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Prozente, Prozente!

Roland Fischer am Samstag den 10. November 2018

Eigentlich müsste man an dieser Stelle ein Hohelied singen. Wo wäre die Schweizer Kulturförderung ohne dieses 1 Prozent des Migrosumsatzes, das in Bildung, Soziales und Kultur fliesst – über hundert Millionen Franken allein letztes Jahr? Und, hmm, unverschämter Gedanke: Wo könnte sie sein, wenn alle grossen Firmen so einen Umsatzobolus zuhanden der Gesellschaft entrichten würden (vernünftig Steuern zahlen wäre im Prinzip auch schon ok)? Man stelle sich mal vor, es gäbe so etwas wie ein Nestlé-Kulturprozent. Oder, geben wir uns ein wenig bescheidener: ein Promille – würde auch schon reichen, um den Migros-Ausgaben Konkurrenz zu machen. Vor ein paar Tagen wurde kommuniziert, dass jetzt auch noch die Online-Umsätze in das Kulturprozent einbezogen werden. Alles auf Kurs also. Oder?

Nein, leider. Das wird kein Hohe-, es wird ein Klagelied. Ende Oktober nämlich war schon eine Kultur-Medienmitteilung rausgegangen, die eigentlich nicht viel Wesentliches vermeldete. Corporate Communication-Speak halt, interessiert hat das kaum jemanden:

Um Raum für Neues zu schaffen und den sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen, wurden die in der Direktion konzipierten und realisierten kulturellen Aktivitäten und Projekte systematisch hinterfragt. Das Popmusikfestival m4music, die Konzertreihe Migros-Kulturprozent-Classics, das alle zwei Jahre stattfindende Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps sowie das Migros Museum für Gegenwartskunst werden weitergeführt. Zusätzlich werden neue Projekte entwickelt [blablabla].

Hedy Graber, seit 2004 Leiterin der Direktion Kultur und Soziales des Migros-Genossenschafts-Bundes, hält fest: «Wir richten unsere Kulturförderung so aus, dass wir [blablabla]. Wir sind überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit Kultur positive Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes hat und wir mit dem Kulturprozent einen wichtigen Beitrag leisten können.»

Was sich hinter der Mitteilung verbarg wurde erst zwei Wochen später klar: Das Hinterfragen traf ein paar Initiativen ganz direkt, insbesondere die wunderbare Arc Artist Residency in Romainmôtier, in der auch unzählige Berner Künstler an Projekten gefeilt haben oder auf neue Ideen gekommen sind. Noch vor kurzem gab es Aufrufe, neue Ideen und Projekte für massgeschneiderte Aufenthalte einzureichen. Nun das Fallbeil:

Mit Bedauern informieren wir sie, dass Arc artist residency seine Türen schliesst Ende 2018. Wir beenden all unsere Aktivitäten und bieten ab 2019 keine Residenzen oder andere Projekte mehr an.

Weg. Zu. Ersatzlos gestrichen. Für obsolet befunden. Wow, Migros. Hier ist in langen Jahren etwas Tolles – und ja, eher Stilles – aufgebaut worden. Nein, das Arc ist kein Crowdpleaser. Aber das muss Kultur ja nicht immer sein, «um positive Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes» zu haben. Vielleicht sind es ja gerade diese Initiativen, die forschen, ausprobieren, diskutieren – ja, die selbst gern hinterfragen -, die am nachhaltigsten wirken. Die national ebenso funktionieren wie international, die sich nicht besonders für Genres interessieren, die Kultur also nicht in Schubladen stecken. Aber in Zeiten der Niederschwelligkeit, der Kennzahlen und des Wachstumsparadigmas (neue Publika müssen erreicht werden! mehr Leute an die Kultur herangeführt! als wäre ihr Seelenrettendes zu eigen und die Kulturvermittler wären Missionare) hat es für solche ergebnisoffenen und mit Liebe und Sorgfalt wie mit Ernst und langem Atem betriebenen Initiativen offenbar immer weniger Platz. Ein Entscheid, der ratlos macht und ehrlich gesagt ein wenig seltsam riecht – mehr nach McKinsey als nach umsichtiger Kulturförderung.

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