Wenn eine Himmelserscheinung für Hysterie sorgt

Hugo Stamm am Samstag, den 14. November 2015
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Dieses Licht befeuerte die Theorien der UFO-Fans. (Bild: Julien Solomita/Youtube)

Die UFO-Szene ist wieder einmal in heller Aufregung. Am vergangenen Samstag sichteten viele Amerikaner vor der Küste von Los Angeles eine mysteriöse Erscheinung. «Da ist ein UFO in Los Angeles. Ich bin so aufgeregt», twitterte sofort ein UFO-Fan. Die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Medien rasch um die Welt. Der bekannte amerikanische Videoblogger Julien Solomita schaltete ein Filmchen über die seltsame Himmelserscheinung auf, das inzwischen über 8 Millionen Mal angeklickt wurde.

Bereits über 8 Millionen Mal angeklickt: Das Video, das die seltsame Himmelserscheinung zeigt. (Video: Julien Solomita/Youtube)

Die UFO-Fans glaubten, endlich die Existenz von unbekannten Flugobjekten beweisen zu können, und die Apokalyptiker interpretierten die Himmelserscheinung als Auftakt zur Endzeit. Die grassierende Hysterie und Weltuntergangsstimmung bewogen das amerikanische Militär, das Rätsel aufzulösen. Die Marine habe eine Langstreckenrakete vom Typ Trident II getestet, liess sie in einer Medienerklärung verlauten. Der Flugkörper sei unbewaffnet gewesen und vom Atom-U-Boot USS Kentucky abgefeuert worden.

Der Vorfall ist ein Lehrstück in Sachen Aberglaube. Die UFO-Fans und Endzeitgläubigen haben ihre Antennen dauernd ausgefahren, um Beobachtungen, Phänomene und Erkenntnisse zu sammeln, die ihr Weltbild bestätigen. Dabei sind sie so stark darauf fokussiert, dass sie ihre Wahrnehmung einschränken und ihren Verstand knebeln. Kurz: Sie blenden alle Deutungsmöglichkeiten aus, die ihrer These widersprechen könnten. Ihr Bewusstsein wird von Sehnsucht, Hoffnung und (Aber-)Glaube bestimmt. Sie ordnen alles ihrer fixen Idee unter und blenden radikal aus, was nicht in ihr Denkschema passt. Vor allem verdrängen sie die naheliegendsten Antworten.

Ein solcher Aberglaube bedingt, dass die Gläubigen Informationen selektiv wahrnehmen. Kritischer Verstand und Vernunft werden unterdrückt. Nach diesem Muster legen sich auch die Weltverschwörungstheoretiker ihr politisches Weltbild zurecht.

Nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch der Aberglaube in esoterischen, spirituellen und religiösen Gruppen und Bewegungen. Radikale Gläubige haben Angst, Heilslehre und Praktiken ihrer Gemeinschaft zu hinterfragen, weil ihr Glaubenssystem ins Wanken geraten könnte. Dies würde auch ihre Identität und ihr Selbstverständnis tangieren. Denn es wird oft vergessen, dass der Aberglaube unser Bewusstsein umfassend prägt und auch Auswirkungen auf unser Denken, Empfinden und Verhalten im Alltag hat.

Ähnliche psychische und gruppendynamische Prozesse durchlaufen radikalisierte junge Leute, die mit den IS-Schergen in den heiligen Krieg ziehen. Sie erleiden Wahrnehmungsverschiebungen und Realitätsverluste und blenden aus, dass sie Täter in einem entsetzlichen Krieg gegen die Bevölkerung werden. In ihrer Euphorie erlöschen moralische und ethische Werte. Dabei realisieren sie nicht, dass sie ein indoktriniertes Instrument in den Händen ruchloser Terroristen und Mörder werden. Was sie als Freiheit empfinden, ist die radikalste Form von Abhängigkeit.

Junge Katholiken missionieren mit Esoterik

Blog-Redaktion am Samstag, den 7. November 2015
Missionieren mit Jenseitskontakten und Esoterik. (Bild: Wikipedia)

Missionieren mit Jenseitskontakten und Esoterik. (Bild: Wikipedia)

Esoterisches und spirituelles Gedankengut ist längst salonfähig geworden und hat sich ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Die seichten Medien bespielen das moderne Gesellschaftsritual regelmässig. Die «Glückspost» liefert beispielsweise in jeder Ausgabe zwei Seiten der esoterischen Salbaderei. Zunehmend finden spiritistische und okkulte Rituale den Weg in die Kirchen. So führte die reformierte Pfarrerin Renate von Ballmoos von der Prediger-Kirche in Zürich schamanische Kurse durch, und katholische Bildungsstätten locken das Publikum mit esoterischen Workshops an.

Doch nun überholt der katholische Treff für junge Erwachsene «Jenseits im Viadukt» in Zürich alle Institutionen auf der okkulten Spur: Er bot zu Allerheiligen Jenseitskontakte an. Und niemand in der katholischen Kirche schreit auf. Auch nicht der zuständige Bischof Vitus Huonder, der nichts von der Modernisierung der Kirche hält und sich als Hüter der reinen Lehre starkmacht. Lieber sperrt er Geistliche aus, die es wagen, homosexuelle Paare zu segnen. Dabei werden in der Bibel harte Strafen für jene angedroht, die sich dem Okkulten zuwenden.

So heisst es in im Alten Testament, jeder sei ein Gräuel für Gott, der die Toten befrage. Wer sich Totenbeschwörern und Wahrsagern zuwende, muss mit dem Tod rechnen.

Der katholische Treff hat kirchenferne junge Leute im Visier. Mit Jesus und der Bibel lassen sich diese nicht mehr ködern. Also versuchten es die Jenseits-Mitarbeiter mit esoterischem Brimborium. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Und so griff der katholische Treffpunkt in die ultimative okkulte Trickkiste: Er engagierte mit Alex Hurschler einen Hardcore-Esoteriker, der für die jungen Treff-Besucher Kontakte zu Toten herstellte.

Alex Hurschler will Kontakte ins Jenseits herstellen können. (Bild: Screenshot/Youtube/TeleTop)

Alex Hurschler will Kontakte ins Jenseits herstellen können. (Bild: Screenshot/Youtube/TeleTop)

Der Esoteriker entdeckte seine mediale Gabe, Kontakt zu Toten aufzunehmen, nach dem Tod seiner geliebten Schwester. Diese sei ihm erschienen und habe mit ihm gesprochen. Das erinnert an die Karriere von Uriella: Nach einem Sturz vom Pferd erschien ihr Jesus. Der innige Kontakt hält angeblich bis heute an.

