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«Ein Blümli, wo verdorrt.»

Gisela Feuz am Mittwoch den 16. Juli 2014

Der Berner Schriftsteller Roland Reichen hat im 2007 bereits in seinem Erstling «Aufgrochsen» einigermassen schwere Kost aufgetischt: Zwei handicapierte Kinder bekommen Kinder und geben weiter, was ihnen selbst widerfuhr, nämlich Brutalität und Enge. Auch im gerade erschienenen Zweitling «Sundergrund» erlebt Protagonist Fieder Kleinjenni einen schweren Start ins Leben: «Er [Doktor Maurer] schriss das munzige noch etwas klumpenförmige Mönschli mit der guten alten Geburtszange aus dem mütterlichen Schoss.» Fieder wächst in der Folge in einem engen, finsteren und ewig feuchten Ort namens Sundergrund im Berner Oberland in prekären Familienverhältnissen auf. Mutter Hedi, die ihm wenigstens noch ein bisschen Wärme hätte bescheren können, wird wegen ihren Depressionen in die psychiatrische Anstalt, nach «Münsige links», verfrachtet, wohin ihr später auch der Bruder folgt. Zurück bleibt der gewalttätige Vater Schlufi, der den kleinen Fieder von Geburt an quält, prügelt und auch nicht die kleinste Spur von Interesse oder Wertschätzung für seinen Sohn zeigt. Weil er einem Mädchen imponieren will, kauft sich Fieder zum ersten Mal braunes, bröcheliges Pulver – «Braun Schuger» – und weil ihm dieses zumindest kurze Momente von Geborgenheit beschert, wird er zum Junky.

sundergrund

Ungefähr so dürften Sundergrunder Landschaft und Gemütslagen aussehen.

Roland Reichen erzählt in «Sundergrund» nicht nur die trostlose und bedrückende Geschichte von Fieders kurzem Leben, sondern schiebt kapitelweise auch die Schicksale von dessen Eltern und Grosseltern dazwischen, die selber zeitlebens als Billigarbeiter ausgebeutet wurden; desolate Existenz über mehrerer Generationen also. Unter die Räder gekommen sind die Beteiligten, weil sie von Anfang an schlechte Karten hatten, wobei die Einzelschicksale symbolisch für all die namenlosen Verlierer stehen, die es im Wohlstandsland Schweiz eben auch gibt.

In seiner Erzähling bedient sich Roland Reichen einer Sprache, die jegliche Normen des Standarddeutschen missachtet. Reichens Schreibe strotzt vor dialektalen Einschüben und wie im Schweizerdeutschen üblich, wird als Relativpronomen praktisch nur «wo» verwendet: «Das Grosi, wo mit ihnen am Tisch hockt, das hat emel auch keine Zähne, und trotzdem frisst das die Kutteln.» Zudem kreiert Reichen unübliche und vergnügliche Ausdrücke wie «eindreschflegeln» oder «Mannsbildfetzten». Der Leser muss sich fürwahr erst an die verstümmelte, grobe und dialektale Ausdrucksweise in «Sundergrund» gewöhnen – das Lesen geht nicht leicht von der Hand. Aber schliesslich fallen auch Fieder und die anderen Figuren aus der gesellschaftlichen Norm und somit fungiert die lädierte und schadhafte Sprache nur als weiteres ästhetisches Element, welches die defekten und zerrütteten Existenzen stimmig spiegelt. «Sundergrund» ist brutal und phasenweise beelendend. Aber eben auch lustig. Reichens träfe Ausdrücke, Fieders Unbeholfenheit und sein absurd latentes Pech sorgen im ganzen Elend doch immer wieder auch für tragikomische Momente.

Roland Reichen tauft «Sundergrund» am Samstag 19. Juli um 19:30 Uhr am Kairo-Gartenfestival, und zwar mit musikalischer Unterstützung von Patrick Abt.

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