Lido di Jesolo, das heisst von 1. Juni bis 1. September: Hier liegt man Tuch an Tuch. Bikinischönheiten sonnen sich neben Seniorenplauzen, tätowierte Bodybuilder bauen mit ihren gepiercten Kleinkindern Sandburgen, Grosis spielen mit halbwüchsigen Schnauzträgern Softball.
Mitte Mai ist trotz herannahendem Feiertag und angekündigtem Stau Richtung Süden kein Schwein am Strand. Hunderte von aufgestellten Sonnenschirmen bleiben unbenützt, in der einen bereits geöffneten Gelateria steht niemand Schlange, die einzigen Spuren im Sand sind die eigenen. Jesolos Hauptsaisonhauptsprache ist Deutsch in allen Schattierungen: Hier wird Platt geredet, gesächselt, berlinert oder schaffhausert, dass einem die Ohren klingeln. Zur Zeit ist es ruhig; wenn man doch einmal einen anderen Menschen vernimmt, parliert er in weichem Italienisch.
Weil kaum Touristen da sind, hat nichts geöffnet: Der Spielsalon so wenig wie die Ortsdisko oder der Vergnügungspark. Nach 21 Uhr fährt kein ÖV mehr. Das Wasser im Swimmingpool wurde abgelassen. Ein öffentliches Wi-Fi ist für die digitale Ablenkung vorgesehen, seine Leistung bricht jedoch nach 30 Sekunden Betrieb zusammen. Der Aushang des Internetcafés lautet: Geschlossen bis 2. Juni. Aus der massentouristischen Traumdestination ist ein Ort geworden, an dem Alternativreisende auf der Suche nach Entschleunigung fündig werden können.
Ich suche mir eine der schier unzähligen freien Liegen aus und lese den ersten Satz meiner 800-Seiten-Lektüre. Unterbrochen werde ich in den kommenden acht Stunden garantiert durch nichts und niemanden. Es lebe die Nebensaison!
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