Jenseitskontakte im «Jenseits» drängen sich zwar förmlich auf, doch junge Leute sind wohl das falsche Publikum. Die wenigsten haben verstorbene Angehörige, mit denen sie plaudern könnten. Das Ritual dürfte sie primär aus Neugier an einem okkulten Gruseln interessieren. Somit entpuppt sich die spiritistische Session als Missionsveranstaltung.

Da stellt sich die Frage, wie Jenseitskontakte funktionieren sollen. Wer an das Phänomen glaubt, kann geradeso gut die Überzeugung vertreten, die Erde sei eine Scheibe. Ein paar Fragen und Bemerkungen machen deutlich, dass das Ritual das Produkt von Sehnsucht, Einbildung und einer blühenden Fantasie ist.

Voraussetzung für einen Jenseitskontakt ist die Existenz einer Seele, die nach dem Tod weiterlebt. Bisher konnte niemand eine solche oder ein Leben nach dem Tod nachweisen. Falls es eine Seele gibt, müsste sie immateriell sein. Somit könnten sich Tote den Angehörigen kaum leiblich manifestieren. Das tun sie aber, wie Hurschler behauptet. Seine verstorbene Schwester sei plötzlich in seinem Zimmer gestanden.

Zu klären wäre weiter die Frage, wie Verstorbene aus dem Jenseits zur Erde dislozieren.

Offen ist auch die Frage, weshalb auch verstorbene Menschen mit einem langen Sündenregister den Hinterbliebenen erscheinen können. Denn nach biblischem Verständnis leben diese in einem Zwischenreich und warten auf das Jüngste Gericht. Bekommen sie ebenfalls Ausgang, um der Erde und ihren Angehörigen einen Besuch abzustatten?

Ungeklärt ist zudem, wie die Seelen der Verstorbenen kommunizieren können. Offenbar können sie sprechen, wie die Vermittler von Jenseitskontakten erklären. Das Erzeugen von Lauten ist ein physikalischer Vorgang, Seelen sind aber immateriell.

Unlogisch ist auch, weshalb nur wenige Leute Kontakt zu den Verstorbenen herstellen können. Esoteriker behaupten, es brauche dazu eine mediale Begabung. Eigentlich müsste man meinen, dass katholische Geistliche, die ihr Leben Gott weihen und in engem Kontakt zu ihm stehen, prädestiniert für Jenseitskontakte wären. Doch da ist nichts. Pfarrer und Bischöfe hüten sich, solche okkulte Rituale zu pflegen.

Sollte das Phänomen der Jenseitskontakte funktionieren, liesse es sich problemlos beweisen. Die Verstorbenen, die verschollen sind, müssten konkrete Angaben zum Standort ihrer Leiche machen können.

Das sind natürlich absurde Fragen und Bemerkungen. Aber sie demonstrieren, wie absurd der Glaube an Jenseitskontakte ist.

Der «Spiegel» nannte die Esoterik einst eine sanfte Verblödung. Analog dazu könnte man schliessen, die katholische Kirche trage beim Treffpunkt «Jenseits» zur Volksverdummung bei.​

Pater Pio und seine Pseudowunden

Blog-Redaktion am Samstag, den 31. Oktober 2015

In allen Religionen ist die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube fliessend. Da Kirchen die Hüter des Übersinnlichen sind, erliegen viele der Versuchung, die rote Linie zu überschreiten. Denn dort befindet sich das Reich der Wunder, das Gläubige elektrisiert. Ein Paradebeispiel ist der italienische Pater Pio, der den Aberglauben hemmungslos kultivierte und zelebrierte.

Neben den Päpsten ist Pater Pio in Italien und weit über die Grenzen des Stiefels hinaus die bekannteste katholische Kirchenfigur. Nach einer Umfrage der katholischen Zeitschrift «Famiglia Cristiana» beteten einst mehr italienische Gläubige zu Pater Pio als zu Jesus Christus oder der Mutter Gottes. Bis vor wenigen Jahren pilgerten auch mehr Gläubige zum Kapuzinerkloster von San Giovanni Rotondo, Apulien, der Stätte seines Wirkens, als zum Wallfahrtsort Lourdes. Auch nach seinem Tod 1968 riss der Pilgerstrom nicht ab.

Doch nun versiegt dieser allmählich, der Ort mit den unzähligen Hotels gleicht zeitweise einer Geisterstadt. Der Glanz des heiligen Popstars verblasst, die Karawane der Gläubigen zieht weiter. Auch der Glaube ist also nicht davor gefeit, Modetrends zu unterliegen. Oder haben sich die Gläubigen etwa emanzipiert?

Gründe gäbe es tatsächlich viele, Pater Pio in der Mottenkiste zu versenken. Denn der Geistliche war nicht nur eine schillernde Figur, er trickste und führte die Gläubigen hinters Licht. Trotzdem scheute sich die katholische Kirche nicht, Pater Pio fast in Rekordzeit heilig und selig zu sprechen. Damit machte sie sich zum Komplizen eines sehr fragwürdigen Geistlichen.

Der Pater spielte virtuos und erfolgreich auf der ganzen geistlichen PR-Klaviatur. Er gab sich demütig, operierte aber als Ich-AG. Mit angeblichen Wunderheilungen zog er die Kranken und Ängstlichen an und suggerierte, direkt mit Jesus kommunizieren zu können und mit entsprechenden Heilkräften aus dem Himmel versorgt zu werden. Staunen liess er seine Fans auch mit angeblich treffsicheren Prophezeiungen.

Die grösste Attraktion waren hingegen seine Stigmata. Das Phänomen begann 1910 mit Hautrötungen an den Händen. Er habe so sehr mit Jesus mitgelitten, dass sich Wundmale entwickelt hätten, liess er durchblicken. Das kam sogar dem Vatikan suspekt vor, weshalb er dem Padre manchmal verbot, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Zu den Skeptikern gehörte vor allem der italienische Historiker Sergio Luzzatto. Er wies nach, dass Pater Pio grosse Mengen Karbolsäure einkaufte und damit offensichtlich die Wunden verursachte. Pio bezog auch beträchtliche Mengen des Nervengifts Vertarin. Der Historiker vermutete, Pater Pio habe mit dem Nervengift die Schmerzen betäubt. Der Kapuzinerorden verteidigte hingegen ihren berühmten Bruder mit dem Argument, Pio habe die Karbolsäure Phenol gebraucht, um Spritzen zu reinigen.

