Gegenaufklärung ist ein tolles Wort. Noch schöner ist es in Neonlettern geschrieben und über eine Bühne gehängt. Es macht viel auf und verbaut nichts. Ausgerechnet das Konzert Theater Bern veranstaltet die Talkshow von und mit Jürg Halter. Die in der Ankündigung verspricht “das Show-Prinzip“ zu „unterlaufen“. Passt das zusammen? Geht das? KSB war in der 2. Ausgabe der Reihe dabei.
Zum Anfang seiner selbsternannten Anti-Talkshow liest Jürg Halter, gekleidet in etwas, das später als grauer Overall in Erinnerung bleibt, ein Pamphlet, mit dem er das Publikum aufklärt über Dinge, die wir schon wissen, sich dafür entschuldigend, dass wir sie schon wissen. Dass die 62 Superreichen zum Beispiel so viel besitzen wie… Sie wissen schon. Impliziert ist natürlich der Vorwurf, dass sich niemand empört, obwohl wir sehen, was schief läuft. Das aufgeklärte, selbstkritische Theaterpublikum nickt zustimmend – in seiner Komfortzone der Kunst, ist es sicher. (Es klatscht einer im Publikum laut bei den Wörtern Fondue und Münchenbuchsee, die später an diesem Abend fallen.) Der Vorwurf ist richtig. Und Halter ist wütend und verzweifelt über die Welt. Er formuliert das immer wieder sich stoisch wiederholend auf Facebook, in Kolumnen, in seinen Gedichten. Auch heute auf der Bühne.
Mit auf der Bühne sitzt von Anfang an ein lächelnder und von Zeit zu Zeit ins Publikum winkender Mensch, der später mit seltsamer Computerstimme Texte über und von den tollen Gästen !Mediengrppe Bitnik vorliest, als diese unter Applaus auf die Bühne treten. Dass da etwas nicht stimmt, ist von Anfang an klar. Nach der Begrüssung und ein bisschen Gedudel von Elia Rediger folgt ein künstlerischer Beitrag von Halter, eine Kritik am gläsernen Mensch und dem „veräusserten Verstand“, dem Smartphone, im Halter’schen Duktus vorgetragen –soweit so nicht neu.
Niemand sagt, dass Neues nicht auch Gefahren mit sich bringt, aber weiter als bis zu diesem Punkt geht Halter nicht. Auch nicht, als er den Typ auf der Bühne als künstliche Intelligenz entlarvt, den die !Mediengruppe Bitnik aus dem Darknet bestellt habe. Viel interessanter wäre doch die Frage: Wie gehen wir mit diesen neuen Phänomenen um? Die Angst vor künstlicher Intelligenz und dass sie uns ersetzen könnte, verhindert doch nicht, dass wir an manchen Stellen (vielleicht zu Recht) ersetzt werden? Und was, wenn das Smartphone gar nicht Zombies aus uns macht, sondern einfach eine völlig neue Art von Gleichzeitigkeit etabliert? Ist die Angst vor Erneuerung nicht gefährlicher als die Erneuerung selbst?
Die Bilder, auch der Avatar Schrägstrich Menschmaschine Schrägstrich künstliche Intelligenz aus Münchenbuchsee (haha), das allmächtige Smartphone, das Publikum, das sich Schreckliches aus der neoliberalen Welt vorlesen lassen muss und wissend nickt, sind seltsam platt.
Zum Glück ist da die !Mediengruppe Bitnik. Alles andere ist Beigemüse an diesem Abend. Carmen Weisskopf und Domagoj Smoljo machen intelligente Konzeptkunst, wie ein Paket an Julian Assange in die Ecuadorianische Botschaft schicken und später mit ihm Fondue (haha) essen, ein automatisches Programm, das im Darknet einmal wöchentlich nach dem Zufallsprinzip Sachen einkauft (Drogen, Schlüssel, Kreditkarten) erfinden und die Zürcher Oper (“Oper ist sozusagen das Gegenteil von Internet”!) verwanzen. Davon erzählen sie.
Genau damit schaffen sie etwas, das vorher nicht greifbar war, Gegenaufklärung: Sie benutzen genau die Medien, die Halter kritisiert, benutzen sie ohne zu belehren und, wie sie beschreiben, „mit gewolltem Kontrollverlust“. Sie zeigen uns so Gefahren und Möglichkeiten auf.
Nach anderthalb Stunden ist der Spass leider schon wieder vorbei und es bleiben viele Fragen und die Aktionen der !Mediengruppe Bitnik hängen. Die sind auch noch am Tag da. War also ok. Und, den Gästen sei Dank, auch irgendwie spannend.
P.S. Niemand verwendet schöner und selbstverständlicher gendergerechte Sprache als Carmen Weisskopf! Yeh!
« Zur Übersicht
Es ist amüsant zu lesen, wie sich die Kritikerin in ihrer allzu offensichtlichen Antisympathie (oder ist es gar eine verkappte Bewunderung?) gegenüber Halter gefällt. Wer aber hatte die Idee zum Abend? Wer die Gäste geladen und inszeniert? Nun gut. Meiner bescheidenen Meinung nach war es ein vielstimmiger, gedankenreicher Abend. Als Ganzes wie zumeist auch in zumeist auch in seinen Einzelteilen. Abende wie sie es viel zu selten gibt in dieser zunehmend intellektuellenfeindlichen Stadt.
P.S. Der ganze Spruch von Halter lautet übrigens: “Die 62 Reichsten besitzen so viel wie die halbe Weltbevölkerung. – Wir sind der Selbstregulierung der Märkte zu tiefstem Dank verpflichtet.”
Wer diesen Nachsatz unterschlägt, hat oder will die Ironie nicht verstanden (haben).