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Zugezogen: #1 «Über Nacht gebaut»

Urs Rihs am Samstag den 15. Oktober 2016

Unsere Stadt lebt auch von Zugezogenen, vom Land, vom Ausland oder gar St.Gallen. Hier gibt es Geschichten dazu, Angereiste und ihr kulturelles Erbe und warum Bern sie braucht.

Freitagabend sass ich zuhause und hörte mir – begleitet von einem kulturpessimistischen Schub – irgendwelchen russischen Coldwave aus den 80ern an, was dazu führte, dass ich meine komplette Scherbensammlung wechselweise als hilflose Anhäufung von synthetischen Emotionen oder als hedonistischen Dünkel empfand. Im Netz lief zudem nur Cloudrap, was – angesichts meiner leeren Codeinbestände – zu noch grösserer Verstimmung führte. Ich musste also raus, schmiss den alten Schweden an und fuhr in die Lorraine zu meinem türkischen Freund B. Um Trost zu suchen in seinen Erzählungen, seinen Geschichten und in anatolischer Volksmusik.

Gecekondu Skizze by «der urs illustration»
B. serviert Tee und Raki, was schnell zu einer wattigen Atmosphäre führt, mein Selbstmitleid verfliegt und ein wohlig-warmes Gefühl macht sich breit. Aus der Stereoanlage perlt Brenna Maccrimmon – die Kanadierin, welche 1981 in einer Bücherei per Zufall eine türkische Folkplatte fand und danach Toronto Richtung Istanbul verliess, um diese Musik selber spielen zu lernen – wunderschöne Musik. «Mittlerweile ist Maccrimmon einer der grössten Namen in der zeitgenössischen Szene, begeistert gar Traditionalisten», wie mir B. erklärt.

Ich steige um auf Bier, B. auf Whisky. Er legt Gecekondu auf und erzählt mir von seinen Grosseltern, welche in den 50er Jahren von der Provinz in die Stadt flüchteten, weil der Boden nicht mehr hergab, was nötig gewesen wäre um zu bleiben. In Istanbul entstanden damals überall provisorische Siedlungen, Gecekondus eben, was soviel bedeutet wie «über Nacht gebaut». Die gleichnamige Platte stammt übrigens von der Band Baba Zula, psychedelischer Rock gemischt mit Oriental; klingt vedächtig nach Ethno, ist aber schon geil, nicht etwa nur billige Folklore mit Rock Versatzstücken. Eklektisch sicherlich aber sehr smooth und mit supergutem Groove.

B. erzählt wie die Parzellen der Gecekondus später von Privaten für gewaltige Summen aufgekauft, bebaut und die neuen Immobilien für noch viel horrendere Summen vermietet wurden – auch seine Grosseltern konnten sich so ihre Existenz sichern – heute gehören die früheren Gecekondus zu den hipsten Vierteln Istanbuls; Turbogentrification war das, sozusagen.

Wir werden politisch, sprechen über das Osmanische Reich, Atatürk, Aleviten, Sunniten, über die jetzige Situation mit Erdogan und die Utopie eines Vielvölkerstaates in Rojava. Wir spekulieren und zweifeln, an Machtstrukturen, an Parteihierarchien und werden uns nur über Grundsätzliches einig: Am Ursprung der meisten Auseinandersetzungen stehen stilisierte Probleme. Soziale Probleme, welche zu ethnischen verformt wurden, um sie im Nachhinein zu instrumentalisieren; für die eigenen Machtbestrebungen, sowohl von Einzelpersonen wie auch von Parteien und dem Militär. Mit Abstammung und Tradition lässt sich halt viel einfacher Politik betreiben als mit sozio-ökonomischen Zusammenhängen.

Dann ist aber genug des Geschwurbels und wir fokussieren uns wieder auf Musik und Trank.

B. ist einer dieser Menschen, der auch mal eine Fünf gerade sein lässt. Ihm nur schon zuzuhören beruhigt und dies scheint mir immens geheurer als der Weisheit letzter Schluss. Die Nadel des Plattenspielers dreht schon lange in der Endlosrille, wir umarmen uns und ich lasse den Schweden in der Lorraine stehen um mich zu Fuss auf den Heimweg zu machen. Beim Hirschengraben fällt mir auf, dass ich gar nicht weiss, warum B. zugezogen ist; frag ich ihn beim nächsten Mal. Aber eigentlich spielt es auch keine Rolle, er hat seiner Heimat den Rücken gekehrt und ist – zum Glück – in Bern gelandet.

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4 Kommentare zu “Zugezogen: #1 «Über Nacht gebaut»”

  1. Jonatan sagt:

    Ich bin ja vo Züri da ane zoge.. Drum känn ich das.
    Also d Gentrifizierig meinich.

  2. m. sagt:

    wir alle segel dahin.
    über nacht!
    in’s nichts..
    zu allem!

    I like U.&B. together!
    bitte mehr!

  3. Klara sagt:

    für mich auch: bitte mehr davon!