Braune Esoterik

Hugo Stamm am Samstag, den 18. April 2015
GURU, OSHO, CHANDRA MOHAN JAIN, BHAGWAN, BHAGVAN, SANNYAS BEWEGUNG,

Sektenführer Bhagwan grüsst seine Anhänger (1984). Foto: Keystone

Letzte Woche schrieb ein Kommentator in diesem Blog zum Thema «Religiöse Fanatiker destabilisieren die Welt», Kriege und das Töten seien «gerechtfertigt, wenn damit die göttliche Ordnung (Ethik) wieder hergestellt wird». Ein Satz, der aufhorchen lässt. Ein Satz, der unverkennbar von einem Esoteriker stammt. Ein Satz auch, der die Geisteshaltung vieler spiritueller Sucher ausdrückt. Eine Aussage, die zeigt, was gern kaschiert wird oder vergessen geht: Manche Ideen der modernen Esoterik haben eine braune Schlagseite, und radikale Anhänger pflegen ein faschistoides Gedankengut.

Verhängnisvoll dabei ist, dass Esoterik in der breiten Bevölkerung ganz anders wahrgenommen wird. Die moderne Spiritualität gilt als sanfte Diszplin und Gegenkonzept zu unserer techniklastigen Umwelt und dem unmenschlichen Wirtschaftssystem. Esoterik als sanfte Alternative zur Welt der gnadenlosen Verdinglichung. Dass sich unter dem Mäntelchen einer modernen Spiritualität eine radikale Ideologie versteckt, erfährt nur, wer sich nicht blenden lässt.

Kompromisslose Esoterik vertritt ein klares Herrschaftssystem. Propagiert werden eine höhere Ordnung und kosmische Gesetze, denen sich spirituelle Sucher bedingungslos unterordnen müssen. Der Weltenlauf ist vorbestimmt, wir Menschen dürfen uns nicht gegen die göttliche Fügung stellen.

Führungsanspruch darf nur erheben, wer das «höhere Bewusstsein» und das «geheime Wissen» erlangt hat. Es gibt die eingeweihte Elite, die geistig und spirituell hoch entwickelt und aufgerufen ist, die Menschheit ins «Licht» zu führen. Von ihr hängen angeblich das Heil und die Zukunft der Menschheit ab. Sie sind vermeintlich von den Avataren und den höheren geistigen Hierarchien bestimmt, die dekadente Fehlentwicklung auf der geistigen Ebene zu korrigieren.

Esoterische Ideologie ist deshalb totalitär. Ihre Ethik: Das Höhere und Stärkere setzt sich durch. Es muss sich durchsetzen, um die Menschen aus der Dunkelheit zu befreien. Die deterministische und fatalistische Grundidee: Alles ist gut, wie es ist. Auch das Böse ist «gut», weil es Teil des harmonischen Systems ist. Wer sich dagegenstemmt, also auch gegen das Böse, verstösst gegen die höhere Ordnung des All-Eins, der göttlichen Instanzen. Diesen muss sich das Individuum unterordnen, will es sich spirituell weiterentwickeln und die Erleuchtung erlangen.

Der Esoterik-Star Thorwald Dethlefsen schreibt in seinem Buch «Das Leben nach dem Leben», jeder müsse den ihm zugeteilten Dienst in dieser Ordnung erfüllen, damit er nicht zum Krebsgeschwür dieser Welt werde. «Verlässt er dennoch die Ordnung mutwillig, um missverstandene Freiheit auszukosten, so sollte er sich nicht wundern, wenn er eliminiert wird.» Ein Vokabular, das wir aus dem Dritten Reich kennen. Fomuliert in einem Buch, das riesige Auflagen erreichte. Formuliert von einem Autor, der als Weltenlehrer verehrt wird.

Erinnert sei auch daran, dass Bhagwan, der sich später Osho nannte, Hitler die Reverenz erwies und ein faschistoides Gedankengut verbreitete. Im Buch «Die goldene Zukunft» schreibt er, behinderte Menschen müssten von ihrem Leiden erlöst werden, indem sie «in den ewigen Schlaf» geschickt würden. Das sei kein Problem, denn die Seele suche sich nach dem Tod einen neuen Mutterschoss. Wer studieren wolle, müsse zuerst «ein Zeugnis vom Institut für Deprogrammierung» vorlegen. Darin soll festgehalten sein, «dass man dich jetzt als Christ, als Hindu, als Moslem, als Jude deprogrammiert hat». Studenten müssten auch ein Meditationsprogramm absolvieren. Der Titel: «Die Alternative: Meditation oder Tod.»

Religiöse Fanatiker destabilisieren die Welt

Hugo Stamm am Samstag, den 11. April 2015
Chad Central African Republic

Sie leiden besonders unter dem Schrecken von Boko Haram in Nigeria: Kinder in einem Flüchtlingslager. (Keystone/Jerome Delay)

Der Überfall auf die Universität in Garissa, Kenia, ist der traurige Höhepunkt einer langen Reihe von brutalen Massakern durch Islamisten. Fanatische Muslime löschten das Leben von 147 Studenten aus, zur Mehrheit Christen. Einmal mehr wurden Unschuldige im Namen einer Religion oder eines Gottes brutal ermordet. Besonders tragisch ist dabei, dass es junge Menschen traf. Dass die Terroristen solche «weichen Ziele» auswählen, hat System: Die Anschläge sollen möglichst sinnlos wirken, ratlos machen und den «Ungläubigen» besonders wehtun. Die Welt soll aufschreien, irritiert, ohnmächtig sein.

