Papst Franziskus zeigt ein Herz für Frauen, die abgetrieben haben. Seine Priester dürfen ein Jahr lang den Sünderinnen vergeben. Doch der Akt irritiert auch und wirft Fragen auf. Abtreibungen gehören aus christlicher Sicht zu den schweren Vergehen. Besonders die katholische Kirche und die Freikirchen kennen keine Gnade mit Frauen, die die Schwangerschaft abgebrochen haben. Für radikale Christen ist die Abtreibung eines Fötus Mord. Und somit eine Todsünde. Sie fragen nicht nach den Motiven. Ihr Bannstrahl trifft auch Frauen, die vergewaltigt wurden oder durch die Schwangerschaft am eigenen Leben gefährdet sind.
Alles Leben kommt von Gott, glauben sie. Wer es zerstört, pfuscht ihm ins Handwerk. Abtreibung ist für sie ein Akt wider die Schöpfung. Dabei berufen sie sich auf die Bibel. Nur: Weder das Alte noch das Neue Testament thematisieren den Schwangerschaftsabbruch. Nicht etwa, weil das Phänomen vor 2000 und mehr Jahren nicht bekannt gewesen wäre. Nein, auch damals wurde fleissig abgetrieben. Da strenggläubige Christen überzeugt sind, dass die Bibel von Gott inspiriert wurde, müssten sie zum Schluss kommen, dass er dem Schwangerschaftsabbruch keine grosse Bedeutung beimisst.
In ihrem Dilemma berufen sie sich auf das 6. Gebot, wonach der Mensch nicht töten soll. Doch das Töten ist besonders im Alten Testament ein sehr relativer Begriff. Denn Gott befiehlt seinem auserwählten Volk an diversen Stellen nicht weniger als das Töten. Die Ketzer sollen getötet werden. Auch ihre Kinder. Und generell alle Feinde des Volkes Israel.
In der Bibel wird auch nirgends die Frage erörtert, ob ungeborenes Leben mit dem Leben von ausgereiften Menschen gleichgesetzt werden könne. Hingegen heisst es, das Menschsein sei mit der Atmung und einer lebendigen Seele verknüpft. Die Bibel bewertet also den Fötus nicht als vollwertigen Menschen.
Noch mehr: Verschiedene Aussagen in der Bibel lassen den Schluss zu, dass es in bestimmten Lebenssituationen besser sei, nicht geboren worden zu sein.
Es mutet deshalb willkürlich an, wenn die katholische Kirche respektive der Papst bestimmen, wie schwer eine Abtreibung wiegt. Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass dieses Urteil in die göttliche Kompetenz fällt. Ausserdem ist die zeitliche Beschränkung der Vergebung ein Ablass, der Ungerechtigkeiten schafft. Was ist mit den Millionen Frauen, die vorher abgetrieben haben? Und was mit den Millionen, die es in Zukunft tun werden? Bleibt ihnen beim Jüngsten Gericht das Paradies verwehrt, weil sie zum falschen Zeitpunkt geboren wurden? Oder weil sie die Botschaft von der Vergebung nicht gehört haben? Solche Fragen zeigen die verstörend irritierenden oder irrationalen Aspekte und Widersprüche vieler Glaubensbereiche auf und lassen auch manche Gläubige ratlos zurück. Was der Papst als Akt der Barmherzigkeit versteht, offenbart auch ein Dilemma.