Freikirchen schrumpfen auch in den USA

Hugo Stamm am Samstag, den 27. Juni 2015
Men put up a cross during a stop in a Good Friday Stations of the Cross pilgrimage in Ranchos de Taos, New Mexico March 29, 2013. Several hundred followers of the Catholic Church walked a pilgrimage celebrating the Stations of the Cross from the San Francisco de Asis Catholic Church, through Ranchos de Taos and the remote village Talpa, New Mexico. Holy Week is celebrated in many Christian traditions during the week before Easter. REUTERS/Brian Snyder (UNITED STATES - Tags: RELIGION) - RTXY2II

Die Anziehungskraft des katholischen Glaubens lässt nach: Pilger in New Mexiko. Foto: Reuters

Die USA sind eine tiefreligiöse, christlich geprägte Nation. Nirgends sonst leben so viele Christen. Und wohl in keinem andern Land wird die Religionsfreiheit so sehr beachtet und geschützt. Dies ist mit ein Grund, weshalb selbst die Sekte Scientology jahrzehntelang als seriöse Glaubensgemeinschaft betrachtet wurde.

Die Dichte an Freikirchen ist eines der besonderen Merkmale der USA. Im Wahlkampf kommt kein Präsidentschaftskandidat darum herum, um die Gunst der frommen Christen zu buhlen. Doch nun erreicht der Zeitgeist auch Amerika: Die christlichen Kirchen verlieren zunehmend Mitglieder, die Zahl der Nichtgläubigen wächst rasch. In den USA verstärkt sich der Trend, der in Europa schon länger zu beobachten ist: Glauben und Religion verlieren an Bedeutung, die Tendenz zur Säkularisierung nimmt zu.

Dies bestätigt eine Studie des amerikanischen Pew Research Centers, das 35’000 Amerikaner befragt hat. Bekannten sich 2007 noch 78,4 Prozent zum christlichen Glauben, sind es heute nur noch 70,6 Prozent. Dies ist zwar immer noch ein hoher Wert, doch der Einbruch ist dramatisch. Vor allem auch, weil die meisten Abtrünnigen religiös erzogen wurden und sich als Erwachsene in einem bewussten Prozess vom Glauben abwandten, also agnostisch oder atheistisch wurden. (In Europa werden viele Kinder nicht mehr religiös erzogen, weshalb die Zahl der Ungläubigen besonders rasch wächst.)

Die christliche Tradition und die besondere Stellung der Religionen in den USA sind historisch bedingt. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die Schweiz. Die Mennoniten, Täufer oder Wiedertäufer, wurden im 16. Jahrhundert in Europa und speziell auch in der Schweiz verfolgt. Viele wurden ertränkt, geköpft oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Andere flüchteten ins Ausland oder ins entlegene Emmental, das heute noch eine Hochburg von Freikirchen ist. Ein Teil der Verfolgten pflegte den Glauben im Versteckten.

Ein Scharfmacher gegen die Mennoniten war auch der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli. Er verlangte vom Rat der Stadt Zürich, die Wiedertäufer seien mittels kaiserlicher Rechte auszurotten. Es wurden Kopfgelder ausgesetzt, und Hunderte Schweizer Täufer starben den Märtyrertod.

Europa war für Mennoniten, Amische und Hutterer verbrannte Erde. Ab 1720 flüchteten viele nach Amerika, vorwiegend nach Pennsylvania. Um vor weiterer Verfolgung geschützt zu sein, massen sie der Religionsfreiheit hohe Bedeutung zu.

Der freikirchliche Geist ist heute noch stark in der amerikanischen Gesellschaft verankert. Die konservative Grundhaltung, die prüde Einstellung in sexuellen Fragen, Waffenfetisch und die Ablehnung der Evolutionstheorie sind nur ein paar Beispiele.

Die Säkularisierung ist aber nicht aufzuhalten. Das fromme und konservative Gedankengut bleibt hingegen tief im Bewusstsein der breiten Bevölkerung verankert und prägt die Mentalität, weshalb die Modernisierung der Gesellschaft nur schleppend vorankommt.

Staatlich geförderter Aberglaube

Hugo Stamm am Samstag, den 20. Juni 2015
In Holland wird die Wahrsagerei künftig gefördert. Symbolbild: Keystone

In Holland wird die Wahrsagerei künftig gefördert. Symbolbild: Keystone

Das Geschäft mit Esoterik und Aberglauben blüht prächtig. Der neue Wirtschaftszweig generiert Hunderte Millionen Franken. Da dieses Geschäftsmodell meist nur wenige Investitionen erfordert, drängen gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer mehr Leute in dieses Arbeitsfeld. Mit Räucherstäbchen und einem Set Tarotkarten ist man dabei. Wer mit viel Selbstvertrauen gesegnet ist, muss auch keine aufwendige Ausbildung absolvieren. Ein bisschen Lektüre reicht, und schon hat man das esoterische Vokabular drauf. Besonders erfolgreich dürfte der Typ Autoverkäufer oder Hausierer sein. Wer intuitiv die Sehnsüchte und Ängste der Klienten erkennt und sich auf sein geschliffenes Mundwerk verlassen kann, punktet schnell.