Glaubenskriege und religiöse Konflikte durchziehen die Geschichte der Menschheit seit rund 1500 und mehr Jahren. Zogen im Mittelalter vorwiegend christliche Glaubensgemeinschaften eine Blutspur hinter sich her, versetzen in jüngerer Zeit muslimische Fanatiker die Welt in Angst und Schrecken. Was sie im Namen von Allah veranstalten, nimmt allmählich weltpolitische Dimensionen an. Gegen die beispiellose Brutalität der Gotteskrieger wirken Regierungen und Armeen in den betroffenen Ländern hilflos.

Den Islam als Glaubensgemeinschaft für die Eskalation verantwortlich zu machen, greift zu kurz, auch wenn der Koran nicht nur zum Frieden aufruft. Die Anschläge sind das Werk extremistischer Minderheiten. Diese verfolgen in erster Linie politische Ziele, doch sie brauchen den Glauben, um ihre Massaker zu legitimieren und Kämpfer in aller Welt zu rekrutieren.

Auffällig ist, dass die Ursprünge vieler Glaubenskriege bei den monotheistischen Religionen zu suchen sind, also im Nahen und Mittleren Osten, wo Judentum, Christentum und Islam ihre Wurzeln haben.

Das ist kein Zufall, denn die monotheistischen Religionen bergen ein besonders grosses Konfliktpotenzial: Es gibt nur einen Gott, eine wahre Botschaft (Thora, Bibel und Koran), ein Leben im Diesseits und nur für die Erlösten eine paradiesische Zukunft. Es geht um das Höchste, das Letzte, das Absolute.

Ein solch radikales Konzept verlangt fast übermenschliche Anforderungen und kann das psychische Gleichgewicht empfindlich stören. Zu einem radikalen Weltbild neigende Personen können in eine extreme Parallelwelt abrutschen. Werden sie in fanatischen Gruppen indoktriniert, brennen alle Sicherungen durch. Dann sind sie bereit, ihren religiösen Zielen alles unterzuordnen und den Ungläubigen die Köpfe abzuschlagen.

In allen Heilslehren und Glaubensgemeinschaften steckt also ein sektenhafter Kern. Es ist deshalb Aufgabe der Geistlichen und religiösen Führer, die Gläubigen für die Gefahren der Radikalisierung zu sensibilisieren. Nur so können Glaubensgemeinschaften zivilisiert werden, wie wir dies bei den christlichen Grosskirchen in den letzten 100 Jahren erlebt haben.

Homöopathie als Glaubenssystem

Hugo Stamm am Samstag, den 4. April 2015
Hugo Stamm

Wer an die Wirksamkeit glaubt, wird vielleicht gesund: Homöopathische Globuli. Foto: Keystone

Die Homöopathie ist in den letzten Jahren ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Aufklärung tut tatsächlich not, denn die meisten Konsumenten der Globuli und Tinkturen haben wenig Ahnung, wie die alternative Methode funktioniert und auf welchen medizinischen und pharmakologischen Erkenntnissen das System beruht. Sie wissen nur: Es ist eine sanfte Heilmethode, die keine Nebenwirkungen erzeugt.

Berichte und Untersuchungen entlarvten die Homöopathie in letzter Zeit aber als Therapie, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann und die grundlegenden medizinischen Erkenntnissen widerspricht. Doch das tat der Homoöpathie bisher keinen Abbruch. Die Umsätze steigen weiter – in der Schweiz betragen sie schätzungsweise eine Milliarde Franken. Das überrascht aber nicht wirklich, denn auch der Aberglaube erlebt trotz verstärkter Bildung und umfangreichem Wissen eine Renaissance.

Begründet wurde die Homöopathie vor 200 Jahren vom deutschen Arzt Samuel Hahnemann. Sein Bestreben, eine sanfte Methode zu entecken, war ehrenwert, denn damals wurden viele Patienten zu Tode therapiert. Die Ärzte schröpften ihnen so viel Blut, bis sie in Ohnmacht fielen. Oder sie bekämpften die Krankheiten mit so viel Gift, dass Patienten oft das Zeitliche segneten. Deshalb verdünnte Hahnemann seine Mittel derart stark, bis sie teilweise keine Wirksubstanz mehr enthielten. Ausserdem glaubte er, er könne Ähnliches mit Ähnlichem heilen und die Wirkung durch Verdünnen und Verschütteln potenzieren.

Die Grundlagen der Homöopathie widersprechen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Naturgesetzen. Das hindert die Millionen von Konsumenten nicht daran, in einem pseudoreligiösen Glauben an der Überzeugung festzuhalten, Globuli würden eine Heilwirkung entfalten. Auf dieser Schiene ist der Homöopathie offensichtlich nicht beizukommen. Zweifel sollten aber aufkommen, wenn man sich das medizinische Wissen von Hahnemann vor Augen führt. Dann wird klar, dass er die Homöopathie nicht aufgrund medizinischer Erkenntnisse erfunden hat, sondern durch banale Beobachtungen, die er erst noch falsch interpretierte.

