Die Hölle ist überall

Hugo Stamm am Samstag, den 29. November 2014
Als ob das Diesseits nicht schon genug Ängste auf Lager hätte: Höllischer Kürbis. Foto:  Logan Ingalls (Flickr)

Das Diesseits hat genug Ängste auf Lager: Höllischer Kürbis. Foto: Logan Ingalls (Flickr)

Eine der wenigen Konstanten im Leben ist die Angst. Wir können sie verdrängen, aber nicht abschütteln. Wir haben Angst vor Krankheiten, Unfällen, Verlusten, Schmerzen. Vor allem aber vor dem Tod. Die Angst ist sinnbildlich die Hölle des Diesseits. Oder eine Strafe der Götter, auf dass der Mensch nicht übermütig werde und ihnen die Position streitig mache. Die Angst vor dem Tod reduziert uns auf menschliche Dimensionen und ist quasi das Rezept gegen die Selbstvergottung.

Paradox erscheint, dass die Angst gleichzeitig eine Lebensversicherung ist. Sie hindert uns daran, allzu unvernünftig zu sein, und zwingt uns, das Risiko zu minimieren. Als angstfreie Wesen würden wir dauernd versuchen, die Schwerkraft zu überwinden und Unfälle zu produzieren.

Der Angst kommt also eine wichtige Funktion bei der Überlebensstrategie zu. Aus religiöser Sicht stellt sich aber die Frage, warum die Götter die Welt so unvollkommen erschaffen haben, dass es die Angst zum Überleben braucht? Erlagen sie einer sadistischen Laune, oder verstehen sie sie als Strafe? Aus christlicher Sicht handelt es sich um eine Kollektivstrafe. Doch wofür?

Alle Glaubensgemeinschaften instrumentalisieren die Angst der Menschen für ihre Zwecke. Das Sinnbild der Angst verkörpert die Unterwelt. Aus psychologischer Sicht ist die Drohung mit der Hölle ein Disziplinierungsinstrument, das bei Kindern traumatische Reaktionen auslösen kann. Als ob das Diesseits nicht schon genug Ängste auf Lager hätte, bauen praktisch alle grossen Religionen seit Tausenden von Jahren eine Drohkulisse für das Leben nach dem Tod auf. Wie viele zentrale Versatzstücke haben die Autoren der Bibel auch die Idee von der brennenden Unterwelt bei älteren Religionen abgekupfert.

Die meisten Lehren sehen die Hölle als Ort der Läuterung, während das Christentum die ewige Verdammnis der Sünder androht. Das Bild unseres Gottes ist deshalb besonders angstbesetzt: Er kann uns beim Jüngsten Gericht in die Hölle verbannen. Überraschend ist, dass selbst Hinduismus und Buddhismus, die bekanntlich die Reinkarnation lehren, von einer Unterwelt sprechen. Im Vergleich zur christlichen Hölle scheinen dort aber geradezu paradiesische Zustände zu herrschen.

Glaubensgemeinschaften, die Gläubigen mit der Hölle drohen, bräuchten dringend eine Aufklärung. Wir haben in der Zivilgesellschaft die schwarze Pädagogik dank den Menschenrechten überwunden und die Welt menschlicher gemacht. Auf diese Erkenntnis sollten die Weltreligionen verpflichtet werden können.

Ebola als Strafe Gottes?

Hugo Stamm am Samstag, den 22. November 2014
(Flickr/alles-schlumpf)

Die apokalyptischen Glocken läuten Sturm: Weihnachten und die Endzeit sind bald da! (Flickr/alles-schlumpf)

Die Seuche Ebola vereint alle Attribute auf sich, die bei ängstlichen Menschen Horrorvisionen hervorrufen. Vor allem die Bilder aus den betroffenen Gebieten prägen sich ihnen unheilvoll ein. Entstellte Menschen, Helfer im Astronautenlook, entleerte Dörfer, geächtete Kranke, die als Monster gelten. Das ist die Matrix für einen Blockbuster über die Apokalypse. Helfer in den Krisengebieten sind geschockt und bekommen den Eindruck: So fühlt sich die Endzeit an.

Ebola ruft denn auch zwei Interessengruppen auf den Plan, denen die Seuche wie gerufen kommt. Die Apokalyptiker unter den christlichen Fundamentalisten erinnern sich an die Johannes-Offenbarung und das Buch Daniel und sehen in der Seuche die Strafe Gottes. Verschwörungstheoretiker beschwören ihre längst prophezeite globale Krise herauf.