Spirituelle Berater wehren sich gegen solche Pauschalkritik. Als Wahrsager, Kartenleger oder persönlicher Berater brauche es spezielle Eignungen und Neigungen, erklären sie. Wer den Lebenslauf dieser Personen liest, stösst denn auch stets auf ein Stereotyp: Er oder sie habe schon als Kind bei sich übersinnliche Fähigkeiten entdeckt. Zum Beispiel die Aura der Mitmenschen gesehen, Engel wahrgenommen oder kosmische Stimmen gehört. Heute seien sie deshalb fähig, in die Zukunft zu schauen oder Jenseitskontakte herzustellen, also mit Verstorbenen zu kommunizieren.

Es lässt sich natürlich nicht prüfen, wie gross die übersinnlichen Fähigkeiten der Wahrsager tatsächlich sind. Man darf auch die Grundsatzfrage stellen, ob es die übersinnliche Wahrnehmung überhaupt gibt, die Menschen angeblich befähigt, in die Zukunft zu schauen.

Keine Zweifel daran hat das holländische Arbeitsamt. Es zahlt Arbeitslosen die Ausbildung zum «spirituellen Berater». Wir lernen: Es braucht offensichtlich keine spirituellen oder paranormalen Fähigkeiten dazu. «Hellseher ist kein verbotener Beruf», sagte der zuständige Beamte. Ein spiritueller Anbieter schult nun die Arbeitslosen für 1000 Euro in einer Schnellbleiche um. Die Disziplin nennt das Unternehmen «Allgemeines paranormales Training». Dabei lernen die Arbeitslosen unter anderem, Karten zu legen und das Schicksal ihrer Klienten in einer Kristallkugel zu erkennen.

Man könnte es auch Ausbildung zu Scharlatanen nennen. Wer ohne Eignungstest und psychologische Ausbildung suizidgefährdete, schwer kranke und verzweifelte Menschen berät und als «Diagnoseinstrumente» Karten und Kristallkugeln verwendet, spielt Schicksal. Fahrlässige Ratschläge können tödlich sein. Mitverantwortlich ist dann das Arbeitsamt. Der Staat ist es ohnehin. Er erhebt die Wahrsagerei zum seriösen Beruf und fördert ihre Reputation. Das ist staatlich geförderter Aberglaube.

Beliebter als die Katholiken

Hugo Stamm am Samstag, den 13. Juni 2015
Worshippers sing a song during service at the Evangelical Reformed church in Thalwil in the canton of Zurich, Switzerland, pictured on October 18, 2009. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella) Gottesdienstbesucher singen am 18. Oktober 2009 in der evangelisch-reformierten Kirche in Thalwil im Kanton Zuerich ein Lied. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella)

Gottesdienstbesucher in der evangelisch-reformierten Kirche Thalwil. Foto: Alessandro Della Bella, Keystone

Noch ist für die Landeskirchen nicht alles verloren. Zu diesem Schluss kommt eine breit angelegte Studie von Urs Winter. Der Psychologe und Theologe, der als Projektleiter am Pastoralsoziologischen Institut in St. Gallen tätig ist, warnt aber: Wenn die Vertreter der katholischen und reformierten Kirchen den Abwärtstrend weiterhin als unlösbares gesellschaftliches Phänomen hinnehmen würden, sei der Niedergang kaum mehr aufzuhalten. Deshalb müssten sie besser auf ihre Reputation und die Bedürfnisse der Bevölkerung achten.

Winter hat drei Gruppen befragt: 90 Theologiestudenten, rund 950 Politiker aus mehreren Kantonsparlamenten und 360 Studenten der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Die Befragten sind sich weitgehend einig, dass die Kirchen eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen. Viele gaben aber an, die Kirchen seien vor allem für andere wichtig.

Welche Kirche geniesst laut Studie den besseren Ruf? Die protestantische schlägt die katholische um Längen. Als Grund für das eindeutige Ranking nannten die Befragten die Skandale und negativen Schlagzeilen, die die katholische Kirche in den letzten Jahren lieferte. Genannt wurden die pädophilen Übergriffe der Geistlichen, die überkommene Sexualmoral, die fehlende Gleichstellung von Mann und Frau, der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt und das Zölibat, die dem Ruf der katholischen Kirche geschadet hätten. Doch nicht genug: Die Befragten taxierten sie als rückständig, autoritär und verstaubt.