Hahnemann hatte wie alle Ärzte vor 200 Jahren kaum eine Ahnung von den Funktionen der Organe; er wusste nicht, dass Organismen aus Zellen bestehen, und dass diese Zellen die Körperfunktionen steuern. Unbekannt war damals auch, dass es ein Immunsystem gibt, dass körperliche Merkmale vererbt werden und Erreger wie Bakterien und Viren für viele Krankheiten verantwortlich sind. Hahnemann kannte auch die Ursachen vieler Krankheiten nicht und konnte keine zuverlässigen Diagnosen stellen. Er wusste nicht einmal, dass Fieber mehrere Ursachen haben kann. Wie sollte er da spezifische homöopathische Mittel herstellen? Zumal er auch keine Studien durchführen konnte, um die Homöopathie zu verifizieren.

Kurz: Hahnemann war aus heutiger Sicht eine medizinscher Laie, der weniger Kenntnisse hatte als heute ein durchschnittlicher Primarschüler. Wie sollte er da ein brauchbares System erfunden haben, das bis heute seine Gültigkeit hat? Dabei gilt es zu bedenken, dass zurzeit die Halbwertszeit von medizinischen Erkenntnissen in manchen Bereichen nur ein paar Jahre beträgt.

Hahnemann überschätzte sich massiv und war überzeugt, dass seine Methode das Ende der Forschung bedeuten würde. So schrieb er in seinem Buch «Organon der Heilkunst»: «Die reine homöopathische Heilart ist der einzige richtige, der einzige durch Menschenkunst mögliche, geradeste Heilweg, so gewiss zwischen zwei gegebenen Punkten nur eine einzige gerade Linie möglich ist.» Da bleibt kein Spielraum für Interpretationen, und Homöopathie entpuppt sich als ein Glaubenssystem.

Der Rebell am Kreuz

Hugo Stamm am Samstag, den 28. März 2015
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«Sanft? Mild? Als ob! Entdecke den echten Jesus.» Mit diesem Poster warb das Churches Advertising Network in England 1999 um Kirchgänger. Bild: Wikimedia

Am Freitag beginnen die Gedenktage für die bekannteste Figur der Menschheitsgeschichte. Kreuzigung und Auferstehung von Jesus Christus bestimmen nicht nur die christliche Agenda, sondern auch den weltlichen Kalender. Erstaunlich ist, dass Jesus diesen Ausnahmestatus erreichte, obwohl Historiker und Chronisten ihn kaum wahrgenommen haben. Es gibt praktisch keine historischen Angaben zu seiner Biografie. Das tut seiner Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Leben und Wirken von Jesus zeichnen die vier Evangelisten nach. Diese kannten ihn aber nicht persönlich und schrieben seine Geschichte erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgrund mündlicher Überlieferungen auf. Dabei haben sich wohl auch Mythen und Legenden in den Lebenslauf geschlichen.

Sicher ist aber, dass Jesus die Geschichte nachhaltig prägte. Sicher ist auch, dass er eine faszinierende, teilweise schillernde Figur war. Einerseits wird er uns als Rebell vorgestellt, als Revolutionär, auf der andern Seite als autoritäre Figur, Moralist und Dogmatiker. In jedem Fall war er ein Freigeist und Querdenker.

Der Rebell in ihm warf beispielsweise die Händler aus dem Tempel. Er sagte laut Markus-Evangelium: «Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.» Er foutierte sich um Konventionen und wertete die Frauen auf. Ausserdem heilte er Huren und Witwen – im patriarchalischen Judentum schon fast ein Sakrileg – und kümmerte sich um Arme und Kranke. Gleichzeitig legte er sich furchtlos mit den Pharisäern und der herrschenden Klasse an. Damit setzte er neue ethische und sozialpolitische Standards, die teilweise heute noch Gültigkeit haben.

Jesus konnte gemäss den Evangelien aber auch ein gnadenloser Moralist sein, zornig und aufbrausend. Von seinen Jüngern verlangte er strikte Disziplin und bedingungslose Gefolgschaft. Er forderte, man müsse auch die andere Wange hinhalten, andererseits sagte er: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.» (Matthäus 10,34). In jedem Fall war Jesus ein unbequemer Zeitgenosse und Avantgardist. Nur deshalb wurde das Christentum zur grössten Religion. Dafür bewundert ihn die christliche Welt.

Doch welche Geisteshaltung legen die glühendsten Verehrer dieses Jesus von Nazareth an den Tag? Sie sind mehrheitlich rückständig und konservativ. Die Kurie der katholischen Kirche, viele Geistliche und die Freikirchen verbreiten ein dogmatisches bis fundamentalistisches Gedankengut. Jesus wird an Ostern als Erneuerer und Erlöser verehrt und gefeiert, sein Geist wurde aber aus vielen Kirchen verbannt. Einer der vielen Widersprüche aus der Welt des Glaubens und der Religionen.