Ken Isaacs von der christlichen Hilfsorganisation Samaritan’s Purse warnte bei einer Anhörung vor den Gesundheitsbehörden: «Liest man die täglichen Lagemeldungen des Gesundheitsministeriums über Liberia, so herrscht darin – ich möchte nicht zu dramatisch wirken – eine Atmosphäre von ‹Apocalypse Now›».

In einer Newsgroup (Narkive) versucht ein Christ, die ängstlichen Teilnehmer zu beruhigen und schreibt: «Angst vor Ebola? Glaube an Jesus, und die Angst ist fort. Gehe zur Kirche, man wird dir dort eine Bibel schenken!» Der Kommentar eines anderen Gläubigen, den das Endzeitfieber offenbar schon gepackt hat: «Das nützt auch nichts mehr! Das Ende ist nah! Niemand kann jetzt mehr helfen!»

Ein weiteres Beispiel für die Ebola-Hysterie: Der Autor Bernd Neumann nennt sein neues Buch «Ebola und andere Killerkeime». Darin behauptet er, die Bedrohung für den Menschen sei grösser denn je. Deshalb erwartet er demnächst einen «Apokalypse-Keim», der eine Mehrheit der Menschen dahinraffen werde.

In der nächsten Eskalationsstufe wird bereits von der Zombie-Apokalypse gesprochen, weil weitere Killerkeime die Opfer so entstellen würden, dass sie zu Zombies mutierten. Im Blog Zombie-apokalypse.info heisst es: «Die Bedrohung ist also ernst zu nehmen und Notfallpläne müssen geschmiedet werden … Die Zombie-Apokalypse naht!»

Was treibt christliche Fundamentalisten und Verschwörungstheoretiker an, die Apokalypse herbeizusehnen? Fromme Christen hoffen, in der Gnadenzeit zu leben, in der sich die biblischen Prophezeiungen erfüllen. In ihren Augen läuten die apokalyptischen Glocken Sturm. Sie sehen alle Anzeichen erfüllt, die die Bibel für die Endzeit vorhersagt. Sie erhoffen sich die Wiederkunft von Jesus und die Erlösung.

Bei den Verschwörungstheoretikern sind die Motivationen komplexer und individueller. Manche entwickeln eine Lust am Morbiden und Destruktiven. Andere wollen sich unbewusst an der tumben Gesellschaft rächen, die sie wegen ihrer kruden Weltbilder belächelt. Die Vorstellung, die Ignoranten würden einer brutalen Seuche zum Opfer fallen oder in einer Katastrophe umkommen, scheint ihre Fantasie zu beflügeln.

Im Kloster sexuell missbraucht

Hugo Stamm am Samstag, den 15. November 2014
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Doris Wagner erlebte den Konvent als sektenähnliche Gemeinschaft. Foto: Edition A, PD

Für Doris Wagner gab es schon als Jugendliche nur einen Geliebten: Jesus Christus. Die deutsche Katholikin träumte bereits mit 15 Jahren davon, eine Braut Christi zu werden. «Ich spürte wirklich eine Art Verliebtheit, es war genau genommen sogar ein Rauschzustand», sagte sie in einem Interview. Mit 19 legte sie ihr Schicksal vor die Füsse ihres «Bräutigams» und trat in ein Kloster in Bregenz ein.

Doch Doris Wagner traf hinter den heiligen Mauern nicht auf Jesus, sondern auf herrschsüchtige Nonnen und einen Rektor des gemischten Ordens, der seine sexuellen Bedürfnisse an ihr ausleben wollte. Vor drei Jahren ist die Deutsche aus dem Kloster geflohen. Ihre Erlebnisse hat sie im soeben erschienenen Buch «Nicht mehr ich» festgehalten. Ihre «Beichte» ist eine einzige Anklage an die katholische Gemeinschaft «Das Werk» und das Kloster, die direkt dem Papst unterstellt sind. Rückblickend stellt sie fest, dass die Klostergemeinschaft für sie den Charakter einer Sekte hat.

Die anfänglichen Demütigungen und Erniedrigungen interpretierte die Braut Christi als Prüfung – ein Phänomen, das bei vielen Sekten zu beobachten ist. Sie sah die Leidenszeit als Teil der totalen Hingabe an Jesus. Doch im Lauf der Jahre zerbrach Doris Wagner an den unmenschlichen Anforderungen. Sie spricht von der geforderten absoluten Jungfräulichkeit. Dabei denkt sie nicht primär an Sexualität, sondern an die Jungfräulichkeit im Denken, Handeln und Fühlen. Für sie sind es rückblickend unerfüllbare Ansprüche, die an Selbstkasteiung grenzen.

