Avec le temps tout s’en va. Und auch die alten Berner Folksongs gehen mit der Zeit – ein Streifzug durch Urs Hostettlers Diskographie auf $$$potify und so.
Es passt irgendwie nicht recht zusammen. Die auf Benutzerfreundlichkeit polierte, spätmoderne Rahmung des schwedischen Streamingdiensts und darin all die alten Platten, Lieder und Tänze, Geschichten von Bauernaufständen, Aufgehenkten und im Wald zverlieren gegangenen. Und dazwischen: die von der Spotify-Frau unerschöpflich gutgelaunt gestellte Frage, ob man sich nicht Premium «holen» wolle für den werbefreien Hörgenuss. Auch das zeitgenössische Verständnis von Autorenschaft – in unheiliger Allianz mit dem Bedürfnis nach effizienter Sortierung – steht dem anarchistischen Zeitgeist der Siebziger- und Achtzigerjahre etwas schief gegenüber: Auf den alten Platten tummeln sich berndeutsche Übersetzungen, historische Fundstücke nebst Hostettlers eigenen Texten. Und natürlich allerhand MitmusikerInnen. Dennoch prangt über der gesammelten Musik in fetten Lettern Hostettlers Name allein. Kanye-style. Dem Liedersucher und Liedermacher ist es dann selbst etwas sauer aufgestossen, dass es im spätmodernen Musikverleih nicht weit her ist mit der sauberen Verdankung. So hat er alle Beteiligten gewissenhaft nachgetragen in seinem persönlichen digitalen Daheim.
Sie kennen Hostettler nicht? Wahrscheinlich liegt irgendwo auf dem Küchentisch ein Spiel von ihm. Tichu vielleicht, das wohl beliebteste, für dessen Nichtbeherrschung einer auch gerne mal aus der lustigen Studentenrunde ausgeschlossen wird – und bleibt, weil das Ding ja nicht zu erlernen sei. Oder Anno Domini, das lange vor der kanonischen Toilettenlektüre «Unnützes Wissen» die schönsten historischen Nebensächlichkeiten versammelt hat. Tausend Dinge hat der promovierte Mathematiker schon angezettelt und ausgeheckt, historisch-literarische Bücher und mysteriöse Stationentheater. Zunächst aber war er ein Musiker und Dichter in den goldenen Schweizer Folkjahren nach 1970. Zusammen mit seinen kongenialen brothers in crime: Der für die technisch versierten und glasklar vorgetragenen Pickings zuständige Tinu Diem einerseits und der beherzt aufspielende Luc Mentha an der Geige andererseits. Mit ihnen hat Hostettler damals einige der bis heute anmutigsten berndeutschen Lieder ersonnen. Und nicht wenige auch ausgegraben, alte Verse und Melodien aus einer vergangenen Zeit, die so gar nichts mit dem Hudigäggeler zu tun haben, der am Bügellift aus dem Billethäuschen dudelt.
Folk war einmal Jugendkultur, das Gurtenfestival war einmal Folk. Auf Schloss Lenzburg lauschten Tausende den Geschichtenerzählern mit Engelshaar. Die grundlegende Gesellschaftskritik der Zeit liess sich stimmig mit tradierten Liedformen, antiquarischen Instrumenten und den Geschichten vom einfachen Volk verbinden. Und wahrscheinlich liess sich mit der Gitarre auf dem Knie auch ein Herz erobern, zumindest für eine Nacht – but that’s part of every youth culture though. Und also, vierzig Jahre später – das Gurtenfestival ist wenig mehr noch als Werbefläche, an Schloss Lenzburg rauscht man intercity vorbei, das Engelshaar ist licht geworden – treten diese gleichzeitig zarten und wütenden, poetischen und hemdsärmeligen Lieder auf Spotify wieder an die Oberfläche. Ein Glück – geben Sie mal ein:
Don Quijote
Hostettlers Rehabilitation für den cervantischen Vorzeigeloser – war er nicht eigentlich ein etwas unglückliches Vorbild für uns alle, die wir gegen die Maschine anrennen? Dass sich auch der verlachte Kampf noch lohnt, dass wir den Verhöhnten zuhören sollten mehr als den Schulmeistern, davon erzählt uns dieser rhythmisch sorgfältig getaktete Song.
