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Bitte sing mir ein Volkslied

Mirko Schwab am Donnerstag den 27. September 2018

Aufwachen im 21. Jahrundert. Waaghausgasse 4. 6 Tabletten. 2 Rossstärken.

Das Zimmerfenster ist immer offen, auch bei Nacht. Sonst hätte ich Angst vor dem Versticken. Am Morgen bricht die Sonne rein, die gelbe Fratze, heisskalt im Frühherbst. Der Giftschweiss sinkt ins Leintuch ab. Von draussen Alphorngebläs. Bravo, Musik! Ich schleife mich 32 Treppenstufen runter in die Küche, Bialetti eindrehen und den Tabak. Auf dem Küchentisch liegt die Wochenzeitung mit Musikbeilage. Lil Peep selig grinst vom Recycling-Papier.

«Pop grotesk» steht drunter. Versuche, die Kontemporärmusik zu verstehen. Haiyti, XXXTentacion, Lil Peep, Lil Xan, Lil Skies, Yung Lean und Trippie Redd – Hyperemotionalität und Sinnesleere, Hyperkapitalismus, Politik zwischen den Zeilen, vielleicht, Generation X.2 auf Autotune und Benzos. Aufwachen im 21. Jahrundert. Oder wegdösen.

Sechs Tabletten Xanax mit Fentanyl liessen den kleinen Peep für immer schlafen.

Frau Bialetti faucht mich an. Manchmal fauche ich zurück. Gsssssshhhhchchch! Selber Gsssssshhhhchchch! Ich male einen Kaffeefleck auf die schöne WOZ-Beilage, die von Arztneimitteln handelt, lesen Sie die WOZ-Beilage. Was ist mit der Popmusik nur los fragt man sich, durchaus genüsslich. You know something’s happening but you don’t know what it is.

Tobias Jundt sagt: Punk ist tot. Reggae ist tot. Jazz ist tot. Hiphop ist tot. Funk ist tot. Schlager ist tot. Klassik auch tot – merkt aber keiner. Und möchte sein Lied zurück, sein existenzielles. Bitte sing mir ein Volkslied.

Es gibt viel zu tun für die Musikjournaille im semiotischen Wald des 21. Jahrhunderts. Dann kommen mir die drei Studentenbuben wieder in den Sinn, drei Milchgesichter aus Bern und Biellle / Bien. Wie sie im Döschwo-Cabriolet durch den Zeitgeist fahren, «sprachlicher Gurkensalat» wie bei Hayiti, Capri Soleil als Lebensgefühl. Die Dekonstruktion des Sommerhits, schon manche haben sich daran versucht. Zweitausendundjetzt klingt das so:

Am Ende ist alles Illusion, ein Trick, ein Code. Aber gestorben wird weiterhin in echt. Was ist zwischen Liebesleid und Leere, Narrativ und Dadaismus?

Greenscreen, Purpledrank, Mountain Dew, Capri Sonne, San Pellegrino, Sophie Hunger und die Ballade vom dünnen Mann, die Ballade vom müden Mann, vom lebensmüden, das Lied vom Tod. Young gun, yung gone.

XXXTentacion ist auch tot. Haiyti spielt am 19. Oktober im ISC. Chic ist eine ziemlich fiktive Boyband von David Bregenzer, Samuel Rauber und Jonas Weber. Die WOZ gibts für 6 Franken inkl. MwSt. am Kiosk.

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