Über die Schwierigkeit, Ethik naturwissenschaftlich zu begründen

TA Korrektorat am Donnerstag, den 26. März 2015

Ein Gastbeitrag von Marcel Mertz*

Hugo Stamm

Gemälde «Moses und die Zehn Gebote» von Philippe de Champaigne (1648). Foto: Wikimedia

In diesem Blog wurde die Religion als Basis für eine Ethik schon oft kritisiert. Dabei haben diese Kritiken unterschiedliche Stossrichtungen: dass Religion zwar eine Ethik biete, diese aber selber ethisch fragwürdig sei; dass sich religiöse Personen nicht an die eigene Ethik hielten; oder dass, weil Religion erkenntnismässig unhaltbar sei, auch jede darauf basierende Ethik zwangsläufig unhaltbar sein müsse.

Diese dritte Kritik soll im Folgenden der Ausgangspunkt dieser Abhandlung darstellen. Als Alternative zu einer religiösen Ethik wird im Blog oft ein Naturalismus angeboten: die Auffassung, dass es nur natürliche, keine übernatürlichen Dinge gibt (sog. ontologische Annahme), dass vor allem die Naturwissenschaften, wenigstens die empirischen Wissenschaften, diejenigen Instanzen sind, die bestimmen können, was es wie gibt (sog. erkenntnistheoretische Annahme) und dass es einen gangbaren Weg von empirischer Erkenntnis zu normativer Begründung gibt – also der Begründung von dem, was wir tun sollen, woran wir uns halten oder orientieren sollen usw. (sog. methodologische Annahme).

Die These, die ich hier skizzenhaft diskutieren möchte, ist diejenige, dass der Naturalismus als Alternative zu einer religiösen Ethik in einem Trilemma endet: a) entweder muss er die Begründung einer Ethik insgesamt aufgeben; b) er muss eine (natur-)wissenschaftliche Begründung anbieten, die aber höchst problematisch ist und meistens auf Mittel-Zweck-Begründungen hinausläuft (bei der die Richtigkeit ethischer Normen usw. bereits vorausgesetzt werden muss); oder c) für die Begründung einer Ethik muss er seine erkenntnistheoretischen und methodologischen Annahmen aufgeben (oder wenigstens abschwächen), sodass gegebenenfalls auch ein strikter, konsequenter Naturalismus aufgegeben werden muss.

Ad a) Da keine (natur-)wissenschaftliche Ethik möglich ist, und nur (Natur-)Wissenschaften erkenntnistheoretisch in der Lage sind, zu bestimmen, was wahr und falsch ist, somit zu Begründungen fähig sind, ist es auch nicht möglich, eine Ethik zu begründen. Ethik ist daher entweder eine Sache der willkürlichen Entscheidung (sog. Dezisionismus) oder nur Ausdruck von subjektiven Gefühlen (sog. Emotivismus). Das Problem hierbei ist, dass es völlig willkürlich wird, welche Ethik man vertritt. Man kann dadurch nicht mehr zeigen, dass eine zum Beispiel humanistisch orientierte Ethik «besser» ist als eine religiöse oder dass die Menschenrechte «richtig» sind. Tatsächlich verliert man hier als Naturalist sämtliche Ressourcen, um religiöse Ethik inhaltlich auf objektiver Basis kritisieren zu können.

Ad b) Ein Ausweg aus diesem Problem wäre offenbar: Bestreiten, dass es keine (natur-)wissenschaftliche Ethik geben kann, beziehungsweise aufzeigen, wie Ethik (natur-)wissenschaftlich begründet werden kann (wie zum Beispiel sogenannte evolutionäre Ethik, bei der versucht wird, aus den Erkenntnissen der Evolutionsforschung «abzuleiten», was moralisch richtig und falsch ist usw.). Dies scheitert aber am sog. Sein-Sollen-Fehlschluss. Dieser besagt, dass nur aus dem, was ist, nicht abgeleitet werden kann, was sein soll. Nur aus empirischen Ergebnissen allein folgt nicht, was richtig oder falsch, was «gesollt» oder «nicht gesollt» sein soll; ein neuropsychologisches Experiment beispielsweise kann nur sagen, wie Menschen moralisch urteilen, welche Urteile sie für richtig halten und welche für falsch – nicht aber, ob deren Urteile nun richtig oder falsch sind. Wird der Sein-Sollen-Fehlschluss von Naturalisten akzeptiert, wird jedoch nicht selten die Begründung einer Ethik missverstanden: Sie wird dann auf eine Mittel-Zweck-Begründung reduziert (zum Beispiel «Wissenschaft kann zeigen, wie weniger Kinder mit Gendefekten geboren werden können»), wobei immer schon von der Richtigkeit des Zwecks (zum Beispiel, dass weniger Kinder mit Gendefekten geboren werden sollen) ausgegangen und dieser nicht mehr hinterfragt werden kann. Aber gerade das wäre die Aufgabe einer Ethik: Begründen, dass der Zweck richtig oder gut ist, und nicht nur die empirischen Mittel festlegen, wie der Zweck erreicht werden kann.

Ad c) Als dritte Option stünde nun als Ausweg zur Verfügung, einige der Annahmen des Naturalismus aufzugeben oder wenigstens abzuschwächen, um so eine Begründung einer Ethik zu ermöglichen. Die Annahme, dass es keine übernatürlichen Dinge geben kann, stellt dabei das Minimum dar, damit überhaupt noch sinnvoll von «Naturalismus» gesprochen werden kann. Jedoch ist dieses Minimum mit derart vielen ethischen Positionen verträglich – so mit fast allen Spielarten philosophischer Ethik –, dass es als konkrete Alternative zu einer religiösen Ethik nicht mehr viel aussagt. Auch wird nicht viel über die Begründungsmöglichkeiten ausgesagt, abgesehen von der Unmöglichkeit, die Begründung über übernatürliche Prinzipien oder über Metaphysik laufen zu lassen. Man müsste von einer «naturalistischen Ethik» demnach mehr verlangen können als nur den Verzicht auf Übernatürliches.

