Ostermundigen liegt in den Tropen. Davon kann sich überzeugen, wer spätnachmittags im Spätsommer auf dem schwarzen Ledersofa im Studio 2 der Tanzschule Danceorama Platz nimmt. An der Decke verrichten vier Ventilatoren träge ihren Dienst, der darin besteht, die feucht-warme Luft im Kreis herum zu schieben und gleichzeitig die vom eigenen Motor abgesonderte Hitze hinzuzufügen. Die Sonne knallt durch die ganzseitige Fensterfront, aus den aufgehängten Boxen schmachtet Ricky Martin in einer gefühlten Lautstärke von 100 Dezibel “She bangs”. Den Zimmerpflanzen scheint es zu gefallen: Drachenbaum, Bananenstaude und Areca Palme gedeihen prächtig und auch der Frauenhaarfarn dürfte angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit auf seine Kosten kommen. Dass man sich in diesem Quasi-Gewächshaus dennoch aufwärmt, um sich bei der anschliessenden Tanzprobe nicht zu verletzen, zeugt von der Hingabe und Disziplin des hier trainierenden Paares: Corina Masciadri und Marc Aeschlimann sind vierfache Berner Meister im Latin Dance und wollen am kommenden Samstag an den Offenen Berner Tanzmeisterschaften in Schwarzenburg den Titel verteidigen.
Es folgt “Bamboleo” von den Gipsy Kings, auch bei der Musikwahl des Warm-Up bleibt man dem Latin-Genre treu. Während Corina zwanzig Hampelmänner macht, stemmt Marc dreissig Liegestützen, während er 30 Sekunden in der Liegestützposition an Ort joggt, hält sie sich die gesamte Zeit im “Brett”. Nach 10 Minuten schinden sind die beiden nicht nur aufgewärmt, sondern schweissbedeckt – und die eigentliche Probe hat noch gar nicht begonnen. Die Tanzschuhe werden geschnürt, Mann wie Frau tanzen mit Absatz und aufgerauhter Ledersohle. “Die Bodenhaftung ist wichtig, damit man nicht ausrutscht”, erklärt Marc. “Ich schmiere mir Rizinusöl auf die Sohlen, im Notfall tut es auch mal Coca-Cola.” Die Verkäuferin in der Apotheke ahne wohl nicht, woher sein hoher Verschleiss von Rizinusöl rühre. “Sie wird sich ihren Teil denken.”
Die Probe beginnt mit einer Rumba. Getanzt wird ohne Musik, zu leisem Zählen und kurzen gegenseitigen Anweisungen. In der Stille entwickelt sich eine Choreographie, die auch in einem Kampfkunstfilm vorkommen könnte. Ausgewählte Positionen werden gehalten, um dann im Bruchteil einer Sekunde wieder aufgelöst und in hohem Tempo vollendet zu werden. Dazwischen greifen beide zum Schweisstuch. “Ich dampfe wie ein altes Pferd”, lacht Marc. “Und ich wie ein Nilpferd”, kontert Corina, und damit hat sie einerseits recht, denn sowohl bei einer sportlichen Tänzerin wie auch bei einem Hippopotamus glänzt die Haut von Feuchtigkeit, aber die zierliche, federleicht wirkende Statur von Masciadri lässt sich kaum mit dem tonnenschweren Säugetier in Verbindung bringen. Man tanzt nun mit Musik und es geht Schlag auf Schlag: Samba zu “Mas que nada” von Sergio Mendes, Cha Cha Cha zu einer durch intensiven Gebrauch der Cha Cha Bell gekennzeichneten Version des Prince Songs “Kiss”, Jive zu “Ab in den Süden” von Buddy vs. DJ The Wave und Pasa doble zu “España cañi”.
Corina wechselt die Schuhe und tanzt jetzt in High Heels – obwohl es schmerzt. Seit ein paar Tagen bereitet ihr die Achillessehne Probleme, aber hohe Schuhe sind Pflicht bei einem Tanzturnier, genau wie enge Kleidung und fixierte Frisur. Der Teint ist zwar nicht vorgeschrieben, dennoch gehen die meisten Tänzer*innen ins Solarium oder greifen zum Selbstbräuner. Die Männer sind glatt rasiert, die Frauen sowieso, und wegen den Scheinwerferlichts stark geschminkt. Ein Tanzturnier, das wird auch während des Trainings durch den ständigen Kontrollblick in den Spiegel klar, ist in erster Linie eine Show. Es wird gelächelt, auch wenn einem nicht danach zumute ist, und obwohl die Tanzfiguren erotisch aufgeladen sind, wird es nie schmutzig oder gefährlich.
Dass dem Tanzpaar trotz aller Künstlichkeit, die im Showtanz steckt, nicht die Bodenhaftung verloren geht, liegt nicht nur am Rizinusöl: Beide üben Berufe aus, bei denen sie nicht im Mittelpunkt stehen. Corina ist in der Ausbildung zur Sekundarschullehrerin, Marc arbeitet als Anästhesiepflegefachmann. Im Latin Dance, sagen die beiden, spielen sie eine Rolle, leben ein Alter Ego aus, das nur solange besteht, bis der Tanz zu Ende getanzt ist.
Die Lenzburgerin Anna Papst arbeitet für ein Jahr als Hausautorin am Konzert Theater Bern. Dieses vorübergehende Asyl nutzt sie, um die lokalen Probegepflogenheiten auszukundschaften. Einmal pro Woche schielt sie über den kantonalen Gartenzaun, um mitzukriegen, was in Bern so geübt wird.
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