Wenn eine Gruppe seit 18 Jahren Theater macht, sammelt sich einiges an. Im Proberaum von Schauplatz International, einem Urgestein der Freien Szene, lassen sich unter anderem ein Ruder-Fitness-Gerät, ein Keyboard, drei Fahrräder, rund 60 Klappstühle, drei Kaffeemaschinen, eine Mikrowelle, zwei Turnmatten, eine Gitarre, ein Fussball, eine Bratpfanne, eine Spritzflasche zur Pflanzenbewässerung und ein Skianzug finden. Das buntgemischte Sammelsurium erinnert an den Inhalt eigener Keller-, Estrich- und anderer Stauräume. In dieser vertrauten Kollektion von Übriggebliebenem macht man es sich gerne gemütlich, um von sich zu erzählen. So wie Marianne Kaiser, die am heutigen Probentag von Anna-Lisa Ellend für das Projekt „Gurlitts entarteter Schatten“ interviewt wird. Darin geht es um ein fiktives Familientreffen der Gurlitts, die alle irgendwie mit Kunst zu tun haben. Biographien und Kunstbezug der behaupteten Gurlitt-Familie speisen sich aus Interviews mit dem Schauspieler Nico Delpy und vier Bernerinnen und Bernern, die die Familienmitglieder auf der Bühne verkörpern.

Was an diesem Familientreffen wohl verhandelt wird? Probefoto von “Gurlitts entarteter Schatten”, geschossen von Schauplatz International Mitglied Anna-Lisa Ellend
Marianne Kaiser wird eine Tante von Cornelius Gurlitt spielen, die aus einem engen Tal kommt. Bei ihr selbst ist es das Emmental. In einem behüteten Mehrfamilienhaus, in dem neben ihren Eltern und Geschwistern auch noch Grosseltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen gewohnt haben, ist sie aufgewachsen. Es wurde ihr im Emmental aber bald zu eng. Mit Marschmusik und Dorfchilbi konnte sie nicht viel anfangen. Als Jugendliche verschlang sie das Buch „Christiane F. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und war fasziniert vom kaputten Berliner Milieu. Bleich sein, fand sie, die mit ihren roten Backen quasi das Inbild des gesunden Landlebens war, das Nonplusultra.
Während Marianne Kaiser erzählt, führt Albert Liebl Protokoll, das neunzigminütige Gespräch wird vom Klicken der Computertastatur begleitet. Anna-Lisa Ellend stellt ihre Fragen der Chronologie des Heranwachsens entlang, kommt von Privatem auf Zeitgeschichtliches zu sprechen. Marianne Kaiser erzählt von Zaffaraya, von einer Zeit, in der es jede Woche eine Demonstration inklusive Sitzstreik vor der Schützenmatte gab. Später protestierte man gegen die Atomtests unter Jacques Chirac oder pilgerte nach Mühleberg um gegen hiesige AKWs mobil zu machen.
Um von der Grundidee über die Interviews zum Stücktext zu gelangen, haben Schauplatz International ein mehrstufiges Verfahren entwickelt, erklärt man mir später. Wenn Ellend die Leute kennenlernt, hat sie mögliche Themen und Figuren lose im Hinterkopf, hört zu und hält gelandete „Treffer“, bei denen überraschenderweise eine Übereinstimmung zwischen fiktionaler Idee und biographischem Material gefunden wird, fest. In einem nächsten Schritt wird konkreter gefragt und nach spezifischem Stoff gegraben. Zuletzt verarbeitet Liebl die Ausbeute der Gespräche zu Text, lässt weg, verdichtet, erfindet dazu. Das Resultat ist eine Mischung aus dem, was gesagt wurde, und dem, was man gerne gehört hätte.
Marianne Kaisers Lebensgeschichte führt vom Emmental über Bern bis nach Brasilien, zu einem Leben im Dschungel. Nach Bahia, wo man in die Hände klatschen musste, bevor man sich auf die selbstgebaute Toilette setzen konnte, damit die Fledermäuse, die sich dort eingenistet hatten, Reissaus nahmen. Auch auf die Kunst kommt man zu sprechen, auf die Bilder, die in ihrem Elternhaus hingen, auf das Gefühl, das sie überkommt, wenn sie in einem Museum ist – „wie in einer Kirche“. Was von dieser Fülle an Erzähltem im fertigen Stück vorkommen wird, lässt sich an diesem Probentag, fünf Wochen vor der Premiere noch nicht sagen. Auch nicht, welche Wirkung der Text im Bühnenraum, einem White Cube ohne Bilder mit weissen und crèmefarbenen Teppichen, entfaltet. Aber man kann es kaum erwarten, es herauszufinden.
Die Lenzburgerin Anna Papst arbeitet für ein Jahr als Hausautorin am Konzert Theater Bern. Dieses vorübergehende Asyl nutzt sie, um die lokalen Probegepflogenheiten auszukundschaften. Einmal pro Woche schielt sie über den kantonalen Gartenzaun, um mitzukriegen, was in Bern so geübt wird.
« Zur Übersicht