Die Reputation der reformierten Kirche schätzen die Befragten dagegen wesentlich höher ein. Erstaunlich ist deshalb, dass sie trotzdem unter einem ähnlich hohen Mitgliederschwund leidet wie die katholische Kirche.

Die Gründe liegen auf der Hand: Gerade weil die reformierte Kirche so tolerant ist und den Gläubigen einen vergleichsweise grossen geistigen Freiraum lässt, ist die Bindung weniger gross und die Schwelle zum Austritt niedriger. Es fehlt ihr das Profil, und sie wird in den Medien selten thematisiert.

Überraschend ist das Rezept, das Winter den Kirchen vorschlägt, um den Mitgliederschwund zu bremsen. Der Theologe empfiehlt ihnen Marketingstrategien, wie sie in Wirtschaftsseminaren gelehrt werden. Sie sollen ihr Angebot wie ein Konsumprodukt feilbieten, denn die Konkurrenz sei auf dem offenen Religionsmarkt gross. Damit begeht Winter schon fast einen Tabubruch, denn viele Theologen und Geistliche wollen ihren Glauben nicht zu Markte tragen. Dafür ist er ihnen zu heilig.

Für Winter ist das Personal an der Front primär für die Vermarktung entscheidend. Pfarrer, die motiviert und kompetent seien, prägten das Bild der Kirche. Glaubwürdige Vertreter seien das beste Mittel gegen Kirchenaustritte.

Ein solches Marketing ist aber für die konservativen katholischen Geistlichen des Teufels. Sie pfeifen darauf, Volkskirche zu sein. Für die Bischöfe Haas und Huonder beispielsweise ist die Umsetzung der reinen Lehre wichtiger als die Seelsorge oder die Verhinderung der Austritte. Das gilt auch für viele Würdenträger in der Kurie, die sich lieber auf die strenggläubige Klientel ausrichten. Die Erkenntnisse von Urs Winter werden in der reformierten Kirche Widerhall finden, aber kaum in der katholischen Kirche. Ob aber Marketingrezepte reichen, um Strukturprobleme und das Desinteresse breiter Bevölkerungskreise an religiösen Fragen zu lösen, ist zu bezweifeln.

Konsumwelt als Ersatzreligion

Hugo Stamm am Samstag, den 6. Juni 2015
Wie ein Gottesdienst: Brasilianische Fussballfans im Maracanã in Rio. Foto: Leo Correa (AP)

Wie ein Gottesdienst: Brasilianische Fussballfans im Maracanã in Rio. Foto: Leo Correa (AP)

Religiöse oder spirituelle Bedürfnisse sind tief in unserem Bewusstsein verankert. Sie gehören zu den ursprünglichen Archetypen oder Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Carl Gustav Jung, der Esoteriker unter den Psychologen, führte den Begriff in der Psychologie ein und sprach vom kollektiven Unbewussten.

Es ist tatsächlich auffallend, dass praktisch alle Völker, Stämme und Kulturen ähnliche religiöse Archetypen entwickelten, obwohl sie früher keine Verbindung untereinander hatten, sich also geistig nicht inspirieren konnten. Das Bedürfnis nach etwas Höherem, Mächtigem, Unvergänglichem ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte.

Aus psychologischer Sicht führten vermutlich das Bewusstsein von der Endlichkeit allen Lebens und die Angst vor Krankheiten, Unfall und Tod zu den religiösen Archetypen. Gläubige neigen hingegen dazu, die Ursache des Religiösen in der göttlichen Kraft zu suchen, die die Natur belebt und unser Bewusstsein prägt.

Vielleicht erleben wir im aktuellen Jahrhundert den Beginn eines beispiellosen Paradigmenwechsels, denn die religiösen Grundbedürfnisse bröckeln zumindest in der westlichen Welt erstaunlich schnell. Spirituelle Fragen haben bei den jungen Generationen keinen grossen Stellenwert mehr. Auch die Statistiken der Kirchenaustritte verdeutlichen den Wandel und den Zerfall des Archetypus.

Die Bedürfnisse nach Ritualen werden indes nicht verschwinden. Die aktuelle Entwicklung zeigt aber, dass eine Verschiebung hin zu weltlichen Bräuchen stattfindet. Ausserdem löst das Materielle das Spirituelle ab. Der Wohlstand wendet die Aufmerksamkeit vom Jenseits aufs Diesseits. In der Postmoderne brauchen die Menschen Gott nicht mehr zwingend, um die Hoffnung auf Verwirklichung nähren zu können. Gier und Abzockerei sind die neuen Archetypen, der Konsum ist zur Ersatzreligion geworden.