Auf jeden Fall liess sich Pio nicht bremsen, im Lauf der Jahre traten auch an Brust und Füssen Stigmata auf und wurden immer tiefer. Und mit den wachsenden Pilgerströmen wurden die kritischen Stimmen immer leiser, zumal die Besucher der Region zu wirtschaftlichem Aufschwung verhalfen.

Als er 1999 selig- und 2002 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde, pilgerten Hunderttausende nach Rom. Die kritischen Stimmen – auch die innerkirchlichen – waren längst verstummt. Niemand interessierte sich mehr für die Recherchen des Historikers Luzzatto, die ergeben hatten, dass Pater Pio intime Beziehungen mit Frauen gepflegt und die faschistische Bewegung in Italien unterstützt haben soll.

Solche Kleinigkeiten kümmerten Papst Johannes Paul II. und die Kurie nicht im Geringsten. Hauptsache, sie hatten eine neue Gallionsfigur und medienträchtige Zeremonien bei der Selig- und Heiligsprechung mit Hunderttausenden von Besuchern. Es störte sie auch nicht, dass ihr Heiliger tief in die okkulte Trickkiste griff. So behauptete Pater Pio nach lupenreiner esoterischer Manier, die Gabe der Bilokation zu besitzen. Also gleichzeitig an verschiedenen Orten unterschiedlichen Personen erscheinen zu können. Dabei hat Jesus selbst vor okkulten Praktiken gewarnt.

Der Spuk ging weiter, nachdem Pater Pio gestorben war. «Auch nach seinem Tod erfolgen solche Erscheinungen», lesen wir auf der offiziellen Website über ihn. Dort sind auch die «Botschaften an die Welt» wiedergegeben, die Pater Pio seinen Anhängern aus dem Himmel übermittelt. Schon erstaunlich, was unter dem Dach der katholischen Kirche alles Platz findet. Nur die Wiederverheirateten müssen draussen bleiben, wenn die Kommunion verteilt wird.​

Es kitzelt im Schoss der katholischen Kirche

Hugo Stamm am Samstag, den 24. Oktober 2015
Keine Kommunion für «Sünder»: Der Churer Bischof Vitus Huonder mit einem unbekannten Begleiter, 2011. Foto: Arno Balzarini (Keystone)

Keine Kommunion für «Sünder»: Der Churer Bischof Vitus Huonder mit einem unbekannten Begleiter, 2011. Foto: Arno Balzarini (Keystone)

Morgen Sonntag geht die Familiensynode der Bischöfe in Rom zu Ende. Das geistliche Gremium hat unter anderem darüber debattiert, wie es die katholische Kirche in Zukunft mit den Wiederverheirateten und Homosexuellen halten will. Die Resultate sind noch nicht bekannt.

Aktuell sind Kirchenmitglieder, die homosexuell veranlagt, geschieden und wieder verheiratet sind oder die Pille schlucken in einer «irregulären Situation», wie es der Churer Bischof Vitus Huonder formulierte. Deshalb werden die «Sünder» von der Kommunion ausgeschlossen.

Die konservativen Bischöfe bemühen die Bibel, um ihre fundamentalistischen Positionen zu verteidigen. Mit Vorliebe verweisen sie auf die Bergpredigt, die für sie das moralische Kernstück des Neuen Testaments ist. In dieser Unterweisung setzte Jesus die ethischen Standards, auf die die christlichen Gemeinschaften stolz sind. So verlangte er unter anderem, der Mensch solle nicht töten und seine Feinde lieben. (Dass sein Vater dazu aufruft, die Ketzer und selbst deren Kinder zu töten, ist nur einer von vielen irritierenden Widersprüchen der Bibel.) Erstaunlich ist, dass nur der Evangelist Matthäus die Bergpredigt dokumentierte. Markus, Lukas und Johannes erwähnen sie nicht.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, was Jesus in der Bergpredigt zum Ehebruch sagt: «Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen» (Mt. 5.28). Die Aussage ist für die konservativen Bischöfe ein wichtiges Zeugnis, doch sie zeugt von wenig Menschenkenntnis. Jesus schätzte offensichtlich Kraft und Eigendynamik der Fantasie und der Sexualität falsch ein. Wie schwer diese zu kontrollieren sind, müssten gerade die katholischen Geistlichen aus eigener Erfahrung oder Anschauung wissen: Obwohl sie im Namen von Jesus geloben, zölibatär zu leben, pflegen viele von ihnen Beziehungen zu Frauen oder leben ihre Homosexualität oder ihre pädophilen Neigungen im Schoss der katholischen Kirche ziemlich hemmungslos aus.

Man kann Jesus vorwerfen, er sei weltfremd gewesen. Man muss ihm aber zubilligen, dass er die Bergpredigt vor rund 2000 Jahren hielt und trotz göttlichem Potenzial von tiefenpsychologischen oder unbewussten Phänomenen wenig Ahnung hatte. Wenn sich Geistliche aber heute noch auf den Standpunkt stellen, erotische Fantasien seien Sünde, eignen sie sich schlecht als Seelsorger. Dann haben sie noch nie ein Fachbuch gelesen oder das Eigenleben ihrer eigenen erotischen Fantasie und ihrer Regungen beobachtet.

Dabei ist es eine Binsenwahrheit: Wer seine Triebe unterdrückt, wird von ihnen eingeholt und möglicherweise übermannt. Es ist ja gerade eine kulturelle Entwicklung, dass wir lernen, verantwortungsvoll mit den Begierden umzugehen. Würden sich die Geistlichen in dieser Frage weniger an der Bibel orientieren, sondern an den psychologischen Erkenntnissen, käme es vielleicht zu weniger sexuellen oder pädophilen Übergriffen innerhalb der katholischen Kirche. Deshalb zeugt es von Doppelmoral, Homosexuelle zu stigmatisieren und Wiederverheiratete von der Kommunion auszuschliessen. Ganz zu schweigen vom Anachronismus, Frauen kirchliche Ämter zu verwehren.

