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Holocaust als karmischer Ausgleich

Hugo Stamm am Samstag den 21. Februar 2015
Hugo Stamm

Amerikanische Soldaten und Häftlinge stehen hinter dem Tor des Konzentrationslagers Buchenwald (April 1945). Foto: AFP

Die Reinkarnationsvorstellung, oft gekoppelt an die Karmatheorie, hat ihre Wurzeln primär in den fernöstlichen Glaubensvorstellungen. Diese religiöse Idee, vor allem im Hinduismus und Buddhismus zu finden, ist sehr alt, hat eine fatalistische Komponente und passt schlecht in ein modernes Weltbild. Heute bauen wir das Zusammenleben, die gesellschaftlichen Ordnungen und Gesetze darauf auf, dass der Einzelne ein autonomes Wesen ist, das für sein Tun die Verantwortung trägt.

Das Konzept von der Wiedergeburt geht hingegen davon aus, dass Menschen Einflüssen ausgesetzt sind, die angeblich mit früheren Leben zu tun haben oder auf kommende ausstrahlen. Zwei Beispiele: Gute Taten im aktuellen Leben können zu einer Belohnung im nächsten führen. Fromme Hindus denken dabei gern an einen Aufstieg im Kastensystem. Oder: Wer in einem früheren Leben jemanden umgebracht hat, muss damit rechnen, dass er später selbst Opfer eines Verbrechens wird, auch wenn er ein vorbildliches Leben führt. Ein solch fatalistisches Weltbild lässt sich schlecht mit modernen psychologischen, sozialen oder pädagogischen Erkenntnissen oder Grundsätzen vereinbaren.

Dass dieser Glaube in Indien fortlebt, weil er einer alten Tradition entspricht, lässt sich einigermassen nachvollziehen. Dass aber heute im Westen Millionen von Menschen die Idee in ihr Weltbild integriert haben, muss als geistiger, kultureller und religiöser Rückfall gewertet werden. Zu verdanken haben wir diesen anachronistischen Rückschritt der modernen Esoterik, die inzwischen weite Gesellschaftskreise durchdrungen hat.

Dieses Beispiel zeigt, welch problematische Auswirkungen esoterische Ideen auf die Geisteshaltung vieler Menschen im Westen heute haben. Die Esoterik westlicher Ausprägung kultiviert das magische Denken und den Aberglauben. Es ist der Glaube an übersinnliche Geistwesen und Verstorbene, mit denen man angeblich kommunizieren kann, der Glaube an Elfen und Einhörner, an die Idee eines raschen spirituellen Paradigmawechsels, der aus uns egozentrischen Menschen sanfte Wesen machen soll.

Wie fatal der Glaube an die Karmatheorie und ihre esoterischen Modifikationen ist, hat uns der Esoteriker Trutz Hardo demonstriert. In seinem Buch «Jedem das Seine» (in Anlehnung an die Torinschrift im Konzentrationslager Buchenwald) wollte er nachweisen, dass die Karmaidee sich auch an einem extremen Beispiel wie dem Holocaust «beweisen» lässt. Der Autor behauptet, die ermordeten Juden hätten sich ihr Schicksal im Dritten Reich ausgesucht, da sie sich in früheren Leben ähnlicher Verbrechen schuldig gemacht hätten. Ist das Dummheit? Vielleicht. Mit Sicherheit aber esoterische Verblendung.

Die Kehrseite der Karma-Lehre

Hugo Stamm am Dienstag den 7. Januar 2014
(AP/Ajit Solanki)

Ein indischen Mädchen feiert Diwali, das hinduistische Lichtfest, 11. November 2012. (AP/Ajit Solanki)

Wie in den meisten asiatischen Ländern, ist der Aberglaube auch in Indien stark verbreitet. Es gibt eine ganze Industrie, die den Leuten bei irgendwelchen Problemen Hilfe der andern Art verspricht. Man trifft Glücksversprecher sogar in öffentlichen Bussen. Während der Fahrt bequatschen sie – wie bei uns die Verkäufer von Gemüseschälern an der Züspa – die Fahrgäste mit einem rhetorischen Feuerwerk. Sie verkaufen die abstrusesten Dinge, die bei bestimmten Sorgen helfen sollen: Tinkturen, Orakelsprüche, heilige Gegenstände, Broschüren mit Glücksrezepten und vieles mehr.

