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Martyrium bei den Missionaren im Dschungel

Hugo Stamm am Dienstag den 23. Juli 2013
Wurde als «auserwähltes Mädchen» bedroht und missbraucht: Christina Krüsi. Bild: Sophie Stieger

Wurde als «auserwähltes Mädchen» bedroht und missbraucht: Christina Krüsi. Bild: Sophie Stieger

Freikirchlich Gläubige werden unablässig mit einer stereotypen Botschaft berieselt: Wer Jesus in sein Herz aufnimmt oder sich vor der Gemeinde zum christlichen Gott bekennt, steht unter seinem besonderen Schutz. Im «Fenster zum Sonntag» auf SRF 1 treten immer wieder Gläubige auf, die von ihren Erlebnissen mit Gott oder Jesus erzählen. Diese haben ihnen Botschaften übermittelt, die ihnen halfen, eine Krankheit zu überwinden, ein Geschäft erfolgreich aufzubauen, in der Missionsarbeit gefährliche Situationen heil zu überstehen usw. Auch in der Zeitschrift idea/spektrum kommen immer wieder Leser zu Wort, die berichten, wie Jesus ihnen in Krisen geholfen und sie beschützt habe. Auch die freikirchlichen Prediger und Pastoren berichten in ihren Predigten gern, wie Gott und Jesus direkt ins Leben der (Recht-)Gläubigen wirkten. Die Botschaft ist ebenso unmissverständlich wie ziemlich weltlich: Wer an den (richtigen) Gott glaubt, geniesst seine besondere Aufmerksamkeit und wird von ihm durch die Stürme des Lebens geführt und begleitet.

Wer aber die Geschichte von Christina Krüsi liest, die sie im Buch «Das Paradies war meine Hölle» verarbeitet hat, fragt sich, wo denn der (freikirchliche) Gott war, als die Missionare reihenweise über sie hergefallen sind. Hier der Artikel über eine Begegnung mit Christina Krüsi:

Ihr herzhaftes Lachen hallt durch die ganze Wohnung. Christina Krüsi sitzt zufrieden in ihrer hellen Stube in Winterthur, umgeben von ihren selbst gemalten Bildern, als seien die traumatischen Kindheitserlebnisse ein Kapitel aus vergangenen Tagen. Doch nun holen sie die Erinnerungen aus Bolivien wieder ein. Immer wieder muss sie Medienleuten ihre Geschichte erzählen. Warum tut sie sich das an?

Warum nimmt sie die Leser mit nach Tumi Chucua zu den Tacana-Indianern in den tiefen Dschungel von Bolivien, wo sie als kleines Mädchen von christlichen Missionaren «auserwählt wurde»? Jahrzehntelang hat sie ihre Geschichte verdrängt aus Angst, niemand würde ihr glauben. Jahrzehntelang war sie nie richtig angekommen im Leben. Wer würde es schon für möglich halten, dass in der heilen Welt einer entlegenen Missionsstation gleich mehrere Gottesmänner über sie und andere Mädchen und Jungen herfallen könnten?

Die Aufarbeitung begann vor elf Jahren. «Beim Joggen verlor ich plötzlich meine Stimme», erzählt sie. «Es war ein Schock, doch ich wusste, dass der Zusammenbruch mit meiner Kindheit zu tun hatte.» Unter seelischen Krämpfen holte sie sich ihre Stimme wieder zurück. Sie wusste: Sie braucht sie, um nicht länger Opfer zu sein. Um die Vergangenheit abzuschütteln und das Unrecht, das man ihr und den andern Kindern angetan hatte, in die Welt hinauszutragen. Damit sich das, was die frommen Täter ihr auf der «Insel der Palmen» (Tumi Chucua) angetan hatten, nicht mehr wiederholen würde.

Im Buch beginnt die Reise durch das Leben der Christina Krüsi im Paradies. Im bolivianischen Urwald erlebt sie eine idyllische Kindheit. In einem Indianerdorf fernab der Zivilisation, wo ihr Vater die Bibel in die Sprache der Chiquitano-Indianer übersetzt, blüht das temperamentvolle Mädchen auf und tollt mit den Indianerkindern herum. «Es waren für uns weisse Kinder wirklich paradiesische Lebensumstände», sagt sie.

