Archiv für die Kategorie ‘Weltreligionen’

Die Kehrseite der Karma-Lehre

Hugo Stamm am Dienstag den 7. Januar 2014
(AP/Ajit Solanki)

Ein indischen Mädchen feiert Diwali, das hinduistische Lichtfest, 11. November 2012. (AP/Ajit Solanki)

Wie in den meisten asiatischen Ländern, ist der Aberglaube auch in Indien stark verbreitet. Es gibt eine ganze Industrie, die den Leuten bei irgendwelchen Problemen Hilfe der andern Art verspricht. Man trifft Glücksversprecher sogar in öffentlichen Bussen. Während der Fahrt bequatschen sie – wie bei uns die Verkäufer von Gemüseschälern an der Züspa – die Fahrgäste mit einem rhetorischen Feuerwerk. Sie verkaufen die abstrusesten Dinge, die bei bestimmten Sorgen helfen sollen: Tinkturen, Orakelsprüche, heilige Gegenstände, Broschüren mit Glücksrezepten und vieles mehr.

An den Strassen sieht man auch die Wahrsager und Handleser, die den Passanten die Zukunft vorhersagen und angeblich weise Ratschläge erteilen.

In erster Linie tragen die Inder aber ihre Sorgen und Nöte in die hinduistischen Tempel. In der Hoffnung natürlich, die Götter milde zu stimmen und von ihnen Unterstützung zu erhalten. Es gibt in den Tempeln auch viele Rituale und Opferzeremonien, bei denen die Gläubigen ihre Wünsche deponieren können. Im Vordergrund dürften verständlicherweise existenzielle Probleme bestehen, ist doch die Armut immer noch weit verbreitet. Die Gläubigen erhoffen sich aber auch Hilfe bei Krankheiten und Unfruchtbarkeit, die für die Betroffenen ein grossen Unglück darstellt. Ein Ehepaar, das keine Kinder bekommt, ist sozial stigmatisiert. Dabei ist in ländlichen Gegenden völlig klar, dass das Manko bei der Frau liegt. Im Norden passiert es auch heute noch, dass unfruchtbare Frauen getötet werden – ohne zu prüfen, ob es vielleicht am Mann liegt.

Dass die Götter nicht helfen wollen oder nicht können, liegt eigentlich auf der Hand. Denn in kaum einer andern Gegend der Welt glauben die Leute so intensiv und inbrünstig. Wenn Götter irgendwo auf der Welt wirken und direkte Hilfe leisten würden, dann müssten sie es in Indien tun.

Trotzdem leisten sie Hilfe, auch wenn sie keinen Finger krümmen. Sie spenden Trost und Hoffnung. Diese Hoffnung hilft vielleicht, das schwere Schicksal etwas besser zu ertragen. Erfüllen wird sich die Hoffnung aber nicht. Somit ist der Glaube, die Götter würden helfen, selbst ein Aberglaube. Einer, der für die Tempel und Priester sehr lukrativ ist. Die Spenden sind beträchtlich, denn ohne Obolus geht bei den Göttern erst recht nichts. Dieser Aberglaube freut die Tempelpriester, die gut daran verdienen.

Begünstigt wird der Aberglaube in Indien auch durch den Umstand, dass ein ganzes Heer von Göttern Schlange steht. Jede Gottheit steht für einen bestimmten Lebensbereich. Somit gibt es hunderte Gründe, Opfer zu bringen und Rituale durchzuführen.

Den Gläubigen wäre wohl mehr geholfen, wenn sie die Zeit und das Geld, das sie in die Pflege des Aberglaubens investieren, nutzen würden, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Doch hier funkt die Karmatheorie ins Leben, die verlangt, dass man sich mit dem Schicksal abfindet, das einem gegeben ist. Es gilt, das schlechte Karma aus einem früheren Leben abzutragen, obwohl die Menschen kein Bewusstsein darüber haben, was sie damals verbrochen haben sollen. Ein weiterer Aspekt, der zeigt, dass der Glaube das Leben behindern kann.