Wöchentlich wurde sie von einer vorgesetzten Schwester ins Gebet genommen und auf ihre Gesinnung geprüft. Das empfand sie mit der Zeit als Gehirnwäsche. Der Kontakt zur Aussenwelt und zur Familie wurde kontrolliert, sie musste die Briefe vorlegen, die Telefone wurden protokolliert. Bücher und Radio waren tabu. Die Freizeit wurde organisiert, individuelle Bedürfnisse hatten keinen Platz: Das Leben bestand aus Arbeit und Gebet. «Am Ende blieb nichts mehr von mir übrig», sagte Doris Wagner in dem Interview weiter.

Da sie jung war und ihre Klause ausserhalb des Schwesterntraktes lag, bekam sie eines Nachts ungebetenen Besuch vom Rektor, der sie missbrauchte. Als sich das demütigende Ritual wiederholte, hatte sie die Kraft, den Orden nach acht Jahren zu verlassen. Sie reichte eine Strafanzeige gegen ihren Peiniger ein, blitzte jedoch ab. Der Rektor des Klosters behauptete, es sei einvernehmlicher Sex gewesen. Da Doris Wagner den Übergriff nicht beweisen konnte, wurde das Verfahren eingestellt. Der fromme Mann machte sie noch einmal zum Opfer und kam auch innerkirchlich ungeschoren davon. Sektenhafte Züge sind nicht eigentlichen Sekten vorbehalten.

Doris Wagner zu Gast in der ARD-Sendung «Menschen bei Maischberger» am 11. November 2014. Video: ARD, Youtube

Wissenschaftlich verbrämte Esoterik

Hugo Stamm am Samstag, den 8. November 2014
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So sieht das also aus, wenn «das computergestützte Resonanz-Frequenz-Verfahren Oberon» die Zellen überprüft: Illustration im Oberon-Werbevideo. Screenshot: Youtube

Der Basler Psi-Verein ist die erste Adresse für esoterisch interessierte spirituelle Sucher. Seit 1967 veranstaltet er Seminare und Vorträge. Momentan bietet der Verein Privatsitzungen zur «Oberon-NLS-Analyse» an. Originalton: «Im Institut für angewandte Psychophysik in Moskau wurde eine Methode zur spektralen Analyse von Potenzialwirbelfeldern von biologischen Systemen entwickelt.» Oberon sei ein physikalisches Messgerät, das elektromagnetische Veränderungen über den Spin von Elektronen im menschlichen Körper messen und beeinflussen könne.

Die Esoteriker scheinen ihren Ideen selbst nicht mehr zu trauen und verpacken sie immer häufiger in ein wissenschaftliches Vokabular. Denn der esoterische Nebel gibt seine angeblichen Geheimnisse selten frei. Die permanente Jagd nach übersinnlichen Phänomenen in einer virtuellen Welt erweist sich als anstrengender Parcours, verbunden mit Enttäuschungen und hohem finanziellen Aufwand. Deshalb lassen sich viele Esoteriker von pseudowissenschaftlichen Erklärungen blenden.

Das klingt dann beim erwähnten Beispiel so: «Die Systeme der ‹nichtlinearen Analyse› (NLS) sind Informationstechnologien, die zu den erstaunlichsten und perspektivenreichsten Errungenschaften der heutigen Naturwissenschaften gezählt werden können. Erstmalig werden mit diesen Geräten alle organischen Strukturen bis in die Molekularebene durch modernste Computer- und Informationstechnologien darstellbar.» So weit, so sonderbar – für einen Verein, der sich mit Psi beschäftigt, also aussersinnlichen Wahrnehmungen wie Hellsehen. Doch wozu dient die «nichtlineare Analyse»? Die Ursachenanalyse soll Hinweise auf Störfelder, Parasiten, Bakterien, Viren, Umweltgifte und Allergene geben. Aber auch auf Mangelerscheinungen, das Darmmilieu und psychische Belastungen.