Der Kreuzzug der Impfkritiker

Hugo Stamm am Samstag, den 17. Oktober 2015
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Wird von Verschwörungstheoretikern und Esoterikern kritisiert: Das Impfen. Foto: Gaëtan Bally/Keystone

Im Herbst stellen sich viele die Frage, ob sie sich gegen Grippe impfen lassen sollen. Statistiken zeigen, dass die Impfmüdigkeit wächst. So liess sich zuletzt nur jede sechste Pflegefachperson impfen. Über 80 Prozent nahmen also das Risiko in Kauf, ohnehin geschwächte Patienten anzustecken und allenfalls einer Todesgefahr auszusetzen. Mit einer Kampagne will der Kanton Zürich die Rate verbessern.

Die Gründe für die Impfverweigerung sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielen aber die radikalen Impfgegner, die mit ihren fragwürdigen Aktionen Verunsicherung und Ängste verbreiten. Sie sind gut vernetzt, viele stammen aus der Esoterikszene, bevorzugen Alternativmedizin oder gehören zu den Verschwörungstheoretikern. Sie verteufeln die Impfungen und verharmlosen Krankheiten. Ihre Argumente sind offensichtlich ansteckend.

Das gesellschaftliche und weltanschauliche Phänomen zeigt sich exemplarisch an einem aktuellen Fall in Deutschland. Der promovierte Biologe Stefan Lanka tingelt seit Jahren als Missionar wider das Impfen durch die Lande und hat mehrere Publikationen zum Thema verfasst. Er bestreitet in verschwörungstheoretischer Manier die Existenz von Viren, die Krankheiten erregen. Es gebe das Aids-Virus nicht, behauptet er, er leugnete auch die Vogelgrippe, und hinter der Schweinegrippe vermutete er eine Verschwörung der USA und der Weltgesundheitsorganisation. Radikale Impfkritiker und Esoteriker verehren ihn als mutigen Kämpfer gegen die Pharmaindustrie, die Schulmedizin und gegen die Mächtigen der Welt überhaupt, die die Menschheit für dumm verkaufen und manipulieren wollen.

So kam Stefan Lanka eines Tages auf die Idee, den Impfbefürwortern den Spiegel vor die Nase zu halten. 100’000 Euro bekomme, wer ihm die Existenz von Masernviren nachweisen könne. Als Biologe mit Doktortitel, der zum Thema molekularbiologische Untersuchung der Virus-Infektion bei Braunalgen promoviert hatte, fühlte er sich fachlich sattelfest.

Die Aktion ärgerte den deutschen Medizinstudenten David Bardens. Er stellte wissenschaftliche Studien zusammen und schickte sie Lanka. Bei den Abbildungen in den von Bardens zugesandten Masernstudien handle es sich keinesfalls um Viren, konterte der Biologe, sondern um künstlich hergestellte Bläschen. Triumphierend stellte er fest: «Die Tatsache, dass es wieder nicht gelungen ist, die Existenz der Viren zu belegen, zeigt, dass der Mainstream einem Irrtum aufsitzt.»

Konsequenterweise weigerte sich Lanka, das Preisgeld herauszurücken. Das liess sich Bardens nicht gefallen und klagte ihn ein. Im März dieses Jahres fand vor dem Landesgericht Ravensburg die Verhandlung statt. Lanka argumentierte, Masern sei eine psychosomatische Erkrankung. Menschen mit traumatischen Trennungen würden daran erkranken. Ähnlich abstruse Theorien vertreten auch die Anhänger der Neuen Germanischen Medizin.

Der Experte Andreas Podbielski vom Rostocker Institut für medizinische Mikrobiologie erklärte dem Gericht, die sechs von Bardens vorgelegten Studien würden sowohl die Existenz des Virus als auch seine Erreger-Eigenschaften beweisen. Es gebe insgesamt über 10’000 Fachartikel zum Thema, ergänzte der Experte.

Lanka legte Berufung ein. Trotzdem hätte er sofort das Streitgeld hinterlegen sollen. Da er dies nicht rechtzeitig tat, erliess das Amtsgericht kürzlich einen Haftbefehl. Ins Gefängnis musste er aber nicht, der Biologe überwies den Betrag vor der Verhaftung.

Es ist davon auszugehen, dass Lanka auch in zweiter Instanz verurteilt wird. Das dürfte ihn aber kaum daran hindern, an seiner Virus-Theorie festzuhalten. Denn sonst würde sein ganzes Weltbild in sich zusammenfallen, und seine Mission, die seinen Lebensinhalt bildet, ginge bachab.​

Lichtarbeit mit göttlicher Sexualität

Hugo Stamm am Samstag, den 10. Oktober 2015
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Das Zauberwort heisst Glaube: Ausschnitt aus dem Video «An alle Lichtarbeiter». (Bild: Screenshot Youtube/Gabriele Himmelsbotin)

Channeling und Lichtarbeit sind die Königsdisziplinen der Esoterik. Wer sich den beiden Methoden verschreibt, die zum höheren Selbst und zur Erleuchtung führen sollen, braucht viel Fantasie und den unbedingten Willen, den Lichtarbeitern und spirituellen Meistern Glauben zu schenken. Denn: Mit der gängigen Erfahrungswelt haben die beiden Disziplinen nichts zu tun. Die proklamierten Phänomene sind nicht plausibel und lassen sich schon gar nicht beweisen. Das Zauberwort heisst Glaube. Und Gläubige lassen sich von den versprochenen Wundern gern verzaubern.

Beim Channeling geht es um geistige Botschaften, die göttliche Geistwesen oder Avatare aus den jenseitigen oder kosmischen Sphären den medial begabten Esoterikern vermitteln. Einfach ausgedrückt: Menschen, die sich als medial begabte Meister verstehen, empfangen göttliche Botschaften. Also die letzten und unverrückbaren Weisheiten, die sie ihren Schülern oder Klienten weitergeben.

Komplizierter wird es beim Lichtkörper. Im kosmischen Licht sehen Esoteriker die göttliche Energie. Um diese zu nutzen, brauchen wir Menschen einen Lichtkörper. Durch Meditation und Kurse müssen wir uns transformieren und die Schwingungen erhöhen.

