
Ein indischen Mädchen feiert Diwali, das hinduistische Lichtfest, 11. November 2012. (AP/Ajit Solanki)
Wie in den meisten asiatischen Ländern, ist der Aberglaube auch in Indien stark verbreitet. Es gibt eine ganze Industrie, die den Leuten bei irgendwelchen Problemen Hilfe der andern Art verspricht. Man trifft Glücksversprecher sogar in öffentlichen Bussen. Während der Fahrt bequatschen sie – wie bei uns die Verkäufer von Gemüseschälern an der Züspa – die Fahrgäste mit einem rhetorischen Feuerwerk. Sie verkaufen die abstrusesten Dinge, die bei bestimmten Sorgen helfen sollen: Tinkturen, Orakelsprüche, heilige Gegenstände, Broschüren mit Glücksrezepten und vieles mehr.
An den Strassen sieht man auch die Wahrsager und Handleser, die den Passanten die Zukunft vorhersagen und angeblich weise Ratschläge erteilen.
In erster Linie tragen die Inder aber ihre Sorgen und Nöte in die hinduistischen Tempel. In der Hoffnung natürlich, die Götter milde zu stimmen und von ihnen Unterstützung zu erhalten. Es gibt in den Tempeln auch viele Rituale und Opferzeremonien, bei denen die Gläubigen ihre Wünsche deponieren können. Im Vordergrund dürften verständlicherweise existenzielle Probleme bestehen, ist doch die Armut immer noch weit verbreitet. Die Gläubigen erhoffen sich aber auch Hilfe bei Krankheiten und Unfruchtbarkeit, die für die Betroffenen ein grossen Unglück darstellt. Ein Ehepaar, das keine Kinder bekommt, ist sozial stigmatisiert. Dabei ist in ländlichen Gegenden völlig klar, dass das Manko bei der Frau liegt. Im Norden passiert es auch heute noch, dass unfruchtbare Frauen getötet werden – ohne zu prüfen, ob es vielleicht am Mann liegt.
Dass die Götter nicht helfen wollen oder nicht können, liegt eigentlich auf der Hand. Denn in kaum einer andern Gegend der Welt glauben die Leute so intensiv und inbrünstig. Wenn Götter irgendwo auf der Welt wirken und direkte Hilfe leisten würden, dann müssten sie es in Indien tun.
Trotzdem leisten sie Hilfe, auch wenn sie keinen Finger krümmen. Sie spenden Trost und Hoffnung. Diese Hoffnung hilft vielleicht, das schwere Schicksal etwas besser zu ertragen. Erfüllen wird sich die Hoffnung aber nicht. Somit ist der Glaube, die Götter würden helfen, selbst ein Aberglaube. Einer, der für die Tempel und Priester sehr lukrativ ist. Die Spenden sind beträchtlich, denn ohne Obolus geht bei den Göttern erst recht nichts. Dieser Aberglaube freut die Tempelpriester, die gut daran verdienen.
Begünstigt wird der Aberglaube in Indien auch durch den Umstand, dass ein ganzes Heer von Göttern Schlange steht. Jede Gottheit steht für einen bestimmten Lebensbereich. Somit gibt es hunderte Gründe, Opfer zu bringen und Rituale durchzuführen.
Den Gläubigen wäre wohl mehr geholfen, wenn sie die Zeit und das Geld, das sie in die Pflege des Aberglaubens investieren, nutzen würden, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Doch hier funkt die Karmatheorie ins Leben, die verlangt, dass man sich mit dem Schicksal abfindet, das einem gegeben ist. Es gilt, das schlechte Karma aus einem früheren Leben abzutragen, obwohl die Menschen kein Bewusstsein darüber haben, was sie damals verbrochen haben sollen. Ein weiterer Aspekt, der zeigt, dass der Glaube das Leben behindern kann.
Die Vertreter der höheren Kasten sorgen dafür, dass die Unberührbaren nicht aufmucken und unten gehalten werden. Sie sind die Profiteure dieses autoritären Systems. Sie können ihre Privilegien ungehindert ausleben, ihre Vormachtstellung auskosten und billige Arbeitskräfte rekrutieren. So hilft der Glaube, ein Unrechtssystem zu zementieren, statt es mit ethisch-religiösen Prinzipien zu bekämpfen. Die Religion macht sich zum Komplizen der herrschenden Kasten, statt für Gerechtigkeit zu sorgen.
Wenn sich spirituelle Sucher aus dem Westen fasziniert mit dem Hinduismus und der indischen Götterwelt befassen und sich vielleicht am Werk der Mahabarata ergötzen, ist das zweifellos ein fesselndes geistiges Abenteuer. Sie täten aber gut daran, auch die Kehrseite der religiösen Traditionen zu bedenken.