Dies zeigt sich bei der wachsenden Ritualisierung der säkularen Welt. Der Fussball zeigt es eindrücklich. Die Fanclubs bitten jedes Wochenende zum Hochamt. Vom Outfit über den Bierkonsum bis zum Fangesang und dem Animateur im Stadium sind alle Elemente enthalten, die auch einen Gottesdienst ausmachen. Kein Zufall also, dass «Fussballgott» zum stehenden Begriff geworden ist.

Oder das Shoppen. Die Geschäfte bauen eine Erlebniswelt auf, in der Einkaufen zum Ereignis und Ritual wird. Ersatzreligiösen Charakter hat auch das Essen und Kochen angenommen. Kochsendungen gibt es inzwischen auf allen Kanälen, Koch-Castings treiben das Ritual auf die Spitze. Es scheint, dass der Konsum und andere weltliche Rituale die grössten Feinde der Götter sind.

Religionen brauchen die Hölle

Hugo Stamm am Samstag, den 30. Mai 2015
Hugo Stamm

Ausschnitt aus dem Bild «Das Jüngste Gericht» von Hans Memling (ca. 1471). Foto: Wikipedia.org

Ein reformierter Pfarrer sagte mir kürzlich, er habe in seinen Predigten noch nie die Hölle oder den Satan thematisiert. Er wolle die Gläubigen ermutigen und deshalb die frohen Botschaften der Evangelien vermitteln, nicht die Drohbotschaften.

Diese Haltung zu einem religiösen Grundthema ist lobenswert. Das Leben ist oft genug ein Jammertal, da braucht es die Moralkeule der ewigen Verdammnis in der Hölle nicht zwingend. Es darf aber nicht vergessen werden, dass viele Generationen mit dieser Drohung geängstigt und gefügig gemacht wurden.

Die Vorstellung von den endlosen Höllenqualen sind aber immer noch weit verbreitet. Gibt man beispielsweise bei Google den Begriff «Hölle» ein, erscheint an dritter Stelle die Website www.himmel-oder-hoelle.ch. Dort wird den Lesern wahrlich die Hölle heissgemacht. So heisst es beispielsweise: «Das unausweichliche Schicksal jedes Sünders ist der ewige Tod, die ewige Verbannung in die Hölle.» Gott wolle niemanden im Himmel, der «schmutzige, stinkende Sünden» begangen habe. «Oder möchtest du eine Ewigkeit lang ein stinkendes, schmutziges Schwein in deiner Wohnung haben?»

Der Glaube an das ewige Leiden in der Hölle ist vor allem in den Freikirchen verbreitet. Aber auch die katholische Kirche hält daran fest. Der vormalige Papst Joseph Ratzinger verkündete in einer Lehraussage: «Jesus ist gekommen, um uns zu sagen, dass er uns alle im Paradies haben will und dass die Hölle, von der man in unserer Zeit so wenig spricht, existiert und ewig ist für jene, die ihre Augen vor seiner Liebe verschliessen.»

Liberale Geistliche können natürlich die Bibelstellen auch nicht ausradieren, in denen von Satan und der Hölle die Rede ist. Sie interpretieren die Passagen indes humaner. Für sie ist die Hölle das Totenreich, wo die Sünder ihre letzte Ruhestätte finden, während die Erretteten das ewige Leben erlangen. Allerdings finden sich Bibelstellen, in denen die ewige Verdammnis ziemlich eindeutig formuliert ist. Zum Beispiel in der Johannes-Offenbarung (20,10). Vom feurigen Pfuhl ist die Rede, der «von Ewigkeit zu Ewigkeit» brenne.

Fortschrittliche Theologen tun sich allgemein schwer mit der Hölle, denn sie passt schlecht zum Bild vom liebenden Gott, der seinen Sohn für uns geopfert hat. Der Widerspruch lässt sich aber nicht auflösen, wenn man die apokalyptischen Szenarien aus der Johannes-Offenbarung als weitere Horrorbilder hinzunimmt. Dort erleiden die Sünder ebenfalls Höllenqualen.

Überhaupt ist die christliche Lehre ohne Satan und Hölle nicht denkbar. Es braucht den Teufel als Gegenspieler von Gott, es braucht die Strafandrohung als Anreiz für ein tugendhaftes Leben. Ohne diese Dualität würde die christliche Heilslehre in sich zusammenfallen. Ohne Hölle wäre der Himmel die Norm, und es brauchte keine Religion, die den Weg ins Paradies weist.