Das deutsche Medium Sabine Wolf formuliert es so: «Der Lichtkörperprozess ist die langsame, stufenweise Hochschaltung eures körperlichen Seins vom bindenden Magnetismus zur lösenden Elektrizität. Er ist die Wiederherstellung eurer geistigen Körper- und Lebensstruktur. In 12 Stufen wird das Netz nach Ablauf von 25 Jahren voll aktiviert sein. Dies ist der Lichtkörperprozess, der euch in kürzester Zeit in jene körperlich-geistige Freiheit zurückführt, die ihr in 12’000 Jahren verloren habt. Jede Lichtkörperstufe erhöht den kosmischen Strom im Erdmagnetgitter und aktiviert ein weiteres Kontingent eurer Zell- und DNS-Informationen sowie Gehirnkapazitäten – sie löst damit allerdings auch eine neue Heilkrise aus.» Im Porträt der Lichtarbeiterin heisst es: «Ab Juni 1995 erfährt Sabine Wolf erste bewusste Begegnungen mit Christus, einigen Erzengeln und Mutter Maria. Hier beginnt die persönliche Schulung durch geistige Wesenheiten.»

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Eine der bekanntesten Channeling-Spezialistinnen an der Arbeit: Cecilia Sifontes. (Bild: Screenshot Youtube/Cecilia Lightflow)

Eine der erfolgreichsten Channeling-Spezialistinnen ist das auch in der Schweiz tätige schwedische Orakel Cecilia Sifontes. Sie hat die Firma Lightflow Productions aufgebaut und erteilt weltweit ihre Seminare «Der neue Lichtkörper» – in diesem Jahr auch in China, Alaska, Südafrika, Zypern, Ägypten und Kasachstan. Sie selbst sieht sich als «ein ausserordentlich klarer spiritueller Kanal und eine hingegebene Lichtarbeiterin». Sie soll laufend neue Dimensionen erforschen, «um auf diese Art göttliche Qualitäten auf der Erde zu verankern, die Welt zu erleuchten und intergalaktische Kommunikation zu ermöglichen».

Diese Forschungsarbeiten haben erstaunliche Resultate erbracht, wie sie schreibt: «Diese kraftvollsten Lichtkammern wurden vor 4000 bis 5000 Jahren in Strukturen verborgen, welche Göttlichkeit abstossen. Sie wurden auf diese Weise verborgen, um die Manifestation des Planeten des Lichts zu verzögern, bis die Zeit reif sein würde. Jetzt haben wir schliesslich eine Ebene des Lichts im Erdgitter erreicht, die uns erlaubt, dieses wunderschöne Licht auf harmonische Weise freizusetzen. Mit grosser Aufregung werde ich dich in dieser Arbeit führen, welche im Herbst 2014 beginnen und im Frühjahr 2016 enden wird. Gemeinsam werden wir das Licht freisetzen, auf das die Menschheit gewartet hat.»

Unterstützt hat sie ein ausserirdisches Engelwesen namens Artee. Dieses besuchte Sifontes und überbrachte ihr die Botschaften des Lichts. Sie fasst es so zusammen: «Der Lichtkörper der Menschheit befindet sich im Moment in einem Prozess des Erwachens und der Aktivierung. Spirituelle Führer aus dem ganzen Multiversum rufen uns auf, zum Licht zu erwachen. Jeder Mensch besitzt einen Lichtkörper und es steht dir frei, unterschiedliches Licht in ihm aufzubauen, um spezifische Resultate damit zu erreichen. Der Neue Lichtkörper hält all die Frequenzen der Erleuchtung und Göttlichkeit, die für einen planetaren und individuellen Aufstieg ins Einssein nötig sind.»

Es überrascht nicht, dass der Aufstieg in die kosmischen Sphären nicht ohne Sex geht. Sifontes dazu: «Und das zeigt, dass du für die nächste Transformationsstufe bereit bist, für diese höchste Form an kreativer Energie, die göttliche Sexualität, welche in Zusammenarbeit der Quelle und der Seele der Menschheit erschaffen wird… Göttliche Sexualität ist eine sehr hohe Energie und hat das Potenzial, deinen Verstand vollständig zu transformieren und dich zu einem kreativeren Wesen zu machen. Sie verändert deine emotionalen Erfahrungen und hebt diese in die göttlichen Zustände des Seins an. Wenn du diese Energie in deinem Körper kanalisierst, wird dies viele Veränderungen bringen. Auf dem Gebiete der Sexualität wird sie deine Fähigkeit, während des Sex höhere Dimensionen zu erfahren, erhöhen.»

Wer das Seminar «Der neue Lichtkörper» besucht, muss einen Vertrag unterschreiben. Darin heisst es: «Ich verzichte auf alle Schadensansprüche, die sich auf meine Teilnahme am Seminar ‹Das Neue Lichtkörper-Jahresseminar 2015› beziehen, und entbinde Lightflow Productions AB, deren Mitarbeiter, Organisatoren, Lehrer und Gastredner von jeglicher Schadenshaftung.» In einem früheren Vertrag mussten die Kursteilnehmer unterschreiben, dass sie bereit seien, ihre alte Identität zu überwinden und quasi ein neues Wesen zu werden. Wörtlich: «Wenn du beginnst, mit dem neuen Lichtkörper zu arbeiten, dann gibt es kein Zurück mehr zu deiner alten Persönlichkeit, nur einen Weg nach vorn, um dein höheres Selbst auf der Erde zu werden. Ist dies dein Wunsch?» Im Vertrag wurde auch darauf hingewiesen, dass die Teilnehmer mit dem neuen Lichtkörper «eine Menge Spontanheilungen verursachen werden». Menschen würden allein dadurch geheilt, dass «sie in dein Energiefeld kommen».

Im aktuellen Vertrag werden die Seminarteilnehmer gewarnt: «Die Meditationen dieses Kurses können als ‹recht abgehoben› wahrgenommen werden. Daher ermutigen wir dich, nicht nur auf die Details dieser Reise zu fokussieren, sondern auch darauf, was in dir geschieht.» Das erinnert an die Warnungen auf den Zigarettenschachteln. Nur sterben die Seminarteilnehmer nicht, sondern verabschieden sich in die kosmischen Sphären und landen im Sektenreich.

Mission mit allen Mitteln

Hugo Stamm am Samstag, den 3. Oktober 2015
An edition of the Bible of the Russian Orthodox Church, pictured on October 17, 2009 in the Russian Orthodox Resurrection Church in Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella) Eine Ausgabe der Bibel der russisch-orthodoxen Kirche, aufgenommen am 17. Oktober 2009 in der russisch-orthodoxen Auferstehungskirche in Zuerich. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella)

Eine Ausgabe der Bibel der russisch-orthodoxen Kirche. Foto: Alessandro Della Bella, Keystone.