Ballade vom Leuenberger
Es ist ihm nicht wohl ergangen, dem Niklaus Leuenberger, Anführer der Untertanen während des Bauernkriegs 1653. Das Lied über den gefallenen Emmentaler Helden ist ein schönes Beispiel dafür, wie Hostettler Diem Mentha mit historischen Materialien umzugehen wussten. Mit Harmoniegesang wird die letzte Stunde Leuenbergers besungen, bevor sie ihn, geköpft und zu Riemen geschnitten, vor Bern an die Landstrassen gehängt hatten.
Es Gryfe nach em Wind
Dieses zerbrechliche Lied ist eine Liebe geworden. Ein musikalisches Thema von seltener Eleganz, die Verhandlung der grossen Fragen als tieftraurige Elegie. Ein kleiner Gryphius?
Chlyni Truckli
Auf der Platte «Lieder & Tänz us der Schwyz» versteckt sich unter den überlieferten Traditionals auch dieses eigenartige Stück. Der englische Originaltext «Little Boxes» geht auf die amerikanische Liedermacherin Malvina Reynolds zurück. Wie gut die schulterzuckende Beschreibung eines gutbürgerlichen Lebensentwurfs in ein berndeutsches Truckli passt, zeigt Hostettlers feinfühlige Adaption. Eine Übersetzungsleistung, wie sie in der Mundart-Popgeschichte seither wohl nur Lauener in vergleichbarer Qualität geglückt ist.
Lied a üsi Zyt (Fährimaa) + Schlaflied
Vom ersten Langspiel «Geier». Das Zupfmuster stolpert wie der Erzähler aus dem Wald, von einer bleiernen, in Apathie erstarrten Zeit geflohen. Ein Vögelchen, ein Fährmann und ein Suchender; die symbolische Verknappung der Übriggebliebenen. Der anklingende Weltschmerz dieser Winterreise, er mutet romantisch an. Das folgende «Schlaflied» offenbart die Brillanz Martin Diems – der ewige Schlaf als Erlösung oder ist es nur das Träumen?
Martha-Blues + Dräckigs Gschir Blues
Dieses ungleiche Paar noch als Gegenfolie zum symbolisch-romantischen: Ach, Martha zum einen, diese skrupellose femme fatale, die den armen, um männliche Fassung bemühten Tropf zuhause warten lässt, während sie es lustig hat in der Beiz. Und im anderen Lied ein umgekehrtes Leid: Das Leid des weinerlichen Schwerenöters, der den Bogen selber soweit überspannt hat, dass ihm die Geliebte durchgebrannt ist – und sich schliesslich niemand mehr um den Haushalt kümmert. Die beiden Lieder sind auf verschiedenen LPs erschienen, «Martha» auf dem Erstling und «Dräckigs Gschir» auf der «Chamäleon Collection», beides aber Leihgaben von Emil Hugentobler. Und beide Zeugen eines erdigen Witzes, dem Blues eigen und ebenso prägsam für die Folkies wie der Schöngesang.
Ein Streifzug ist selten vollständig. Und ins Schwarze trifft der Streifschuss nie. Es sind ein paar Gedanken, die mir beim neuerlichen Herauskramen einiger von Hostettlers Liedern und Interpretationen in den Sinn gefahren sind. Als Anregung, sich am Beispiel von Hostettler Diem Mentha wieder eingehender mit der Schweizer Folk-Tradition auseinanderzusetzen. Mit einer Geschichte auch, die sich anhand der oft geehrten «Berner Troubadours» nur halb erzählen lässt.
Das ist heute einfacher als je. Alors vraiment: Avec le temps, va, tout va bien.
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