An den Strassen sieht man auch die Wahrsager und Handleser, die den Passanten die Zukunft vorhersagen und angeblich weise Ratschläge erteilen.

In erster Linie tragen die Inder aber ihre Sorgen und Nöte in die hinduistischen Tempel. In der Hoffnung natürlich, die Götter milde zu stimmen und von ihnen Unterstützung zu erhalten. Es gibt in den Tempeln auch viele Rituale und Opferzeremonien, bei denen die Gläubigen ihre Wünsche deponieren können. Im Vordergrund dürften verständlicherweise existenzielle Probleme bestehen, ist doch die Armut immer noch weit verbreitet. Die Gläubigen erhoffen sich aber auch Hilfe bei Krankheiten und Unfruchtbarkeit, die für die Betroffenen ein grossen Unglück darstellt. Ein Ehepaar, das keine Kinder bekommt, ist sozial stigmatisiert. Dabei ist in ländlichen Gegenden völlig klar, dass das Manko bei der Frau liegt. Im Norden passiert es auch heute noch, dass unfruchtbare Frauen getötet werden – ohne zu prüfen, ob es vielleicht am Mann liegt.

Dass die Götter nicht helfen wollen oder nicht können, liegt eigentlich auf der Hand. Denn in kaum einer andern Gegend der Welt glauben die Leute so intensiv und inbrünstig. Wenn Götter irgendwo auf der Welt wirken und direkte Hilfe leisten würden, dann müssten sie es in Indien tun.

Trotzdem leisten sie Hilfe, auch wenn sie keinen Finger krümmen. Sie spenden Trost und Hoffnung. Diese Hoffnung hilft vielleicht, das schwere Schicksal etwas besser zu ertragen. Erfüllen wird sich die Hoffnung aber nicht. Somit ist der Glaube, die Götter würden helfen, selbst ein Aberglaube. Einer, der für die Tempel und Priester sehr lukrativ ist. Die Spenden sind beträchtlich, denn ohne Obolus geht bei den Göttern erst recht nichts. Dieser Aberglaube freut die Tempelpriester, die gut daran verdienen.

Begünstigt wird der Aberglaube in Indien auch durch den Umstand, dass ein ganzes Heer von Göttern Schlange steht. Jede Gottheit steht für einen bestimmten Lebensbereich. Somit gibt es hunderte Gründe, Opfer zu bringen und Rituale durchzuführen.

Den Gläubigen wäre wohl mehr geholfen, wenn sie die Zeit und das Geld, das sie in die Pflege des Aberglaubens investieren, nutzen würden, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Doch hier funkt die Karmatheorie ins Leben, die verlangt, dass man sich mit dem Schicksal abfindet, das einem gegeben ist. Es gilt, das schlechte Karma aus einem früheren Leben abzutragen, obwohl die Menschen kein Bewusstsein darüber haben, was sie damals verbrochen haben sollen. Ein weiterer Aspekt, der zeigt, dass der Glaube das Leben behindern kann.

Die Vertreter der höheren Kasten sorgen dafür, dass die Unberührbaren nicht aufmucken und unten gehalten werden. Sie sind die Profiteure dieses autoritären Systems. Sie können ihre Privilegien ungehindert ausleben, ihre Vormachtstellung auskosten und billige Arbeitskräfte rekrutieren. So hilft der Glaube, ein Unrechtssystem zu zementieren, statt es mit ethisch-religiösen Prinzipien zu bekämpfen. Die Religion macht sich zum Komplizen der herrschenden Kasten, statt für Gerechtigkeit zu sorgen.

Wenn sich spirituelle Sucher aus dem Westen fasziniert mit dem Hinduismus und der indischen Götterwelt befassen und sich vielleicht am Werk der Mahabarata ergötzen, ist das zweifellos ein fesselndes geistiges Abenteuer. Sie täten aber gut daran, auch die Kehrseite der religiösen Traditionen zu bedenken.