdreckte Linse ihres Drogendealer-Natels schiesst sie ungemütliche Kleinode des kleinstädtischen Abfucks, zwitschert von entgleisten Süchten, psychotischen Fantasien und dem Leben im digitalisierten Alltags-Sexismus. Sie fordert mehr Kokain für Frauen und fragt sich, ob sie wohl der eigenen Bubble entfliehen könnte, indem sie einfach mal einen Polizisten vögeln tät. Alltagsfragen also.

Sie dominiert auf Twitterlänge, denn 280 Zeichen müssen reichen. True talk: Haben Sie letzthin auch die «Republik» abonniert und sich auf ihrem Smartphone durch einen textgewordenen Frontalunterricht gescrollt? Solange, bis Sie nicht mehr sicher waren, ob Sie noch lesen oder schon wegdämmernd ihr Telefon mit dem Zeigefinger befriedigen?

Mit Blick aufs Partielle und Fick auf Normcore der Deutschen Rechtschreibung forscht Jessica Jurassica für KSB nach subjektiven Wahrheiten über ein gottloses Leben zwischen Internethass, Drogenverherrlichung, Menstruationsbeschwerden und den Mauern dieser Sandst1stadt.

«ist das antifa demo oder 1 foto shooting» (Lyrics und Foto: Jessica Jurassica.)

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Disclaimer: Falls Sie sich über die zunehmende Sittenverrohung im Kellergeschoss des Mutterhauses aufregen sollten – they are way beyond.

Gewinnen mit KSB: Must-Read auf der Bühne

Anna Papst am Dienstag den 16. Januar 2018

Eine kurze Umfrage im Bekanntenkreis zeigt: In der Hand gehabt hat den Roman “Malina” von Ingeborg Bachmann schon jede*r. Doch während die Einen ihn verschlungen und zum Lieblingsbuch erkoren haben, haben die Anderen ihn, nicht ohne Scham und Reue, niemals zu Ende gelesen. Während die Einen ins Schwärmen kommen über die Eindringlichkeit der Sprache und die Klugheit der textlichen Collage, beschreiben die Anderen die Lektüre als zäh und zusammenhangslos.

Malina ist entgegen häufiger Annahme ein Mann. Die Frau wird schlicht mit “Sie” benannt.                Jürg Wisbach und Chantal Le Moign in der Inszenierung von Mizgin Bilmen. (Foto: Anette Boutellier)

 

Wer mitreden, aber nicht lesen will, hat nun die Chance, sich die Chose als Schauspiel anzusehen: Am Konzert Theater Bern inszeniert die junge Regisseurin Mizgin Bilmen, bekannt für bildstarke Inszenierungen das polarisierende Werk. Wer “Malina” längst gelesen verinnerlicht hat, darf gespannt sein, in welcher Form der an und für sich handlungsarme Roman auf die Bühne kommt.

Eine kleine Leseprobe des Werks sei hier gegeben. Eingefleischte Bachmann- bzw. Malina-Fans werden sofort wissen, auf welcher Seite diese Passage zu finden ist, Neulinge mögen ihre örtliche Bibliothek oder eine gut sortierte Buchhandlung konsultieren und eifrig zu blättern beginnen:

“Denn Heute ist ein Wort, das nur Selbstmörder verwenden dürften, für alle anderen hat es schlechterdings keinen Sinn, ›heute‹ ist bloß die Bezeichnung eines beliebigen Tages für sie, eben für heute, ihnen ist klar, daß sie wieder nur acht Stunden zu arbeiten haben oder sich freinehmen, ein paar Wege machen werden, etwas einkaufen müssen, eine Morgen- und eine Abendzeitung lesen, einen Kaffee trinken, etwas vergessen haben, verabredet sind, jemand anrufen müssen, ein Tag also, an dem etwas zu geschehen hat oder besser doch nicht zu viel geschieht.”

Mit etwas Glück gewinnen Sie 2 Tickets! Schicken Sie eine Mail mit Stichwort “Heute” bis Mittwoch 17. Januar um 12:00 Uhr an diese Adresse.

“Malina” von Ingeborg Bachmann, Inszenierung Mizgin Bilmen, 17.Januar 2018, 19:30 Uhr, Vidmar 2, weitere Vorstellungen bis 21. März 2018