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Das kann doch jedes Kind

Roland Fischer am Mittwoch den 11. August 2010

Die Wunderkind-Geschichte heute auf der letzten «Bund»-Seite hat mich an einen herrlichen Dokumentarfilm erinnert. «My Kid Could Paint That» gehört zu der Sorte Filmen, die mit einer klaren Idee beginnen und sich dieses engen Korsetts gezwungenermassen nach und nach entledigen, weil richtig gute Geschichten nun mal eher üppig als schlank und rank gebaut sind.

Der «kleine Picasso» ist kein so einsames Ausnahmetalent – vor ein paar Jahren hat ein ähnlicher Fall aus Amerika für Furore gesorgt. Dort war es ein vierjähriges Mädchen, das, obwohl nur halb so alt, stilistisch schon etwas weiter war als der diesbezüglich eher biedere Kieron: Marla malte abstrakt – ihre wild-expressive Kunst musste man irgendwo anfangs bis Mitte des 20. Jahrhunderts verorten, bisschen Chagall, bisschen Pollock. Von daher auch der Titel des Films. Man kennt das ja: Man steht etwas verständnislos in einem Saal voll moderner Malerei, man schaut sich die irgendwie planlos wirkenden Werke an und eh man sich’s versieht hat man den dummen Gedanken gedacht, dass diese Gemälde nun wirklich ein Kinderspiel sind – oder zumindest nicht so weit von solchem entfernt.

Marla wurde damals zu einem richtigen Medienstar, und der Regisseur Amir Bar-Lev wollte eigentlich nur dokumentieren, wie eine ganz und gar durchschnittliche Familie mit solchem Rummel umgeht. Mit Kunsttheorie hatte er nicht wirklich viel am Hut. Doch unversehens gerieten die Dinge aus dem Ruder, Marla (bzw. ihre Eltern) wurden des Betrugs bezichtigt, mit aller Macht wurde versucht, die heile Kunstwelt wiederherzustellen: Nein, nicht jedes Kind könnte das. Besser gesagt überhaupt keines. Gutachten wurden erstellt, allerlei Experten meldeten sich zu Wort, die Eltern galten bald als überehrgeizige Unmenschen, die auch mal den Pinsel ihrer Tochter führen, wenn ihre Technik zu wünschen übrig lässt. Und Bar-Lev war plötzlich mittendrin im Schlamassel: ein Ankläger, ein Beweisführer, ein zynischer Beobachter? Hoffen wir, dass der kleine Kieron nicht ins selbe Wespennest sticht. Vielleicht tut er gut daran, alte Meister zu kopieren statt ein neuer zu sein.

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12 Kommentare zu “Das kann doch jedes Kind”

  1. eddie c. palermo sagt:

    vielen dank für diese geschichte, herr fischer: das klingt nach einem perfekten pantoffelkinoabend.

  2. Fischer sagt:

    unbedingt zu empfehlen für verregnete abende. gesehen habe ich den film übrigens vor ein paar jahren am nördlichsten film-festival der welt, im norwegischen tromsö, im februar. kalt und düster den ganzen tag – das sind festivalbedingungen, da kann locarno einpacken.

  3. johnny leoni sagt:

    danke für den tipp, dvd ist bestellt.

    “das söu kunst si? das cha ig o!”

  4. eddie c. palermo sagt:

    ah, und ich dachte immer, dieses von den kaurismäki-brudern in gegründete «midnight sun film festival» sei das nördlichst gelegene überhaupt. aber google map belehrt mich: denkste>!

  5. Fischer sagt:

    das festival (http://www.tiff.no/?lan=en) ist wirklich eine empfehlung, aber zugegeben, nicht grad am weg. und tromsö im winter ist ansonsten nicht so wahnsinnig sehenswert (abgesehen von den nordlichtern, gewissermassen die open-air-spezialvorstellungen). für die kinoaffinen gibt’s auf der webseite übrigens ein interessantes jobangebot, im bestimmt schönsten kinotheater nördlich des polarkreises.

  6. eddie c. palermo sagt:

    der weg zu interessanten stelle ist leider nicht ganz hindernisfrei: «Read more (only in Norwegian)».

    aber gut, einen klick und wenige zeilen später wird das hindernis dann halbwegs aus dem weg geräumt: «gode verbale og skriftlige kunnskaper på norsk og engelsk».

    oh, und man hat sogar noch vier tage zeit!

  7. Herr Sartorius sagt:

    Bevor Sie sich aber nach Norwegen versetzen lassen, Herr Palermo: Wir haben da ein kommendes Musikfilmprogramm, in dem vielleicht das eine oder andere für Sie dabei sein könnte, zumindest der erste:

    Fürs breitere Publikum dann:

    Für Drummers:

    77 BOA DRUM trailer from Thrill Jockey Records on Vimeo.

    Für mich:

    Wobei, das ist fast alles noch zu bestätigen, wie wir Euphoriker im letzten Moment noch einschränken müssen.

  8. eddie c. palermo sagt:

    herr sartorius, das ist ja toll! der erste film freut mich in der tat ganz besonders, von den anderen dreien lasse ich mich sehr gerne überraschen.

    ähm, herr sartorius, haben sie sich schon mal überlegt, mit ihrer famosen reihe ein wenig den norden zu beglücken?

  9. Herr Sartorius sagt:

    Also eben, von wegen Vorfreude, wir warten mal auf die Bestätigungen, das wird aber schon gut gehen – mit wahrscheinlicher Einschränkung des Tierkollektivs, aber die grosse Leinwand wär für dieses krude Marshmellow-Grill-Stück schon Pflicht.

    Tromsö hingegen scheint mir grad ein wenig weit, Herr Palermo…

  10. eddie c. palermo sagt:

    nun, ich freue mich schon mal vor.

  11. eddie c. palermo sagt:

    alte fasnacht nur hilfsausdruck, aber: vielen dank für den tipp, herr fischer. habe den film endlich visioniert und einen äusserst interessanten abend verbracht.

    auf der dvd hat es dann noch bonusmaterial, man sieht die reaktionen der beteiligten und des publikums nach ersten vorführungen in binghampton (dem wohnort der familie) und sundance. interessant: im bonusmaterial lässt der regisseur viel stärker als im film durchblicken, dass er die wunderkind-version wirklich glauben konnte. die olmsteads tauchen bei diesen screenings nicht auf – sie lassen in sundance eine erklärung verlesen, dass sie vom film enttäuscht seien.

    die sicht der eltern findet sich auch in einem schreiben von mark olmstead an den filmkritiker roger ebert. der regisseur, so sagen sie, habe ihr vertrauen missbraucht und «made the most interesting marketable story he could». was die kommerziellen interessen angeht, darf man allerdings auch erwähnen, dass die bilder von marla olmstead für zehntausende von dollars verkauft werden.