Ein kultureller Hinweis: Das Theaterstück «Die grüne Katze» von Elise Wilk, das das Junge Schauspielhaus Zürich einstudiert hat, handelt von der unbegrenzten Einbildungskraft des Menschen, die zur sektenhaften Verblendung führen kann. Der Schlüsselsatz: «Wenn du dir etwas lang genug vorstellst, beginnt es zu existieren.» In diesem Stück eben die grüne Katze. Sehr empfehlenswert. Premiere ist am 5. Juni um 19 Uhr im Schiffbau/Matchbox, Zürich. Weitere Daten: 6., 8., 9. und 10. Juni.

Eidgenössisch diplomierte Esoteriker

Hugo Stamm am Samstag, den 23. Mai 2015
Hugo Stamm

Akupunkturbehandlung mit erwärmten Nadeln und Heilkräutern. Foto: Keystone

Meilenstein für die Naturheilpraktiker: Homöopathen und Ayurveda-Therapeuten können in Zukunft ein eidgenössisches Berufsdiplom erlangen. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat am 28. April 2015 die Höhere Fachprüfung für Naturheilpraktiker genehmigt. Somit dürfen Globuli neu mit dem Segen der staatlichen Behörden verabreicht werden. Das ist ein Durchbruch für die Alternativmedizin. Ihre Vertreter können nun nicht nur mit den Krankenkassen abrechnen, sie werden auch noch mit einem eidgenössischen Diplom geschmückt.

Die «Organisation der Arbeitswelt Alternativmedizin Schweiz OdA AM», die die Anerkennung anstrebte, jubiliert: «Diese Berufsreglementierung ist ein wichtiger Meilenstein im schweizerischen Gesundheitssystem. Europaweit hat ein anerkannter Abschluss Pilotcharakter und bewirkt eine Verankerung der Alternativmedizin in der Gesellschaft

Die eidgenössische Fachprüfung kann in den Disziplinen Ayurveda, Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin und Traditionelle Europäische Medizin abgeschlossen werden. Eine Methodenkritik gibt es nicht, weil die Prüfungsexperten zwangsläufig Vertreter der Alternativmedizin sind. Denn unabhängige Mediziner kennen sich in den Komplementärmethoden nicht aus und können die Arbeiten der Kandidaten nicht bewerten.

Damit sind die umstrittenen Alternativmethoden mitten in der Gesellschaft angekommen und nisten sich im Zentrum der Medizinalberufe ein. Das ist ein Ritterschlag und macht Homöopathie und andere Komplementärmethoden salonfähig. Wer vom Staatssekretariat für Bildung geadelt wird, gewinnt an Sozialprestige.

Leichtgläubige Patienten neigen nun zur Annahme, dass eidgenössisch diplomierte Heilpraktiker seriöse Fachleute sein müssen, die wirkungsvolle Heilmethoden anwenden. Nur: Bis heute konnte nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden, ob und wie alternative Heilmethoden wirken. Ein Beispiel: Wie soll ein stark verdünntes homöopathisches Mittel eine Heilung erzeugen, wenn darin kein einziges Molekül der verwendeten Inhaltsstoffe enthalten ist? Und: Wie soll eine homöopathische Tinktur heilen, deren Wirksubstanz aus zermalmten Kakerlaken und Hundekot besteht? Wir können davon ausgehen, dass die zuständigen Beamten des Staatssekretariats den Entscheid ziemlich ahnungslos gefällt haben, weil sie keine vertieften Kenntnisse von den verschiedenen Alternativmethoden besitzen.

Manche Naturheilpraktiker werden das eidgenössische Diplom als Feigenblatt benutzen. Die meisten sind über die Esoterik zu den Alternativmethoden gestossen und werden weiterhin ihren Patienten problematische esoterische Ideen und Methoden vermitteln, die aus jeder Praxis verbannt werden sollten, in denen ein eidgenössisches Diplom hängt.

 

Religionen sind keine Friedensstifter

Hugo Stamm am Samstag, den 16. Mai 2015
Ein shiitischer Kämpfer betet nördlich von Bagdad. Foto: Thaier Al-Sudani (Reuters)

Der Glaube an die einzig wahre Lehre verhindert viel: Ein schiitischer Kämpfer betet nördlich von Bagdad. Foto: Thaier Al-Sudani (Reuters)

Die religiösen Spannungen und Konflikte haben in den letzten Jahren einen neuen Höhepunkt erreicht. In vielen arabischen und muslimischen Ländern hat die Christenverfolgung stark zugenommen, und die Scharfmacher des IS wollen mit bisher unbekannter Brutalität Gottesstaaten oder ein Kalifat erzwingen. In manchen Ländern Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens werden religiöse Minderheiten verfolgt. Ganz zu schweigen vom unlösbaren Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.