Die Vertreter der höheren Kasten sorgen dafür, dass die Unberührbaren nicht aufmucken und unten gehalten werden. Sie sind die Profiteure dieses autoritären Systems. Sie können ihre Privilegien ungehindert ausleben, ihre Vormachtstellung auskosten und billige Arbeitskräfte rekrutieren. So hilft der Glaube, ein Unrechtssystem zu zementieren, statt es mit ethisch-religiösen Prinzipien zu bekämpfen. Die Religion macht sich zum Komplizen der herrschenden Kasten, statt für Gerechtigkeit zu sorgen.

Wenn sich spirituelle Sucher aus dem Westen fasziniert mit dem Hinduismus und der indischen Götterwelt befassen und sich vielleicht am Werk der Mahabarata ergötzen, ist das zweifellos ein fesselndes geistiges Abenteuer. Sie täten aber gut daran, auch die Kehrseite der religiösen Traditionen zu bedenken.

Kopftuch in der Schule

Hugo Stamm am Montag den 27. Februar 2006

Seit dem Streit um die Karikaturen von Mohamed ist die Frage nach der Integration von Moslems in der westlichen Welt aktueller denn je. An Stammtischen wird lautstark gefordert, die Zuwanderer sollen entweder unsere Gepflogenheiten übernehmen oder sich wieder dorthin verziehen, wo sie hergekommen sind.

So einfach geht das nicht. Moslems haben selbstverständlich das Recht, ihre Religion auszuüben und Bräuche zu pflegen. Wenn sie allerdings unerbittlich an der religiösen Pflichtenlehre Scharia festhalten, dann klaffen unüberbrückbare Klüfte zwischen unserem freiheitlichen gesellschaftlichen Konzept und der moslemischen Weltanschauung.

Die individuelle Freiheit ist ein Grundpfeiler unseres Selbstverständnisses. Strenggläubige Moslems leben aber ihre Dogmen nicht nur in der Mosche oder beim Gebet, sondern wenden die Glaubensgrundsätze auch im Alltag konsequent an, wie es die Scharia verlangt. Die islamischen Gesetze gelten auch in gesellschaftlichen Belangen als Richtschnur. Es gibt keine Trennung von säkularer und religiöser Welt.

Unser westlicher Lebensstil widerspricht vor allem bei den moralischen Vorstellungen der Scharia. Für strenggläubige Moslems ist unsere Gesellschaft ein Ort der permanenten Versuchung und Verführung. Das erklärt auch, weshalb sich viele Moslems gegen die Integration in unsere „sündige Welt“ wehren. Aus ihrer Sicht ist das auch verständlich. Es macht deshalb wenig Sinn, die älteren Einwanderer „bekehren“ zu wollen.

Anders sieht es meines Erachtens bei ihren Kindern aus, die hier zur Schule gehen. Sie wachsen in unsere Kultur hinein. Deshalb sollten wir von ihren Eltern verlangen, dass sie unsere Gepflogenheiten wenigstens teilweise akzeptieren. Dazu gehören beispielsweise der Turnunterricht und das Klassenlager. Wenn andersgläubige Schüler nicht daran teilnehmen dürfen, werden sie ausgegrenzt. Und Kinder haben nun mal den gesunden Drang, zur Gemeinschaft zu gehören und akzeptiert zu werden. Die Lehrer sollten unbedingt mit den Eltern sprechen und ihnen die negativen Konsequenzen aufzeigen.

Ich bin auch dagegen, dass Mädchen in der Schule ein Kopftuch tragen. Sie werden dadurch noch mehr zu Aussenseitern. Und wenn sie und ihre Eltern erleben, dass man auch ohne Kopftuch ein guter Moslem sein kann, wird die Selbstverantwortung gestärkt. Sie lernen eher, Entscheide zu fällen und nicht alle Handlungsanweisungen aus der Scharia zu beziehen. Vielleicht setzt ganz sanft ein Bewusstseinsprozess ein. Und die Kinder stellen zu Hause Fragen, die sich strenggläubige Moslems nie zu stellen wagen. Die Eroberung der Freiheit ist immer ein schmerzhafter Prozess. Man kann aber das Freiheitsbewusstsein trainieren wie einen Muskel. Und nach jedem Muskelkater steigt die Leistung. Und die Freude über die neu gewonnene (geistige) Autonomie. Das gilt aber nicht nur für Moslems, sondern für uns alle. Denn wer nicht ständig für die Freiheit kämpft, kann sie eines Tages verlieren, ohne es zu realisieren.