Oder es müssen einige der erkenntnistheoretischen und methodologischen Annahmen aufgegeben oder abgeschwächt werden: eine Erkenntnis über ethische Werte, Normen und Prinzipien, die eben nicht rein (natur-)wissenschaftlich möglich ist, muss irgendwie möglich gemacht werden.

Doch wie viele Annahmen darf man aufgeben, ohne auch den Naturalismus als konsequente Position aufgeben zu müssen? Muss man auf die Methoden der Naturwissenschaften pochen, um Naturalist sein zu können, oder darf man auch die Methoden der Sozialwissenschaften, ja sogar der Geisteswissenschaften berücksichtigen, obwohl diese ganz anders «funktionieren»? Darf man sogenannte transzendentale Begründungen zulassen (wie beispielsweise Kant beim Kategorischen Imperativ), die nichts mit den Begründungen, wie sie empirische Wissenschaften ermöglichen, zu tun haben? Muss man so etwas wie die alltägliche Lebenspraxis als Quelle der Begründung zulassen? Wie kann man, wenn man philosophisches Denken als «Methode» sowie normative Begründungen zulässt, diese mit den naturalistischen Erkenntnisidealen vereinbaren – welche Art von Erkenntnis kann eine solche «Methode» beanspruchen (denn naturwissenschaftliche Erkenntnis ist es freilich nicht)? Wie können, wenn man als Naturalist auf die Richtigkeit der Menschenrechte pocht (wie es hier im Blog des Öfteren getan wird), diese auf Basis des Naturalismus als «richtig» nachgewiesen werden – und nicht nur als willkürliche Vereinbarung, die im Prinzip auch anders aussehen könnte?

Sicher dürfte die dritte Option die vielversprechendste sein, um eine naturalistische Ethik zu begründen. Die Gefahr scheint aber, wie die Fragen oben beispielhaft illustrieren sollen, recht gross zu sein, eine ursprünglich «starke» Position zu verwässern oder sich Inkonsistenzen einzuhandeln, die man theoretisch irgendwie auflösen können muss. Denn kann man das nicht, läuft man Gefahr, je nachdem theoretisch inkonsistenter zu sein als das, was man kritisiert: eine religiöse Ethik.

*Marcel Mertz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an medizinethischen Instituten in Köln und Hannover. Nach einem Studium der Philosophie und Soziologie in Basel hat er in Mannheim mit einer Arbeit zum Verhältnis von empirischen Daten und (medizin-)ethischen Normen in Philosophie promoviert.

Tödliche Heilmethoden

Hugo Stamm am Samstag, den 21. März 2015
Hugo Stamm

Alternative Heilmethoden erfreuen sich grosser Beliebtheit: Ein Heiler behandelt einen Patienten mit Vibrationsenergie. Foto: AFP

Die Diagnose Krebs triff jedes Jahr rund 35’000 Schweizerinnen und Schweizer wie ein Keulenschlag. Plötzlich hängt das Leben an einem seidenen Faden, und der Tod wird zum ständigen Begleiter. In ihrer Verzweiflung suchen viele Patienten Hilfe bei alternativen Heilmethoden, Geistheilern, Reikimeistern und Naturärzten. Wie Angehörige berichten, tummeln sich darunter viele Scharlatane, die rasche Heilung versprechen und Patienten manchmal auch finanziell schamlos ausnützen. So entmutigend die Erkenntnis auch sein mag: Niemand kann mit alternativen oder «sanften» Methoden Krebs nachweisbar heilen.

Dies musste auch der Ehemann einer 47-jährigen Patientin erfahren. Ihr Arzt entdeckte bei ihr ein Knötchen in der linken Brust. Krebs! Die Frau stürzte in eine Krise. Eine Bekannte empfahl ihr die Germanische Heilkunde (früher Germanische Neue Medizin) des deutschen Arztes Geerd Hamer und vermittelte ihr zwei Therapeutinnen. Diese versprachen ihr baldige Genesung. Sie dürfe sich aber auf keinen Fall schulmedizinisch behandeln lassen, denn Chemotherapie und Bestrahlungen seien pures Gift und würden ihre Heilmethoden blockieren. Bei Krebs handle es sich nämlich nicht um bösartige und wuchernde Zellen, die Krankheit sei lediglich die Folge eines seelischen Konflikts, der gelöst werden müsse.

Ein Jahr lang verhielt sich der Knoten ruhig, die Patientin glaubte bereits an ihre Genesung. Doch dann platzte der Tumor. Die Frau litt unter starken Schmerzen und liess sich endlich in ein Spital einweisen. Die ganze Brust war vereitert, eine Operation unumgänglich. Eine Chemotherapie verweigerte sie aber weiterhin. Sie zerfiel körperlich und benötigte einen Rollstuhl. Die Schmerzen, die sich auf Arme und Schultern ausbreiteten, brachten sie fast um den Verstand. Diese seien Ausdruck der Genesung, behaupteten die Hamer-Therapeutinnen. Schmerzmittel durfte sie keine einnehmen.