Meist steht zwar ein politischer Machtpoker im Zentrum der Auseinandersetzungen, doch Religion und Glauben liefern oft die Argumente und Emotionen, die den Fanatismus anheizen und Männer zu Gotteskriegern machen.

Das Konfliktpotenzial der Religionen erkannte der kämpferische Theologe Hans Küng schon vor über 20 Jahren und arbeitete mit der Stiftung Weltethos globale ethische Standards aus. 1993 verabschiedete das Weltparlament der Religionen in Chicago eine Erklärung von Küngs Stiftung. Die Leitideen: «Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen, und kein Friede unter den Religionen ohne einen Dialog zwischen den Religionen ohne gemeinsame ethische Werte und Standards.»

Hans Küng und seine Mitstreiter haben Grundwerte, moralische Haltungen und Verhaltensweisen aus vielen Religionen und Heilslehren analysiert und vier Grundregeln herausgefiltert: Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Gegenseitigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft von Mann und Frau.

Weltethos hoffte, dass die Religionen als Hüter von Ethik und Moral den Staaten und Gesellschaften universale Werte vermitteln und zur Befriedung der Welt beitragen würden. Der Ansatz war richtig, doch das Projekt ist weitgehend gescheitert. Denn manchen Religionen fehlt die Kompromissbereitschaft, um für gemeinsame Werte zu kämpfen. Denn jede Heilslehre erhebt den Anspruch, die einzig wahre Lehre zu vertreten. Der Absolutheitsanspruch verhindert eine wirkliche Ökumene, die über gemeinsame Gottesdienste hinausgeht.

Eines der Haupthindernisse: Weltethos vertritt vor allem westliche Werte, die radikale islamische Staaten und Gesellschaften nur bedingt teilen. Ausserdem sind Glaubensgemeinschaften Konkurrenten in einem religiösen Verdrängungswettbewerb. Christen – vor allem Katholiken und Freikirchen – missionieren selbst in radikalen islamischen Staaten und in China. Auf der anderen Seite expandiert der Islam im Westen. Respekt vor anderen Religionen sieht anders aus. Weltethos hat die richtige Vision, diese bleibt aber ein frommer Wunsch. Denn auch Religionen sind Machtgebilde, die Eigeninteressen verfolgen.

Niemand weiss, wo Gott ist

TA Korrektorat am Samstag, den 9. Mai 2015

Eine Replik von Josef Hochstrasser* auf den Text «Wo ist Gott?» von letzter Woche.

Hugo Stamm

Eine Frau während einer Trauerfeier für die Erdbebenopfer in Nepal. Foto: Reuters

Elend im Mittelmeer. Verzweiflung in Nepal. Nacktes Grauen in Auschwitz. Genozid an den Armeniern. Eine Todesspur ohne Ende zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Atheisten höhnen: Wo bleibt da Gott? Gläubige Monotheisten stellen dieselbe Frage. Ohne Spott, aber auch ohne eine Antwort zu bekommen.

Ein Paar bekommt ein schwerbehindertes Kind. Es wird nur wenige Jahre leben dürfen. Dann wird es sterben. Der Mann hadert mit Gott. Die Frau versucht anzunehmen, was sie nicht ändern kann und meint gelassen: Eine Laune der Natur!

Mit Gott hat das Schicksal dieser Familie rein gar nichts zu tun. Hätte er es verhindern können, aber dennoch zugelassen, wäre er ein Sadist. Oder ist er ein hilfloser Gott, ohne Macht und Möglichkeiten? Wäre er dann noch Gott? Fragen, die im 3. Jahrhundert v. Chr. schon den griechischen Philosophen Epikur umtrieben und mit Gottfried W. Leibniz vor dreihundert Jahren im Begriff der Theodizee populär wurden.

Biblische Geschichten erzählen vom Eingreifen Gottes in diese Welt. Den Israeliten etwa zeigt er in Form einer Wolkensäule den Weg durch die Wüste ins Gelobte Land. Warum aber liess er die Ägypter qualvoll im Meer ertrinken? War das gerecht von Gott? Ist er parteiisch? Gott kommt buchstäblich in Teufels Küche, wollte er fair in die Geschicke der Menschen eingreifen. Alle Erzählungen über ein Wirken Gottes in der Welt sind Deutungen, keine objektiven Berichterstattungen. Deshalb sind sie noch lange nicht belanglos. Im Gegenteil. Als Mythen schaffen sie Hoffnung und gesellschaftsformende Kraft.