Experte darin ist Bernhard Bergbauer. Einen wissenschaftlichen Hintergrund sucht man bei ihm vergeblich. Er führt als Heilpraktiker eine Praxis für Komplementärmedizin. Aufschlussreich ist ein Hinweis auf seiner Website: «Die Oberon-Diagnose ist eine Methode der Informationsmedizin und daher dem Bereich der Komplementärmedizin zuzurechnen. Sie ist schulmedizinisch nicht anerkannt und ihre Wirkungen werden als wissenschaftlich nicht erwiesen angesehen.»

Beachtenswert sind auch die Preise für diese wissenschaftlich nicht anerkannte Wissenschaftsmethode: Ein Ersttermin (90 Min.) kostet 250 Franken, ein Folgetermine (60 Min.) 170 Franken. Bei den Sitzungen mag es feinstofflich zu und her gehen, beim Honorar wird die Sache dann handfest. Und: Spenden an den Psi-Verein können von den Steuern abgezogen werden.

«Ein schnelles, risikoloses, kostengünstiges und zuverlässiges Diagnose- und Therapiesystem»: Oberon-Werbevideo. Quelle: Youtube

Falscher Jesus erschlug einen Mann

Hugo Stamm am Samstag, den 1. November 2014
Orthodox Christians In Jerusalem Celebrate Good Friday

Alles für den Glauben: Jesus-Darsteller bei einer Prozession in Jerusalem (Symbolbild). Foto: Getty Images

Ein aussergewöhnliches Gewaltverbrechen beschäftigt die Freikirchenszene in Deutschland. Ein 39-jähriger Gläubiger hörte eine innere Stimme, die ihm sagte, er sei Jesus. Der Mann zog sich am 6. April dieses Jahres in Herborn, Mittelhessen, nackt aus, ergriff – dieser Stimme folgend – einen Feuerlöscher und erschlug ohne erkennbares Motiv einen 67-jährigen Pförtner eines Industriebetriebes.

Der Täter ist ein Gläubiger der pfingstlichen Freikirche «Christliches Zentrum» in Herborn und hatte regen Kontakt mit dem charismatischen Verein «Heilungsgebet» in Wetzlar, der Fürbitte für Kranke leistet. Nun findet der Prozess am Limburger Landgericht statt.

Radikale Freikirchen – auch in der Schweiz werden Prophetie, Krankenheilung und teilweise Exorzismus praktiziert – verkünden, körperliche und psychische Leiden könnten durch mangelnden Glauben oder sündiges Verhalten ausgelöst werden. Die Gläubigen beten für die Fehlbaren, um sie wieder auf den richtigen Pfad zu bringen und sie von ihren Leiden zu erlösen. Diese Geisteshaltung macht deutlich, dass Freikirchler die Welt vorwiegend aus religiöser Warte betrachten. Für den Täter eine verhängnisvolle Weltsicht, wie der Prozess zeigte.

Die Richterin lud einen Leiter des christlichen Zentrums als Zeugen vor und fragte ihn, ob er nicht bemerkt habe, dass der Angeklagte unter Schizophrenie leide. Weiter wollte sie von ihm wissen, ob er sich nicht mitschuldig an der Tat fühle, weil er den Gläubigen nicht an einen Psychiater verwiesen habe. Die Antwort des Zeugen: Sie hätten in der Gemeinde für den Täter gebetet und ihm geraten, nicht auf die Stimme Satans zu hören.

Der Zeuge und Zentrumsleiter gibt damit das gängige Sittenbild vieler Freikirchen wider. Ihr Welt- und Gottesbild ist geprägt von kindlichen Zügen. Da ist der Satan eine leibhaftige Figur, die die Menschen versucht und immer wieder verführen kann, wie eben den Täter. Im Zentrum dieses Glaubens steht ein liebender, gütiger Gott, der permanent in die Welt eingreift, Kranke heilt und Wunder bewirkt. Die Gläubigen berufen sich auf die Bibel, die ja auch solche Wunderheilungen beschreibe.

Die Richterin war erschüttert über die Antwort des Zentrumsleiters. Sie konnte nicht begreifen, dass ein Seelsorger, der Verantwortung für viele Gläubige trägt, keine fachliche Hilfe holte. Der Fall zeigt, wie schmal der Grat zwischen Glaube und Aberglaube ist. Auch im christlichen Umfeld.

