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Bern auf Probe: Kuck mal, wer da spricht

Anna Papst am Dienstag den 26. September 2017

Wenn das movo-Ensemble durcheinanderredet, entsteht ein Chaos mit Zeitverzögerung. Man ist sich – wie bei jeder Theaterprobe auf der Welt – nicht einig, mit welchem Satz es weitergeht. Die Schauspielerin Grazia Pergoletti, die die Gebärdensprache nicht frei beherrscht, argumentiert mit Worten, die Gebärdendolmetscherin übersetzt an ihren gehörlosen Kollegen Gian-Reto Janki, der antwortet in Gebärdensprache, die hörende Schauspielerin Lilian Fritz, die eine Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin abgeschlossen hat, fragt zurück und übersetzt simultan in gesprochene Sprache. Regisseurin Meret Matter ruft hinein in das Durcheinander, die Gebärdendolmetscherin übersetzt wieder an Janki, der ihr antwortet, während Pergoletti schon wieder mit Matter im Gespräch ist. Schliesslich greift man zum Textbuch und stellt fest: Der gehörlose Janki hat als Einziger den Text richtig gewusst.

So sieht einer aus, der gerade eine Busse kassiert: Die Ensemblemitglieder von movo bei der Probe.

Dass man aneinander vorbeiredet, ist aber die Ausnahme beim movo-Ensemble: Das ständige Übersetzen von gesprochener Sprache in Gebärdensprache und zurück erfordert, dass immer nur eine*r spricht. Die Situation, dass zwei sich unterhalten und eine dritte Person es nicht verstehen kann, möchte man vermeiden. Deshalb sitzt direkt neben Meret Matter auf jeder Probe eine Gebärdendolmetscherin, die alles, was Matter sagt, simultan übersetzt.

So auch bei der Wiederaufnahme des Stücks “Über die Verhältnisse”, das nach Zürcher Vorstellungen im Mai nun auf Herbsttournee geht. Das Stück, geschrieben von Meret Matter und Raphael Urweider, handelt von zwei Paaren und ihren Geldsorgen. Während eines der Paare zwar finanziell gut dasteht, sich aber nicht einig wird, wofür ihr Erspartes ausgegeben werden soll, gibt das andere Paar das Geld mit vollen Händen aus, obwohl keiner der beiden einen Job hat.
Bei beiden Paaren ist jeweils ein Partner hörend und einer gehörlos. Das Stück macht diesen Unterschied aber nicht zum Thema – und das ist eine seiner Stärken. Ganz selbstverständlich werden hier Beziehungsprobleme thematisiert, die sich null von den Beziehungsproblemen hörender Paare unterscheiden. Dieser gleichwertige Umgang macht sich auch in der Probe bemerkbar: Von allen wird Präzision verlangt, von den einen im Tonfall, von den anderen in der Mimik und Gestik. Ob ein “Nein” geflüstert oder geschrien ist, muss auch in der Gebärdensprache erkennbar sein.

Auch im Publikum wird nicht zwischen Hörenden und Gehörlosen unterschieden. Die hörenden Schauspieler*innen sprechen bei Dialogen mit den gehörlosen Kollegen beide Texte. Bei ihrem eigenen Text übersetzen sie simultan in Gebärdensprache. “Das war mit Abstand das Schwierigste!” erzählt Schauspieler Dominik Gysin. “Authentisch zu sprechen und gleichzeitig korrekt in Gebärdensprache zu reden. Gehirnknoten!”
Trotz dieser Gleichwertigkeit erhält man als Zuschauer*in einen Eindruck davon, wie es als Gehörlose*r unter Hörenden sein kann. Im Stück wird ein gehörloser Autofahrer von einer Polizistin angehalten. Als er ihr bedeutet, dass er nichts hört, schreit sie ihn an. Aber der Autofahrer bewahrt die Fassung – und zeigt seinem Mitfahrer in Gebärdensprache heimlich das Zeichen für Arschloch.

Damit die Musik des Stücks auch für gehörlose Zuschauer*innen erlebbar wird, erhalten sie zu Beginn einen Ballon. Durch den aufgeblasenen Ballon übertragen sich die Vibrationen des Schlagzeugs. Gian-Reto Janki gibt eine Anweisung in Gebärdensprache, die nicht übersetzt wird. Als ich nachfrage, verrät mir Meret Matter: “Bitte während der Vorstellung den Ballon nicht herumwerfen oder platzen lassen.”

“Über die Verhältnisse” von Raphael Urweider und Meret Matter, Vorstellungen 28.September – 1. Oktober, 20:30 Uhr, Tojo Theater, Reitschule Bern

Die Lenzburgerin Anna Papst arbeitet für ein Jahr als Hausautorin am Konzert Theater Bern. Dieses vorübergehende Asyl nutzt sie, um die lokalen Probegepflogenheiten auszukundschaften. Einmal pro Woche schielt sie über den kantonalen Gartenzaun, um mitzukriegen, was in Bern so geübt wird.

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