Sich vom Glauben zu verabschieden, nur weil Gott sich nicht für alle Menschen einwandfrei nachvollziehbar ins Weltgeschehen einmischt, tut Gott Unrecht und ist bedauerlich. Die zweite Liedstrophe der sozialistischen Internationale weist den Weg: «Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.»

Das Erdbeben in Nepal hat tektonische Ursachen. Hier hat der Mensch nur sehr begrenzte Möglichkeiten, das Naturgesetz zu beeinflussen. Bei der aktuellen Tragik auf dem Mittelmeer aber ist er gefordert. Da hilft kein Schreien nach Gott. Das Flüchtlingselend ist nicht – Vorsicht ist auch bei dieser Vermutung geboten – gottgewollt. Die Migrationspolitik hat einzig und allein der Mensch zu verantworten. Christen stehen auch in diesem Fall vor der Frage, was sie im Namen Gottes tun sollen. Als Antwort bleiben ihnen nur Optionen. Die einen machen in Nächstenliebe und wollen möglichst alle Flüchtlinge retten und in Europa aufnehmen.

Andere greifen viel tiefer und sagen, die Weltgemeinschaft sei ethisch aufgerufen, die kriminellen Regimes einzelner afrikanischer Länder auszuschalten, damit die Menschen in ihrer Heimat ein Leben aufbauen können und erst gar nicht nach Europa zu fliehen brauchen. Welche christliche Handlungsmaxime ist nun im Sinne Gottes? Er wird weiter schweigen.

Gefordert ist in existenziell schwer zu ertragenden Momenten nicht der Hilfeschrei nach oben. Im Sinne Sigmund Freuds wäre dies ohnehin infantil. Heilend wirken kann nur menschliche Nähe und Solidarität.

hochstrasser_150*Josef Hochstrasser (68) war römisch-katholischer Priester. Nach seiner Heirat und dem folgenden Berufsverbot wurde er reformierter Pfarrer. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter die Biografie über den ehemaligen Fussballnationaltrainer Ottmar Hitzfeld.

Wo ist Gott?

Hugo Stamm am Samstag, den 2. Mai 2015
Devotee dressed as Hindu goddess Kali performs during a ritual as part of the annual Shiva Gajan religious festival at Pratapgarh

Eine Hindu bei einer Opferzeremonie für die Gottheit Shiva. Foto: Jayanta Dey, Reuters.

Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden, in Nepal rissen einstürzende Häuser Tausende in den Tod. Aus weltlicher Sicht gibt es einfache – wenn auch erschreckende Erklärungen: Die Not im Süden und der Wohlstand im Norden lassen die Welt kippen. Und beim Erdbeben erschütterten geologische Verwerfungen die Erdkruste. Die Erklärung für das Schreckliche ist oft schrecklich banal.

Gläubige monotheistischer Religionen suchen bei Tragödien auch religiöse Antworten. Strenggläubige Christen, Juden und Muslime interpretieren existenzielle Ereignisse oft aus spiritueller Warte. Als gütiger und allwissender Vater, der uns laut Bibel nach seinem Ebenbild geschaffen hat, greift Gott in ihrem Verständnis in den Weltenlauf ein. Wie in biblischen Zeiten, als er Abraham anleitete, seinen Sohn Isaak zu opfern – als Treuebeweis. Oder als er bei der Sintflut die Menschheit ertrinken liess, weil sie von ihm abgefallen war. Und schliesslich Hiob, den Gott mit mehreren Schicksalsschlägen überzog, um seine Festigkeit im Glauben zu testen.

Seit Jahrhunderten beschäftigt deshalb Gläubige die Frage: Weshalb lässt Gott das Elend zu? Wie hält er es aus, wenn unschuldige Kinder auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken? Kümmert es ihn nicht, oder kann er nicht eingreifen?

Diese Kernfragen der monotheistischen Religionen führen bei Gläubigen immer wieder zu Anfechtungen. Plausible Antworten haben weder Philosophen noch Theologen gefunden. Gottes Wege seien eben unergründlich, erklären Geistliche. Leidenden hilft die Antwort aber kaum.

Das Abseitsstehen Gottes widerspricht eklatant unserem Gerechtigkeitssinn und der Bibel, die die Nächstenliebe als hohes Gut interpretiert. Diese Nächstenliebe lässt Gott vermissen, wenn wir Menschen leiden. Auf vielen Kirchenbildern streckt er die Hand nach uns aus. Doch wo ist diese, wenn flüchtende Menschen ertrinken? Seine Absenz mit der Erbsünde zu erklären, macht erst recht ratlos.