Homöopathie ist wirkungslos

Hugo Stamm am Samstag, den 25. Oktober 2014
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Die meisten Patienten haben keine Ahnung, dass Globuli keine Wirkstoffe enthalten. Foto: Gaëtan Bally (Keystone)

Seit 200 Jahren versuchen Homöopathen, die Wirkungsweise der Globuli wissenschaftlich zu beweisen. Bisher vergeblich. Es wird ihnen auch in Zukunft kaum gelingen, denn die alternative Heilmethode verletzt grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse. Zwei Beispiele:

1. Durch Verdünnung wird die Wirkung der Mittel verstärkt (Potenzierung). Nur: 100-prozentiger Alkohol hat erfahrungsgemäss eine stärkere Wirkung als eine Lösung mit 0,0000001 Prozent. Schon Paracelsus (1493–1541) hatte erkannt: «Nur die Dosis macht das Gift.»

2. Die beigemengte Flüssigkeit nimmt laut Samuel Hahnemann (1755–1843), Begründer der Homöopathie, die Information der Wirkungssubstanz auf. Ein solches Phänomen konnte bisher aber in der Natur nicht beobachtet werden. Dann führt Hahnemann okkulte Argumente an. Durch die Potenzierung würden die Mittel «im innern Wesen der Arzneien verborgene, geistartige Kraft» entwickeln.

Die Kritik an der Homöopathie setzt aber viel früher an. Heute hat jeder Mittelschüler wesentlich mehr medizinische Kenntnisse und pharmakologische Erfahrung als Hahnemann vor 200 Jahren. Deshalb verwundert es nicht, dass er seltsame Vorstellungen über den Menschen und seine Gesundheit entwickelte. Verwunderlich ist jedoch, dass Hahnemann heute noch als visionärer Pionier verehrt wird und rund ein Drittel der Leute homöopathische Mittel verwenden. Überraschend ist auch, dass Apotheken Globuli ohne Bedenken anpreisen und viele Ärzte die Kügelchen verschreiben.

Die meisten Patienten haben keine Ahnung, dass Globuli keine Wirkstoffe enthalten. Sie werden nämlich so stark verdünnt, bis kein Molekül mehr in einem Kügelchen zu finden ist. Erst recht keine Ahnung haben die Konsumenten, welche seltsamen Stoffe und unappetitlichen tierischen Produkte benutzt werden, um homöopathische Mittel herzustellen.

So verwenden Homöopathen als Grundsubstanz unter anderem Blattschneiderameisen, Blausäure, Kot des Pottwals, Hundekot, Kakerlaken, Speichel der Aga-Kröte, Gallenstein, Sekret der Bauchdrüsen des sibirischen Bibers, Gartenschnecken, Bettwanzen, Auspuffgase eines Dieselfahrzeuges, Rachenschleimhaut eines Diphteriepatienten, Galle des Braunbären, Kuhmist, Darmbakterien, Regenwürmer, getrocknetes Gift der mexikanischen Skorpion-Krustenechse, Zyankali, Witwenspinnen, Hodenextrakt, frische Eierstöcke, Urin.

Der Grund liegt im homöopathischen «Geheimnis», dass «Ähnliches durch Ähnliches geheilt wird». Vereinfacht gesagt, kann das im Einzelfall bedeuten: Wer zum Beispiel allergisch auf Bettwanzen reagiert, braucht Mittel, die den aus zerquetschten Plagegeistern produziert werden.

Nun hat Hahnemann beobachtet, dass es oft zu einer «Erstverschlimmerung» der Krankheitssymptome kommt. Diese interpretierte er als Beginn des Genesungsprozesses. Nüchtern betrachtet handelt es sich wohl eher um eine Verschlimmerung der Krankheit, weil die Globuli keine Heilwirkung entfalten.

Hahnemann konnte dies nicht zugeben, weil er überzeugt war, dass mit der Homöopathie «ein neues Zeitalter der Menschheit» anbreche. Wurde ein Patient nicht gesund, schob er diesem die Schuld in die Schuhe. Denn Hahnemann vertrat die Doktrin, wer ungesund lebe, verhindere oder verunmögliche die Heilung. Dazu zählte er wunderliche Dinge und behauptete, Kräutertee hemme die Genesung, ebenso stark duftende Blumen, Gemüse aus Kräutern und Wurzeln (zum Beispiel Spargeln), Salate, Stubenhitze, negative Bewegung wie Reiten, Fahren und Schaukeln, übermässiges Stillen, langer Mittagsschlaf, Lesen im Liegen, unnatürliche Wollust, Onanie, unvollkommener oder unterdrückter Beischlaf.

Da wundert man sich schon, dass Millionen auf seine «medizinischen Ideen» schwören. Zumal auch schon Patienten gestorben sind, weil sie es bei schweren Krankheiten verpassten, sich rechtzeitig seriös behandeln zu lassen.

