Urteil im Misshandlungsprozess (Fernsehbeitrag vom 4. August 2014). Video: Bayerischer Rundfunk/Youtube
Was wiegt schwerer: Das Wohl von Kindern oder die Religionsfreiheit? Die Antwort sollte klar sein, müsste man meinen. Ein Fall in Deutschland zeigt aber einmal mehr, dass die Glaubensfreiheit eine der letzten heiligen Kühe ist.
Eine Esoterikerin zieht mit ihrem zwölfjährigen Sohn zu ihrem Lebenspartner, der als «Guru von Lonnerstadt» bekannt ist und in Erlangen-Höchstadt, Mittelfranken, lebt. Der Knabe leidet unter der unheilbaren Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose, bei der Schleim die Lunge verstopft. Er bräuchte dringend medizinische Betreuung und Medikamente. Der Guru verspricht dem Knaben Heilung durch Diät und Meditation. Oft muss er morgens um vier Uhr aufstehen und meditieren. Doch er magert um fast die Hälfte ab, die Lunge wird geschädigt.
Nach drei Jahren flüchtet der Knabe zu seinem leiblichen Vater. Dank medizinischer Betreuung erholt er sich allmählich. Später klagt er seine Mutter und den Guru, der sich als «Lehrer der zeitlosen Weisheit» bezeichnet, an.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth kam zum Schluss, dass der Jugendliche ohne ärztliche Hilfe bald gestorben wäre. Es verurteilte die beiden wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen zu je drei Jahren Gefängnis. Sie rekurrierten dagegen.
Die fünf Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe wollten ihr Urteil in diesen Tagen verkünden, verschoben den Entscheid aber. Der Grund: Sie sind sich noch nicht einig, ob sie das Wohl des Kindes oder die Religionsfreiheit höher einstufen sollen.
Der Vorgang ist symptomatisch. In letzter Zeit gab es mehrere Ereignisse, bei denen die Religionsfreiheit überstrapaziert wurde. So auch bei den Prozessen um die christliche Sekte der zwölf Stämme in Deutschland. Obwohl die Gläubigen regelmässig Kleinkinder mit Stöcken züchtigten, wie es im Alten Testament empfohlen wird, wurde mit der Glaubensfreiheit argumentiert. Diese spielte auch bei den Scientologen in Basel eine Rolle: Weil die Sekte kürzlich im Sinne des Arbeitsgesetzes als Religionsgemeinschaft eingestuft wurde, erhielt sie die Bewilligung, am Sonntag ihr Zentrum zu öffnen und Kurse zu erteilen.
Heute sind es vor allem problematische Minderheitsgruppen, die die Religionsfreiheit für sich beanspruchen und Privilegien erzwingen. Sie machen den Gesetzgeber zum Gehilfen ihrer fragwürdigen Absichten, Leute zu täuschen und in ihre Abhängigkeit zu ziehen. Dabei kehren sie den ursprünglichen Sinn der Glaubensfreiheit um: Diese wurde einst in der Verfassung verankert, um den einzelnen Bürger vor dem Staat und den Religionsgemeinschaften zu schützen. Dieser sollte die Freiheit bekommen, Glaube und Religion frei wählen zu können.
Solche Repression kommt in unserer säkularisierten Gesellschaft kaum mehr vor. Deshalb ist es unverständlich, dass wir heute noch diskutieren müssen, ob das Kindeswohl höher einzustufen sei als die Religionsfreiheit.
Dokumentation von Phoenix TV über die Sekte des «Gurus von Lonnerstadt» (Doku Deutsch/Youtube)