Religionsgemeinschaften halten ihren Glauben für den einzig wahren, er verkörpert also die unvergängliche und nicht relativierbare Wahrheit. Schliesslich reklamieren sie für sich, im Bund mit dem wahren Gott oder den wahren Göttern zu sein und von ihnen geleitet zu werden. Der Absolutheitsanspruch gehört unabdingbar zum Wesen eines Glaubens, der sich auf ein übersinnliches oder göttliches Wesen beruft.

Dabei tappen die Gläubigen in eine sprachliche Falle. Denn Glaube bleibt Glaube. Er kann nie den Anspruch auf Wahrheit erheben. Glaube bedeutet, etwas für wahr zu halten. Gewissheit gibt es im Glauben nicht, einen Gottesbeweis konnte noch niemand erbringen. Diese Tatsache sollten Glaubensgemeinschaften im Auge behalten, die missionarisch unterwegs sind – was auf die meisten zutrifft. Den Auftrag dazu leiten sie aus den Jenseitsbotschaften oder heiligen Schriften ab. Er entspricht aber auch einem individuellen, psychologisch erklärbarem Bedürfnis: Wer glaubt, die Wahrheit und das Heil gefunden zu haben, will es verständlicherweise verkünden und in  die Welt hinaustragen. Auf dass alle Menschen an der göttlichen Wahrheit teilhaben können.

In ihrem Eifer oder ihrer Euphorie vergessen sie aber gern, dass ihr Missionsdrang auch problematische Seiten hat. Das Missionieren von Un- oder Andersgläubigen brachte immer wieder viel Leid und Elend in die Welt. Urvölkern das Christentum aufzuzwingen, destabilisierte die sozialen Strukturen dieser Gemeinschaften. Ganz zu schweigen von der Unterdrückung der «Heiden» und den vielen Religionskriegen in der Vergangenheit. Aktuell erleben wir, wie unheilvoll die Macht- und Expansionsansprüche der Islamisten sind.

Auch die christlichen Glaubensgemeinschaften leben dem Missionsgedanken heute noch nach und betreiben weltweit Missionsstationen. Besonders aktiv sind Freikirchen, die selbst an gefährlichen Brennpunkten der islamischen Welt missionarisch unterwegs sind. Sie verhalten sich zwar meist zivilisiert und missionieren mit sanften Mitteln, konfliktfrei sind ihre Bestrebungen aber nicht immer.

Die Bibelübersetzer von Wycliff und SIL – vorwiegend unterstützt von freikirchlichen Gemeinschaften – dringen in die entlegensten Weltgegenden vor, lernen jahrelang die Minderheitssprachen und übersetzen die Bibel. Getreu des Auftrages von Jesus: «Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur.» (Markus 16:15)

Eine besondere Form der Verbreitung des Evangeliums betreibt die freikirchlich orientierte Gideon-Bewegung. Sie verteilt seit 116 Jahren die Bibel. In vielen Hotels und Gefängnissen liegen sie weltweit auf. Aktuell können die Gideons ein Jubiläum feiern: Sie haben zwei Milliarden Bibeln unter die Leute gebracht. Ebenfalls ein Jubiläum feiert die Agentur C. Das C steht für Christus. Sie wurde vor 30 Jahren vom Erfinder des Abflussreinigers Sipuro, Heinrich Rohrer, gegründet und verbreitet seither in Inseraten und auf grossen Plakaten Bibelsprüche wie «Werft alle Sorgen auf Gott! Er sorgt für Euch» oder «Alles kann ich durch Christus, der mir Kraft und Stärke gibt». In den drei Jahrzehnten brachte die christliche Agentur, die primär von Gläubigen aus Freikirchen finanziert wird, mehr als 90’000 Plakate an.

Der Aufwand solcher Missionsbestrebungen ist gross, Effekt und Nutzen eher bescheiden. Jesus würde der Agentur C vermutlich raten, die Hunderttausenden von Franken besser den Flüchtlingen zu spenden, die in Lagern zusammengepfercht sind und hungern. Schliesslich war ihr Idol einst auch auf der Flucht.

Die Mission gilt bei Gläubigen als besonders wertvolle, altruistische Tätigkeit. Psychologisch gesehen, trifft dies nur bedingt zu, denn der Missionar lebt mit der Genugtuung, seine ganze Schaffenskraft für Gott einzusetzen, für ihn allenfalls Gefahren in Kauf zu nehmen und sich somit fit für das Jüngste Gericht zu machen. Kurz: Wir Menschen brauchen stets Aussicht auf Erfolg, selbst auch in Glaubensfragen und beim Missionieren.​

«Der Mensch will Gott sein»

Hugo Stamm am Samstag, den 26. September 2015
(Voltage Pictures)

Naturgesetze infrage gestellt? Jared Leto als Transvestit in «Dallas Buyers Club». (Voltage Pictures)

Bei der aktuellen Diskussion zur Gender-Frage steigt der Puls von konservativen Katholiken und Gläubigen von Freikirchen rasch. Sie sehen die Ordnung Gottes in Gefahr und befürchten, die Menschheit rutsche in eine Dekadenz ab, wenn jede Form der Geschlechtlichkeit als natürlich betrachtet werde. Was Katholiken und Freikirchler als bedrohlich einstufen, ist für viele Protestanten ein Akt der Gerechtigkeit. Positionen und Einschätzungen könnten kaum weiter auseinander liegen.

So haben bei der Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften in Salzburg evangelische, orthodoxe und katholische Geistliche und Gläubige zum Widerstand gegen die Gender-Ideologie aufgerufen. In der «Salzburger-Erklärung» wehren sie sich dagegen, dass es neben Mann und Frau auch zahlreiche andere Formen geschlechtlicher Orientierung gebe. (www.ikbg.net)

Die religiöse Zeitschrift «Herder Korrespondenz» erklärt zum Genderismus, man rede «einer Vielfalt von Geschlechtern das Wort», in der es allein auf «persönliche sexuelle Orientierung» ankomme, die hetero-, homo-, bi-, trans- oder intersexuell sein könne. Damit stelle man Naturgesetze infrage, die seit Menschengedenken Gültigkeit hätten.