Die Patientin liess sich von ihrem Mann zu einer Röntgenuntersuchung überreden. «Das Resultat war niederschmetternd», erinnert er sich. Am rechten Oberarm fehlte ein Teil des Knochens, das Schulterblatt war durchlöchert. Die Frau starb eine Woche später unter unsäglichen Qualen.

Seit die Esoterikwelle die westliche Welt erfasst hat, breitet sich der alternative Gesundheitsmarkt rasant aus. In der Schweiz werden mehrere Hundert Millionen Franken umgesetzt. Weit über 10’000 Geistheiler, Handaufleger, Reiki-Meister, alternative Therapeuten, Magnetopathen usw. kümmern sich um das körperliche und seelische Wohl der Leute, die an übersinnliche Phänomene und esoterische Ideen glauben. Patienten können unter rund 500 Heilmethoden auswählen. Allein zur Behandlung von Krebs gibt es 100 alternative Methoden. Eine Umfrage im Kantonsspital St. Gallen ergab, dass mehr als die Hälfte der Krebspatienten Hilfe bei Geistheilern und Heilpraktikern suchen. Eine andere Untersuchung mit 1500 Patienten kam zu einem ähnlichen Resultat.

Man darf nicht alle alternativen Methoden und Geistheiler in einen Topf werfen. Es gibt viele, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Entscheidend ist, dass sie eine schulmedizinische Abklärung und eine klare Diagnose verlangen. Bei Krebs sollten die Heiler darauf bestehen, dass die Patienten sich über die Behandlungsmethoden und deren Erfolgsaussichten bei Onkologen ins Bild setzen. Von keiner Seite darf Druck auf die Patienten aufgesetzt werden, sie sollen die Behandlungsmethode frei wählen können. Verspricht ein Heiler oder Handaufleger Heilung, muss er zu den Scharlatanen gezählt werden.

Die Gleichgültigkeit von Gesellschaft und Politik gegenüber geistheilenden Scharlatanen ist für viele Kranke fatal. Wir bräuchten dringend eine Art Konsumentenschutz im alternativmedizinischen Bereich.

Würdevoll in den Tod

Hugo Stamm am Samstag, den 14. März 2015
(Keystone/Alessandro Della Bella)

Enormer Zulauf: Exit zählt derzeit 86’000 Mitglieder. (Keystone/Alessandro Della Bella)

2000 Jahre lang hatten die christlichen Kirchen die Deutungshoheit zu zentralen Fragen des Lebens. Das Credo: Gott hat es gegeben, Gott wird es nehmen. Eine biologische Sichtweise war tabu, dass nämlich das Leben von der Zeugung abhängt und wohl eher von Trieben als von Gott gesteuert wird. Man denke nur an die vielen zufälligen Aspekte, die den Geschlechtsverkehr begleiten können.

Aufklärung und Menschenrechte haben die Gewichte in der jüngeren Zeit verschoben und dem Individuum die geistige Autonomie und Selbstbestimmung zugesprochen. Damit geriet das christliche Fundament bedrohlich ins Wanken. Verfassungen und Gesetze kümmern sich nämlich nicht um die metaphysische Frage, ob Gott bei Geburt und Tod seine Finger im Spiel hat.

Für strenggläubige Christen ist dies ein Bedeutungsverlust, für manche gar eine narzisstische Kränkung. Sie interpretieren den Suizid als schwere Sünde. Die katholische Kirche verbannte Selbst«mörder» bis in die 1980er-Jahre von den Friedhöfen, weil sie angeblich Gott ins Handwerk pfuschten.

Der Zeitgeist zwang selbst die katholische Kirche, auch menschliche Aspekte eines Suizids zu berücksichtigen. Davon sind Gläubige aus dem traditionalistisch-katholischen und freikirchlichen Umfeld noch weit entfernt. In ihrer fundamentalistischen Sichtweise ist die Aufweichung von religiösen Grundsätzen und Dogmen des Teufels.

Dieser scheint in ihren Augen die christliche Welt immer mehr zu verführen, was sie als klassisches Anzeichen für die bevorstehende Apokalypse interpretieren. Dazu gehört auch der Zulauf zu den Sterbehilfeorganisationen. Dass beispielsweise Exit im letzten Jahr 13’413 Neueintritte verzeichnete, werten viele Gläubige als religiöse Dekadenz. Insgesamt zählt Exit heute 86’000 Mitglieder. In ein paar Jahren wird die Organisation voraussichtlich mehr Mitglieder haben als alle Freikirchen zusammen.

Heute wagen es strenggläubige Christen kaum mehr, religiöse Argumente gegen Sterbehilfeorganisationen vorzubringen, und schieben ethische Gründe vor: Es sei unwürdig, sich von Sterbebegleitern ins Jenseits befördern zu lassen. Ausserdem gebe es keinen Grund mehr für einen Suizid, könne doch die Palliativmedizin alle Schmerzen lindern.