Wir sind an unsere menschlichen Bedingungen gebunden, die unser Denken und Empfinden bestimmen. Nach diesen Kriterien ist die Abwesenheit Gottes nicht nachvollziehbar. Deshalb wenden sich viele Menschen vom Glauben ab.

Für uns sind die monotheistischen Religionen ein geistiger und religiöser Fortschritt, mit dem Animalismus und Pantheismus überwunden wurden. Aus psychologischer Sicht ist es aber vielleicht ein Rückschritt. Der Hinduismus zum Beispiel hat das Widersprüchliche und das Böse nicht verdrängt, im Götterhimmel hausen auch Dämonen. So ist Shiva nicht nur der Erneuerer, sondern gleichzeitig auch der Zerstörer. Deshalb können Hindu auch Erdbeben religiös erklären. Ein geschickter Schachzug, um das wohl grösste religiöse Paradox zu umgehen.

 

 

 

Beim Tod bleiben Geistliche sprachlos

Hugo Stamm am Samstag, den 25. April 2015
Hugo Stamm

Kardinal Rainer Woelki spricht an der Trauerfeier im Kölner Dom. Foto: Keystone

Der Tod ist ein Mysterium und überfordert uns Menschen heillos. Wir wissen, dass das Leben endlich ist, doch wir schaffen es nicht, ein Bewusstsein für den eigenen Tod zu entwickeln. Aus psychologischer Sicht sollten wir uns auf das Ableben vorbereiten. Wir brauchen aber den Überlebenstrieb, um Krankheiten besser zu überstehen, nicht in Depression zu versinken und die Arterhaltung sichern zu können. Ein Paradox, das wohl mit der Evolution zu tun hat.

Religionsgemeinschaften haben das komplexe Phänomen mit einem Kunstkniff gelöst. Mit der Wiedergeburt oder dem Leben nach dem Tod entwickelten sie eine These, mit der sie die Krux zu überwinden glaubten. Damit öffneten sie zwar ein Feld von weiteren Fragen und wohl auch Widersprüchen, doch sie gaben den Gläubigen Hoffnung, Sehnsucht und Trost, die der Angst vor dem Tod die Spitze brachen. Diese Heilslehre enthielt gleichzeitig ein Rezept gegen die narzisstische Kränkung, dass wir Menschen als «Krone der Schöpfung» nach dem Tod zu Staub zerfallen.

Das religiöse Konzept hat aber Schwachstellen, mit denen vor allem Geistliche in Extremsituationen zu kämpfen haben. Bei der Trauerfeier nach dem Flugzeugdrama der Germanwings in den französischen Alpen sagte Kardinal Rainer Woelki im Kölner Dom, Worte seien zu schwach, um zu trösten. Aber dass so viele Menschen in diesem Moment Mitleid und Beileid zeigten, «das soll Ihnen Trost sein». Konkret: Der Geistliche bot nicht Gott oder den Himmel als Trost an, sondern Mitmenschen. Das war mutig und ehrlich, wirft aber die Frage auf, ob ein Geistlicher in der schwersten Stunde des Lebens vieler Gläubiger keine religiösen Hilfestellungen bieten kann.

Bezeichnend war dann auch, dass kleine Holzengel, die auf den Kirchenbänken lagen, den Hinterbliebenen Halt und Zuversicht geben sollten. Trotz aller Trauer sollten die Engel ermutigen, nach Quellen der Kraft und Bestärkung zu suchen, sagte ein Notfallseelsorger. Gott und Jesus blieben aussen vor.

Konkret: Wenn Gläubige die Religion am nötigsten hätten, bleiben ihre Vertreter recht hilf- und sprachlos. Trost soll dann eine Holzfigur spenden.

Diese Ohnmacht kennt auch der pensionierte Pfarrer Eberhard Aebischer Crettol, der sich als Seelsorger mit Suizidfragen beschäftigt und Selbsthilfegruppen geleitet hatte. Im Buch «Sorge dich nicht!» (Rüffer-&-Rub-Verlag) sagt er: «Obwohl ich Pfarrer bin, habe ich in den Selbsthilfegruppen immer gesagt, der liebe Gott spiele hier keine Rolle.» Gott sei kein Lückenbüsser, dem die Verantwortung für das Unbegreifliche, also den Suizid, zugeschoben werden dürfe. Es sei vor allem bei kirchlich nicht sozialisierten Mitmenschen wichtig, «Gott auf dem schwierigen Weg der Trauer aus dem Spiel zu lassen». Bei Schicksalschlägen stossen die Kirchen an enge Grenzen.