In der «Salzburger Erklärung» heisst es zudem, der Genderismus werte die göttliche Ordnung von Ehe und Familie massiv ab. Das Menschenbild in der Gender-Ideologie sei unvereinbar mit dem Menschenbild in der Bibel und den Ergebnissen unvoreingenommener Naturwissenschaft. Der Mensch sei als Ebenbild Gottes und als Mann und Frau erschaffen worden. Wörtlich: «Nicht nur Umwelt und Natur sind bedroht, sondern der Mensch selbst, wenn er entgegen den Schöpfungsordnungen Gottes lebt.» Wobei die «Salzburger Erklärung» neben dem Genderismus auch Abtreibung und Sterbehilfe erwähnt. Es vollziehe sich ein alarmierender Prozess der Abschaffung des Menschen. Dieser wolle wieder einmal sein wie Gott, heisst es in der Erklärung.

Die Mitglieder der Internationalen Konferenz protestieren energisch gegen den geradezu totalitären Versuch, «die Gender-Agenda durchzusetzen». Weiter verwahren sie sich gegen das von der Gender-Ideologie geplante Programm einer Umerziehung des Menschen.

Die Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften ist nicht etwa ein Zusammenschluss kleiner Kirchen, sondern ein hochrangiges Gremium. So haben mehrere Bischöfe und hohe Würdenträger der orthodoxen Kirche am Kongress teilgenommen. Und der Präsident des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen, der Schweizer Kardinal Kurt Koch, verfasste ein Grusswort.

Dabei geniesst Koch den Segen seines Chefs Papst Franziskus. Dieser hat dem österreichischen Weihbischof und Moraltheologen Andreas Laun geantwortet: «Die Gender-Ideologie ist dämonisch!» So jedenfalls schrieb es Laun in einem Artikel.

Diese beinahe militante Haltung kontrastiert mit der christlichen Einstellung der reformierten Kirche, die die Nächstenliebe ins Zentrum stellt. So hat die Evangelische Kirche in Hannover ein Studienzentrum für Gender-Fragen in Kirche und Theologie errichtet. Es geht der Kirche um die Vision von einer kirchlichen Gemeinschaft aus Frauen und Männern, in der sich jede und jeder unabhängig vom Geschlecht gleichberechtigt einbringen und entfalten könne.

Die verschiedenen christlichen Gemeinschaften stützen sich auf die gleiche Quelle, die Bibel. Sie berufen sich auf den gleichen Stifter, Jesus Christus. Geistig trennen sie aber Welten. Da überrascht es nicht, dass es weltweit religiöse Konflikte gibt.​

 

Krebs hat keine seelischen Ursachen

Blog-Redaktion am Samstag, den 19. September 2015
epa04881176 A pilgrim holds rosary beads during the annual pilgrimage to Fatima Sanctuary, Fatima, Portugal, 12 August 2015. Every year thousands of pilgrims head to Fatima Sanctuary to pray and pay their promises.  EPA/PAULO CUNHA

Gegen Krebs hilft keine Pilgerfahrt: Eine Pilgerin in Portugal. Foto: Paulo Cunha (Keystone)

Krebs ist der Inbegriff einer heimtückischen Krankheit, die existenzielle Ängste hervorrufen und reflexartig Assoziationen an den Tod provozieren kann. Jährlich sehen sich in der Schweiz gegen 35’000 Personen mit der Diagnose konfrontiert. Die Ohnmacht lässt viele Patienten verzweifeln. Und die meisten fragen sich: Warum hat es mich getroffen? Was habe ich falsch gemacht? Gläubige, die in religiösen Kategorien denken, haben Angst, die Krankheit könne eine Strafe Gottes oder eine Prüfung sein.

Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Krebspatienten neben der medizinischen Therapie auch Heiler und Handaufleger konsultieren oder alternativmedizinische Angebote in Anspruch nehmen. Sie sind überzeugt, dass Krankheiten mit seelischen oder spirituellen Blockaden einhergehen. Deshalb machen sie der Schulmedizin den Vorwurf, bei ihrer Therapie nur die Symptome zu bekämpfen, nicht aber die Ursache der Krankheit.

Ein Beispiel: Nächste Woche beginnt einer der weltweit bekanntesten Heiler, Deepak Chopra, eine 21-tägige Meditationsreihe. Dazu schreibt er, die Teilnehmer würden Wege entdecken, «wie du völlige Kontrolle über Körper und Geist gewinnen und jederzeit psychisch-physisches Wohlbefinden erreichen kannst». In der Ankündigung heisst es, Chopra verbinde wie kein anderer das Wissen des Westens mit der Weisheit des Ostens. «Als erfolgreicher Arzt stellte er fest, dass der westlichen Medizin die Seele fehlt. Daher machte er sich auf die Suche nach einer ganzheitlichen Medizin, die ihn bald in den Grenzbereich von Wissenschaft und Glauben führte, dem er sich bis heute mit Erfolg widmet.» Chopra habe über 75 Bücher geschrieben, die insgesamt 20 Millionen Mal verkauft worden seien.

Patricia Göttersdorfer, Vorstandsmitglied der österreichischen Plattform für Psychoonkologie, verneinte in einem Bericht seelische Zusammenhänge bei Krebs: «Es gab und gibt ganz viele Studien, die zeigen, dass es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und einer Krebserkrankung gibt.» Sie sage den Patienten, die Psyche sei nicht schuld, wenn sie an Krebs erkrankten. Menschen neigten dazu, ein Erklärungsmodell für ihre Erkrankung zu suchen. Ganz nach dem Motto: Es gibt doch einen Zusammenhang zwischen Seele und Krebs. «Und da muss man dann klar sagen: ‹Nein, es ist nicht so!›», erklärte Göttersdorfer.

Die Suche nach einer Erklärung für die Krankheit öffne Tür und Tor für abstruse Behandlungsmethoden, sagte die Psychotherapeutin. «Alles, was wir uns nicht erklären können, macht uns extrem hilflos. Das ist auch der Grund, warum Wunderheiler und Esoterikpraktiken so boomen oder warum Menschen immer wieder in Heilversprechungen flüchten und manchmal sogar sehr weite Reisen – wie etwa nach Lourdes – auf sich nehmen, um genau dieses Bedürfnis nach dem Sinn hinter der Krankheit zu befriedigen.»

Wenn Menschen mit ihren Gedanken allein gelassen würden, kämen sie oft auf unmögliche Zusammenhänge. Sie glaubten beispielsweise, dass Brustkrebs durch eine schlechte Ehe verursacht worden oder der Tumor durch eine schlechte Vaterbeziehung entstanden sei.