Aberglaube mit fatalen Nebenwirkungen

Hugo Stamm am Samstag, den 18. Oktober 2014
Burial team remove body of suspected Ebola virus victim in Freetown

Helfer unter Verdacht: Männer in Schutzanzügen transportieren in Freetown die Leiche eines Ebola-Opfers ab (28. September 2014). Foto: Reuters

Mit der Esoterikwelle und dem Boom der Alternativmedizin erlebt der Aberglaube eine neue Blütezeit. Viele Menschen sind überfordert von der rasanten Zivilisationsentwicklung und komplexen Realität: Sie fühlen sich fremd in der eigenen Umgebung und sehnen sich nach einfachen Erklärungen und sanften Heilmethoden. Auf der Suche nach der heilen Welt vertrauen sie sich oft Scharlatanen und Verschwörungstheoretikern an, welche die Welt uminterpretieren und simple Rezepte für drängende Fragen in vielen Lebensbereichen haben. Doch ihre Erklärungen und Ideen beruhen auf einem Aberglauben und führen in eine Traumwelt.

Die Gefahren des Aberglaubens werden oft unterschätzt. «Lasst die Sucher doch träumen, wenn es ihnen hilft, das Leben besser zu meistern!», lautet eine Standardantwort. Wirklich? Ist die Flucht in eine Parallelwelt ein probates Rezept, um die Realität besser zu ertragen?

Ein Blick nach Westafrika zeigt, wie verheerend sich der Aberglaube auswirken kann. Ebola ist zwar ein Extrembeispiel, das Muster ist aber stets das gleiche. Denn auch bei uns kann der Aberglaube tödlich wirken.

Ein Beispiel aus Guinea: Bewohner in entlegenen Dörfern behaupteten, die Helferteams aus dem Westen hätten die tödliche Krankheit importiert und verantworteten die Epidemie. Dorfbewohner verschleppten sieben Helfer und schnitten ihnen die Kehle durch.

In anderen Regionen erklärten die Bewohner, Ebola sei eine Erfindung der westlichen Helfer. Diese benützten die angebliche Krankheit, um die Westafrikaner in den Spitälern zu ermorden. In einem Dorf riegelten die Leute die Zufahrten ab und sperrten das medizinische Hilfspersonal aus. Solche Anfeindungen sind für die ausländischen Spezialisten besonders hart zu ertragen: Sie riskieren ihr Leben und werden als Mörder verschrien.

Aus Unkenntnis umarmen viele die Toten nach alter Tradition und stecken sich mit dem tödlichen Virus an. Deshalb müssen die Helfer viel Zeit aufwenden, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Auch bei uns kann der Aberglaube tödliche Konsequenzen haben. Für viele Esoteriker sind Schulmedizin und Pharmaindustrie die Ursache vieler Krankheiten, tödlicher Diagnosen und gefährlicher Medikamente. Sie verweigern ärztliche Behandlung und sterben teilweise an Infekten, die leicht zu heilen gewesen wären. Auch die Leugnung gefährlicher Viren ist nicht nur im afrikanischen Busch zu finden: Bei uns streiten auch heute noch Esoteriker und Verschwörungstheoretiker die Existenz von Aids-Erregern ab. Der Aberglaube kann harmlose Auswirkungen haben, doch wer abergläubisch ist, kann Opfer tödlicher Fehleinschätzungen werden.

Tödlicher esoterischer Wahn

Hugo Stamm am Samstag, den 11. Oktober 2014

Vor 20 Jahren geriet die Schweiz weltweit in die Schlagzeilen wie noch nie zuvor. Guru Jo Di Mambro inszenierte mit seinem esoterischen Sonnentemplerorden ein beispielloses apokalyptisches Sektendrama. Es musste spektakulärer werden als frühere Ereignisse, wie er schrieb. Er sollte Recht bekommen. Die Bilanz seiner irren Aktion: 74 Tote. Ein Teil seiner Anhänger liess der Sektenchef ermorden, die restlichen Sonnentempler vollzogen mit ihm den «Transit zum Stern Sirius», also den kollektiven Suizid. Im Glauben, auf dem paradiesischen Gestirn den spirituellen Frieden zu finden.

Was geht in einem Menschen vor, der ein solches Massacker zu seinen Ehren inszeniert? Wie kamen seine Anhänger dazu, ihrem Guru in den Tod zu folgen?