Das sind Scheinargumente. Es ist wohl würdiger, im Beisein von Angehörigen den Giftbecher zu trinken, statt sich eine Kugel in den Kopf zu schiessen und möglicherweise als Krüppel weiterzuleben. Ausserdem kann die Palliativmedizin nicht alle Schmerzen lindern. Es sei denn, Krebspatienten bekommen so hohe Dosen an Morphinpräparaten, dass sie sediert «hinübergleiten». So übernehmen Ärzte zwangsläufig die Funktion von Sterbebegleitern. Auch dies ist für christliche Hardliner verwerflich, ethisch aber sinnvoll.

Wie man Gott erkennt

Hugo Stamm am Samstag, den 7. März 2015
Hugo Stamm

Ist das Gott? Aufnahme des Hubble-Weltraumteleskops. Foto: Nasa

Die Frage nach Gott beschäftigt die Menschen seit Urzeiten. Kaum ein anderes Phänomen ist so oft diskutiert und erforscht worden. Heute sind sich die Religionswissenschafter und Theologen weitgehend einig: Der Gottesbeweis wird auch in nächster Zeit nicht gelingen. Womöglich gar nie.

Somit beruhen alle Religionen auf Hypothesen. Ausgerechnet bei der Frage aller Fragen – gibt es ein höheres Wesen, das das Universum erschaffen hat? – tappen wir im Dunkeln. Das ist eine narzisstische Kränkung. Längst zerschlagen haben sich auch die Hoffnungen, die Naturwissenschaften könnten plausible Antworten liefern. Im Gegenteil: Die Evolutionstheorie machte uns zum Tier und nahm uns die Illusion, die Krone der Schöpfung zu sein. Und die Astrophysik präsentierte uns nach langer Forschung nicht Gott, sondern den Urknall.

Deshalb müssen wir wohl mit dem Verdacht leben, dass Gott eine Illusion sein könnte. Ein Fabelwesen, das aus der Sehnsucht der Menschen geboren wurde. Der Sehnsucht nach einem allmächtigen Herrscher, der uns ein zweites Leben in einer paradiesischen Umgebung schenkt.

Dass sich der Glaube an einen Gott hält, hat mit der Tradition und viel mit Magie zu tun. Mit ihrer Hilfe lassen sich Ideen, die der Fantasie entsprangen, als Realität erleben. Die Einbildungskraft, genährt von der Sehnsucht, macht Utopien zu realen Bildern. Mit magischen Denkkonstrukten werden beliebige Ideen und Wünsche zur Wirklichkeit eingefroren. Die Magie hilft, auch das Unfassbare vermeintlich plausibel zu erklären.

Viele Gläubige machen sich auf diese Weise Gott zu Diensten. Er soll sie leiten, beschützen, beschenken und schliesslich erretten. Deshalb ist der christliche Gott eine Vaterfigur. Und die Jihadisten glauben sogar, dass Allah sie belohnt, wenn sie bei einem Selbstmordattentat Unschuldige in den Tod reissen. Der Lohn für die Untat – nämlich mehrere Jungfrauen – entspringt auch eher der Sehnsucht der Gläubigen als der Fantasie von Allah.

Eine weitere Besonderheit des Gottesglaubens ist die Überzeugung, in spiritueller oder metaphysischer Hinsicht die absolute Wahrheit zu kennen. Glauben heisst aber, etwas für wahr zu halten. Dies ist ein unlösbarer Widerspruch. Der französische Philosoph André Comte-Sponville meinte deshalb: «Wer an Gott glaubt, begeht die Sünde des Hochmutes.» Ohne Hochmut wären die Menschen aber toleranter, die Welt erschiene friedlicher.

Durch das Denkkonstrukt Gott wurde das magische Denken kultiviert. Alles Denkbare kann glaubhaft gemacht werden. Weisheit entsteht aber nicht durch blinden Glauben, sondern durch das geistige Training, vernünftig, kreativ und folgerichtig zu denken. Weil das nicht gelernt wird, pflanzt sich der blinde Glaube von Generation zu Generation fort wie eine Erbkrankheit.

Pfarrer dürfen schwul sein, ihre Schäfchen aber nicht

Hugo Stamm am Samstag, den 28. Februar 2015
GOTTESDIENST, MESSE, KATHOLISCHER PFARRER,

Segnet auch lesbische Schäfchen: Pfarrer Wendelin Bucheli. Foto: Urs Flüeler (Keystone)

Katholische Geistliche segnen so ziemlich alles, was den Gläubigen lieb und heilig ist. An Motorrad-Prozessionen bekommen die «heissen Öfen» ihren Gottessegen ab, bei Tiergottesdiensten werden die lieben Vierbeiner gesegnet, es dürfen auch mal Panzer sein, auf dass sie die Soldaten schützen und den Feind treffen – egal ob es Glaubensbrüder oder «Ungläubige» sind. Doch Menschen dürfen Pfarrer nicht segnen. Genauer: bestimmte Menschen. Solche nämlich, die es aus einer Laune der Natur heraus zu gleichgeschlechtlichen Personen zieht. Also Homosexuelle.

Was sich bei Waffen mit dem Segen von Rom ziemt, gehört sich bei Schwulen und Lesben nicht, lernen wir am Fall von Pfarrer Wendelin Bucheli aus Bürglen UR. Der gute Hirte hat den Wunsch eines lesbischen Paares erfüllt und es während der Sonntagsmesse gesegnet.