Die Erfahrung zeige aber, dass mithilfe von guten Gesprächen die Krebserkrankung für die Patienten erträglicher und klarer werde. Und dass sie besser mit den Folgen umgehen könnten.

Fazit: Seriöse Hilfsangebote können zwar nicht mit spektakulären Heilversprechen aufwarten, dafür den Patienten diffuse Ängste nehmen.​

Der Drogentrip der Homöopathen

Hugo Stamm am Samstag, den 12. September 2015
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Im Film «The Master» (2012) ist Freddie Quell (Joaquin Phoenix) einer Sekte mit ihren wilden Orgien und Sitzungen völlig ergeben. Screenshot: «The Master» (Youtube)

Rund um ein entlegenes Tagungszentrum bei Handeloh in der Lüneburger Heide spielten sich vor ein paar Tagen gespenstische Szenen ab. 29 Ärzte, Heilpraktiker und Homöopathen torkelten umher, getrieben von Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Krämpfen, Schmerzen, Atemnot und Herzrasen. Die Zentrumsleiterin alarmierte Polizei und Rettungskräfte. 160 Helfer rasten zum Unfallort, ein zusätzlicher Notarzt wurde mit dem Helikopter eingeflogen. Die Tagungsteilnehmer waren teilweise nicht ansprechbar. Die Rettungskräfte richteten ein Notlazarett ein und verteilten die Patienten auf die umliegenden Spitäler. Zwei Seminarteilnehmer befanden sich kurzfristig in akuter Lebensgefahr.

Die Ermittlungen ergaben, dass alle Tagungsteilnehmer die synthetische Droge 2C-E, ein Amphetamin, das auch unter der Bezeichnung Aquarust bekannt ist, eingenommen hatten. Nun rätselt halb Deutschland, wie sich ausgerechnet Ärzte und Heilpraktiker eine solche Amphetaminvergiftung zuziehen konnten. Die Medien spekulieren, ob ihnen jemand die verbotene Droge in den Tee geschüttet habe.

Es gibt eine plausiblere Erklärung: In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum eine grosse Szene gebildet, die sich der Psycholyse verschrieben hat, also der Drogentherapie. Ihre Anhänger glauben an esoterische oder spirituelle Heilsvorstellungen und sind überzeugt, dass Drogen die Türöffner ins Unbewusste oder zu einer magischen, übersinnlichen Welt sind. Deshalb gehören vor allem Naturheilpraktiker, Homöopathen und esoterisch verblendete Ärzte und Therapeuten zu dieser Szene.

Die Massenvergiftung von Handeloh passt in eine Reihe ähnlicher Vorfälle, die sich in den letzten Jahren im Rahmen psycholytischer Therapien ereignet haben. Am 19. September 2009 verabreichte der 50-jährige Arzt Garrik R. ­einem Dutzend seiner Klienten bei einer Psycholyse-Therapie Ecstasy. Plötzlich rutschten die Teilnehmer in einen Horrortrip ab. Sie halluzinierten, schrien, verdrehten die Augen, und Speichel lief ihnen aus dem Mund.

Garrik R. geriet in Panik, hatte aber Angst, die Ambulanz zu alarmieren. Als die ersten Klienten ins Koma fielen, löste er Alarm aus. Für einen 28-jährigen und einen 59-jährigen Mann kam jede Hilfe zu spät, ein weiterer Teilnehmer fiel zwei Wochen lang in ein Koma. Der Arzt hatte die Drogenrationen falsch dosiert. Garrik R. wurde zu 4 Jahren und 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Er war Schüler des Schweizer Psychiaters Samuel Widmer, der seit rund drei Jahrzehnten mit Drogen experimentiert. Widmer baute in Lüsslingen SO die Kirschblüten-Gemeinschaft mit rund 200 Anhängern auf, die sektenhafte Aspekte aufweist. Seine Anhängerschaft umfasst schätzungsweise mehrere Tausend Personen. Schon rund 2500 Klienten haben an den Drogensitzungen teilgenommen. Viele von ihnen hat er zu Psycholyse-Therapeuten ausgebildet. Etliche führen nun selbstständig die verbotenen Drogentherapien durch.

Ein weiterer Vorfall ereignete sich am 13. März 2009 in Widmers Zentrum in Lüsslingen selbst. Bei einer Psycholyse-Ausbildung mit rund 60 Teilnehmern lief die Sitzung aus dem Ruder. Mehrere Personen zeigten Vergiftungserscheinungen und erlebten einen Horrortrip. Ein paar Teilnehmer wurden mit Valiumspritzen behandelt, wie Aussteiger berichten. Als Co-Therapeut amtete der Berliner Arzt Garrik R.

Ein ähnlicher Zwischenfall ereignete sich auch bei einer Drogensitzung in Zürich, die die Ärztin F. M. und ihr Ehemann, ein bekannter Wirtschaftsanwalt, leiteten. Als bei der Polizei eine Strafanzeige einging, setzte diese das Paar im Dezember 2009 in Untersuchungshaft. Die Ärztin hatte jahrelang viele Psycholyse-Sitzungen mit Ecstasy und LSD durchgeführt.  F. M. wurde zu einer 16-monatigen bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Auch sie war Schülerin des Psychiaters Samuel Widmer.

Nicht genug: Am 27. April 2014 nahm S. B. in Begleitung einer Freundin eine Substanz ein, wie sie es von ihren jahrelangen Psycholyse-Therapien und der Therapeutenausbildung bei Widmer gewohnt war. Sie bekam unerträgliche Kopfschmerzen und fiel in einen komatösen Zustand. Ihre Begleiterin suchte telefonisch Rat bei einer Therapeutin von Widmer, die auf Migräne tippte. Als sich der Zustand nicht verbesserte, rief die Freundin nach 50 Stunden den Notarzt. Im Spital diagnostizierten die Ärzte einen schweren Hirnschlag und zwei grosse Hirnblutungen, die von den Subs­tanzen ausgelöst worden waren.

Im vergangenen März führte die Solothurner Staatsanwaltschaft eine Razzia bei Widmer durch und eröffnete ein Strafverfahren gegen ihn und drei seiner Helfer, weil sie mutmasslich gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen haben. Ausserdem durchsuchte die Polizei am 29. August erneut die Räume von Widmer. Will die deutsche Polizei rasch verstehen, was sich im Tagungszentrum von Handeloh abgespielt hat, müsste sie sich wohl mit der Solothurner Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen.​