Der Uhrmacher Di Mambro war schon in jungen Jahren von spirituellen Phänomenen fasziniert, wie das heute Millionen Esoteriker sind. Er glaubte, mit höheren Wesen aus der göttlichen Hierarchie kommunizieren zu können. Aus seiner angeblichen übersinnlichen Begabung leitete er den Missionsauftrag ab, die Welt in ein neues spirituelles Zeitalter zu führen. Er begründete eine Ersatzreligion und floh geistig in eine Parallelwelt.

Der Übertritt in diese virtuelle Sphäre führte zu einer Entfremdung, die auch geistige und psychische Spuren hinterliess. Da die beiden Welten nicht kompatibel sind, baute er eine zweite Identität auf. In der spirituellen Identität fühlte sich Di Mambro mit göttlichen Attributen ausgestattet. Diese Spaltung, aufgeladen mit wahnhaften esoterischen Ideen, führte zu psychischen Auffälligkeiten. Er entwickelte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und Verfolgungsängste.

Als seine Vision vom neuen spirituellen Zeitalter am mangelnden Interesse der breiten Öffentlichkeit scheiterte, vollzog er den barbarischen Fanal: Er opferte 73 Anhänger, um in die Schlagzeilen zu kommen und in die Geschichte einzugehen.

Doch was war mit den Templern passiert, dass sie dem Guru glaubten und Suizid begingen? Sie hatten sich von spektakulären Ritualen und fantastischen Heilsideen in virtuelle esoterische Sphären entführen lassen, in denen angeblich alle menschlichen Grenzen überwunden werden konnten. Der Aberglaube wurde zur tödlichen Falle. Sie glaubten in ihrer Sehnsucht nach Erlösung an die göttlichen Fähigkeiten ihres Gurus, sein Wort war für sie die unumstössliche Wahrheit. Die suggestiven religiösen Kräfte und gruppendynamischen Prozesse trübten endgültig ihre Sinne.

Der religiöse Wahn weckte zwar ihre übersinnlichen Emotionen, machte sie aber zu spirituellen Robotern und tötete ihre menschlichen Gefühle ab. Deshalb betrachteten sie den Tod als Erlösung.

Atheisten – die besseren Christen?

Hugo Stamm am Samstag, den 4. Oktober 2014
Hugo Stamm

Gottesdienst, nur ohne Gott: Sunday Assembly in London. Foto über: London Evening Standard

 

Gottesdienste am Sonntagmorgen sind für viele Zeitgenossen so attraktiv wie das Bündeln von Altpapier. Kirchen stehen heute in Konkurrenz mit Clubs und Discos, denn junge Leute kommen oft erst nach Hause, wenn die Glocken zum Gottesdienst rufen. So überrascht es kaum, dass es vorwiegend ältere Semester sind, die dem Pfarrer Gesellschaft leisten. Mit dem Tod vor Augen betet es sich leichter.

Doch das Bedürfnis nach Ritualen und spirituellen Empfindungen ist eine anthropologische Konstante. Insofern sind die Clubs für viele eine Art Kirchenersatz. Alle anderen Kirchenflüchtlinge suchen spirituelle Alternativen. Wo die Nachfrage gross ist, wächst in einer kapitalistischen Gesellschaft rasch das Angebot. Marktleader und Sammelbecken für gestrandete Christen ist die Esoterik mit ihren Hunderten von Disziplinen und Ritualen. Die Industrie zur Befriedigung spiritueller Bedürfnisse setzt denn auch Dutzende Millionen in der Schweiz um.

Nun rüsten auch die Atheisten auf. Die Gottlosen haben offenbar ebenso das Bedürfnis nach Gemeinschaftserlebnissen und Ritualen. Doch wie sieht ein «Gottesdienst» der Atheisten aus? Fast wie ein richtiger Gottesdienst.

Konkret: In 35 Städten feierten atheistische Organisationen am vergangenen Sonntag erstmals ihre Sunday Assemblies. Ihr Glaubensbekenntnis: «Lebe besser, hilf öfter, staune mehr». In Berlin zum Beispiel trafen sich gegen 150 Nichtgläubige. Sie sangen Lieder («I’m Walking on Sunshine»), die Texte wurden wie bei Freikirchen auf eine Leinwand projiziert, sie klatschten und schunkelten, wie wir es von den Charismatikern kennen. Die atheistische «Priesterin» forderte die Teilnehmer zu einer zweiminütigen stillen Einkehr auf, in Kirchen Gebet genannt. Die Predigt wurde in Form einer philosophischen Rede gehalten. Allerdings ging der Opferstock nicht durch die Reihen, sondern stand still beim Eingang.