Die Reaktion aus Chur liess nicht lange auf sich warten. Bischof Vitus Huonder griff zur stärksten Waffe und verlangte die Demission seines unbotmässigen Pfarrers. Das passte den Schäfchen von Bürglen und weit über das Urnerland hinaus nicht. Sie segneten ihren Pfarrer in einem späteren Gottesdienst mit einer Standing Ovation und sammelten fleissig Unterschriften. Die Bögen füllten sich rasch.

Eigentlich ist Wendelin Bucheli ein treuer Diener seines Herrn aus Chur. Also kein aufmüpfiger Pfarrer, sondern eher konservativ. Und trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen den beiden, wie ein Dorfbewohner einem Fernsehreporter sagte: Der Bischof sei eben stockkonservativ.

Chur stellt sich auf den Standpunkt, dass Gepflogenheiten, die seit 2000 Jahren Bestand hätten, nicht über Nacht revidiert werden dürften. Nur: Die Menschheit glaubte 2000 Jahre lang, dass Homosexualität die Konsequenz einer dämonischen Belastung oder eine Strafe Gottes sei. Dass die Kirche damit 2000 Jahre lang Gläubige ausgrenzte, stigmatisierte und teilweise seelisch quälte, blendet die katholische Kirche aus. Statt die Geschichte aufzuarbeiten und sich bei den Homosexuellen zu entschuldigen, sanktioniert sie Geistliche, die die Schwulen und Lesben endlich als gleichwertige Menschen akzeptieren und eben auch segnen.

So bekommt der Streit in Bürglen eine tragikomische Note. Ehemalige Würdenträger der katholischen Kirche erklären nämlich übereinstimmend, dass 20 bis 40 Prozent der Priester schwul seien. Mit anderen Worten: Pfarrer dürfen keine Homosexuellen segnen, doch der Papst segnet schwule Bischöfe, schwule Bischöfe wiederum segnen schwule Pfarrer und schwule Pfarrer ihre Schäfchen. Aber Achtung: Sie dürfen kein schwules Paar sein.

Holocaust als karmischer Ausgleich

Hugo Stamm am Samstag, den 21. Februar 2015
Hugo Stamm

Amerikanische Soldaten und Häftlinge stehen hinter dem Tor des Konzentrationslagers Buchenwald (April 1945). Foto: AFP

Die Reinkarnationsvorstellung, oft gekoppelt an die Karmatheorie, hat ihre Wurzeln primär in den fernöstlichen Glaubensvorstellungen. Diese religiöse Idee, vor allem im Hinduismus und Buddhismus zu finden, ist sehr alt, hat eine fatalistische Komponente und passt schlecht in ein modernes Weltbild. Heute bauen wir das Zusammenleben, die gesellschaftlichen Ordnungen und Gesetze darauf auf, dass der Einzelne ein autonomes Wesen ist, das für sein Tun die Verantwortung trägt.

Das Konzept von der Wiedergeburt geht hingegen davon aus, dass Menschen Einflüssen ausgesetzt sind, die angeblich mit früheren Leben zu tun haben oder auf kommende ausstrahlen. Zwei Beispiele: Gute Taten im aktuellen Leben können zu einer Belohnung im nächsten führen. Fromme Hindus denken dabei gern an einen Aufstieg im Kastensystem. Oder: Wer in einem früheren Leben jemanden umgebracht hat, muss damit rechnen, dass er später selbst Opfer eines Verbrechens wird, auch wenn er ein vorbildliches Leben führt. Ein solch fatalistisches Weltbild lässt sich schlecht mit modernen psychologischen, sozialen oder pädagogischen Erkenntnissen oder Grundsätzen vereinbaren.

Dass dieser Glaube in Indien fortlebt, weil er einer alten Tradition entspricht, lässt sich einigermassen nachvollziehen. Dass aber heute im Westen Millionen von Menschen die Idee in ihr Weltbild integriert haben, muss als geistiger, kultureller und religiöser Rückfall gewertet werden. Zu verdanken haben wir diesen anachronistischen Rückschritt der modernen Esoterik, die inzwischen weite Gesellschaftskreise durchdrungen hat.

Dieses Beispiel zeigt, welch problematische Auswirkungen esoterische Ideen auf die Geisteshaltung vieler Menschen im Westen heute haben. Die Esoterik westlicher Ausprägung kultiviert das magische Denken und den Aberglauben. Es ist der Glaube an übersinnliche Geistwesen und Verstorbene, mit denen man angeblich kommunizieren kann, der Glaube an Elfen und Einhörner, an die Idee eines raschen spirituellen Paradigmawechsels, der aus uns egozentrischen Menschen sanfte Wesen machen soll.

Wie fatal der Glaube an die Karmatheorie und ihre esoterischen Modifikationen ist, hat uns der Esoteriker Trutz Hardo demonstriert. In seinem Buch «Jedem das Seine» (in Anlehnung an die Torinschrift im Konzentrationslager Buchenwald) wollte er nachweisen, dass die Karmaidee sich auch an einem extremen Beispiel wie dem Holocaust «beweisen» lässt. Der Autor behauptet, die ermordeten Juden hätten sich ihr Schicksal im Dritten Reich ausgesucht, da sie sich in früheren Leben ähnlicher Verbrechen schuldig gemacht hätten. Ist das Dummheit? Vielleicht. Mit Sicherheit aber esoterische Verblendung.