Auf den ersten Blick staunt man ob der Einfallslosigkeit der Atheisten. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass es von der Form her kaum eine Alternative zum Gottesdienst gibt. Wo sich Menschen zusammenfinden, wird gesungen – siehe das aktuelle Oktoberfest. Wenn sie sich geistig erbauen wollen, horchen sie einem mehr oder weniger weisen Redner. Und wenn sie zu sich finden wollen, halten sie Einkehr oder beten. Daran hat sich in den letzten 2000 Jahren wenig geändert, wie die Atheisten beweisen. Und doch möchte man mit Jesus rufen: «…denn sie wissen nicht, was sie tun.»

Erste Sunday Assembly in Berlin:

Quelle: Spiegel online

Was Jesus dem PR-Genie Paulus verdankt

Hugo Stamm am Samstag, den 27. September 2014
Paulus-Figur im umstrittenen Creation Museum in Petersburg (USA). Foto:  John Scalzi/Flickr

Schönte das Porträt von Jesus: Paulus als Wachsfigur im umstrittenen Creation Museum in Petersburg (USA). Foto: John Scalzi/Flickr

Für die christliche Welt ist klar: Jesus ist als Sohn Gottes der Begründer der grössten Weltreligion. Der jüdische Wanderprediger hat mit seinen Wundertaten und dem Märtyrertod ein glaubhaftes religiöses Zeugnis abgelegt. Doch wie lässt es sich erklären, dass einer von vielen Wanderpredigern im dünn besiedelten Palästina eine Bewegung initiieren, sich über die ganze Welt verbreiten und 2000 Jahre lang das spirituelle Bewusstsein einer Bevölkerungsmehrheit prägen konnte?

Dieses Kunststück hat nicht Jesus geschafft, denn der Prediger geriet ausserhalb urchristlicher Gemeinden rasch in Vergessenheit. Denn schon zu Lebzeiten blieb sein Bekanntheitsgrad bescheiden, gibt es doch nur ein paar wenige historische Zeugnisse von ihm.

Die weltweite Expansion gelang vielmehr einem begnadeten PR-Manager. Sein Name ist Paulus. Der Evangelist kannte Jesus nicht persönlich, der war längst tot. Paulus konnte sich auch nicht auf schriftliche Zeugnisse von oder über Jesus stützen, denn es gab nur mündliche Überlieferungen. Für Paulus war Jesus also eine virtuelle Figur. Deshalb konnte der Taktiker alle Attribute in ihn hineinprojizieren, die ihn zum Helden und Märtyrer machten.

Die stärkste PR-Marke – um es mit der Marketingsprache zu formulieren: Paulus präsentierte Jesus als Sohn Gottes. Damit wurde Jesus unantastbar. Er kam auf die Erde, um sich in den Dienst der Menschen zu stellen und für diese am Kreuz zu sterben. Doch diese Überhöhung hätte Jesus als tiefgläubiger Jude nicht akzeptiert. Sich gottgleich zu machen, wäre aus jüdischer Sicht eine Anmassung gewesen. Das gilt auch für die Auferstehung. Zeugnisse oder Zeugen darüber gibt es ohnehin nicht.

Auch in einem anderen Punkt überging Paulus Dogmen von Jesus. Dieser hatte von den Gläubigen verlangt, dass sie sich beschneiden lassen und den jüdischen Glauben übernehmen, um Christ werden zu können. Damit war das Missionsfeld eng begrenzt. Paulus hatte aber die ungläubigen Griechen und Römer im Visier und warf die religiösen Bedingungen von Jesus über Bord.

Weiter nahm PR-Genie Paulus einen Weichzeichner und schönte das Porträt von Jesus. Aus einem radikalen und unerbittlichen Asketen und Eiferer, der Pflugscharen zu Schwertern machte, modellierte er einen sanftmütigen und liebenswürdigen Religionsstifter und Sohn Gottes.

Paulus wusste offenbar auch, dass Religion und Glauben von einprägsamen Symbolen und Metaphern leben. So schuf er die wohl einfachste Corporate Identity: das Kreuz.

Es war also nicht Jesus, der das Christentum als Bewegung begründete, auch nicht ein Apostel, sondern ein gewiefter Marketingstratege, der viel von Massenpsychologie verstand.