Hölle an Halloween

An Halloween – Christina ist sechs Jahre alt – bricht für sie aber über Nacht die Hölle los. Sie freut sich auf das Fest mit den gruseligen Gespenstern und Masken, das die amerikanischen Missionare von Wycliff, einer freikirchlichen Organisation, welche die Bibel in Minderheitssprachen übersetzt, im Missionarscamp feiern wollten. Auch wenn es nicht so recht ins christlich-fromme Umfeld passt. Christina muss wie die andern Kinder nachts einem Seil folgend einen Parcours durch den dunklen Wald absolvieren. Als «auserwähltes Mädchen» wird sie in einen Hinterhalt gelockt und rutscht in ein Loch. Dort wird sie Opfer eines sexuellen Übergriffs.
Das ist der Beginn einer Leidenszeit, für die der Begriff Hölle eine harmlose Umschreibung ist. Jahrelang wird sie von mehreren amerikanischen Missionaren verfolgt, genötigt und sexuell missbraucht. Einmal wird sie Zeugin eines rituellen Kindsmordes. Niemand merkt es: weder die Eltern, die Lehrer – einer beteiligt sich gar an den Übergriffen – noch die Missionsleitung. «Die pädophilen Täter drohten mir: ‹Wenn du den Mund nicht hältst, können deine Eltern die Bibel nicht übersetzen. Dann kommen alle Indianer in die Hölle, und du bist schuld›», erzählt sie. So schweigt das Mädchen eisern und leidet. Christina behält das Geheimnis auch später für sich, weil sie überzeugt ist: Mir würde niemand glauben. Mit einem Suizidversuch will die Zehnjährige dem Leiden ein Ende bereiten, im letzten Moment wird sie gerettet.

Missbrauch bestätigt

Christina Krüsi entschuldigt die Täter aus religiösen Gründen, verbannt die Erlebnisse in die Abgründe ihrer Seele. Bis eben 2002, als sie im Alter von 34 Jahren ihre Sprache verlor. «Ich war längst wieder in der Schweiz und wusste, dass ich endlich über meine Kindheitserlebnisse reden musste, um mich aus meinem inneren Gefängnis zu befreien», sagt sie.

Krüsi spricht mit ihren Eltern, fühlt sich aber nicht verstanden. Solche Schandtaten im Umfeld einer freikirchlich geprägten Missionsstation und quasi unter ihren Augen: undenkbar. Das Verhältnis zu den Eltern ist massiv erschüttert. Die Täter schienen recht zu haben, dass ihr niemand glauben würde. Dann öffnet sie sich vorsichtig ihrer Freundin Gudrun Ruttkowski, mit der sie später ihre Lebensgeschichte aufschreibt. Als Mal für ihr Leiden kann sie die beiden Schnitte auf der Innenseite ihres Knies vorzeigen, die die Täter ihr und anderen Kindern als Zeichen des «Auserwähltseins» zugefügt hatten.

Ein Jahr später dann die «Erlösung». Krüsi bekommt einen Brief von Wycliff Amerika. Zwei andere Opfer hatten sich gemeldet und auch Christinas Namen genannt. Bald wird das Ausmass des systematischen Verbrechens klar. 17 Opfer schildern detailliert die Übergriffe und nennen Namen der Täter.

«Wir sind zutiefst betrübt»

2004 lädt Wycliff die Opfer zu einem Treffen in die USA ein. Bei den emotionellen Begegnungen wird das monströse Ausmass der sexuellen Ausbeutung erst richtig klar. Für Christina Krüsi ein erster Schritt zur Befreiung. Doch dann stockt die Aufarbeitung. Wycliff erstellt zwar Berichte und übergibt sie den Behörden, doch es passiert nichts. Alles verjährt, vernimmt Krüsi. Die Täter kommen ungeschoren davon, einer arbeitet weiterhin als Lehrer.

Krüsi verarbeitet die seelischen Wunden mit dem Malen von grossen, farblich kräftigen Bildern und dem Schreiben von Tagebüchern. Sie ist inzwischen geschieden und hat Probleme, sich und ihre beiden Söhne, die das Gymnasium besuchen, finanziell über die Runden zu bringen. Sie klopft bei Wycliff an und bekommt etwa zwei Jahre lang einen sehr kleinen monatlichen Beitrag, um ihr eigenes Studium mitzufinanzieren. Im Gegenzug muss sie unterschreiben, keine Forderungen mehr zu stellen. Das findet sie heute mehr als schäbig.

«Wir sind zutiefst betrübt darüber, dass Christina Krüsi und ihrer Familie so viel Ungerechtigkeit und Leid widerfahren ist», erklärt Hannes Wiesmann, Leiter von Wycliff Schweiz. Der Fall habe zur Sensibilisierung und zu neuen Richtlinien geführt. Neue Mitarbeiter müssen seither eine Onlineschulung durchlaufen, Kinder würden mit einem Video aufgeklärt und sensibilisiert. Ausserdem werden seither mutmassliche Täter im Einsatz- und Herkunftsland angezeigt. Christinas Eltern glauben ihrer Tochter heute. «Sie verstehen aber immer noch nicht, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin.»

Kinderbuch zur Aufklärung

Wie konnte es zu den jahrelangen systematischen Übergriffen durch mehrere Mitarbeiter der Missionsstation kommen? Niemand weiss es. Auch Hannes Wiesmann von Wycliff nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass sich in der Missionsstation mit den rund 300 Mitarbeitern ein Ring von Pädophilen gefunden hat, angeführt vom Schulleiter.

Die Situation blieb für Christina Krüsi, die bis vor kurzem als Schulleiterin arbeitete und nun als Künstlerin und Konfliktmanagerin tätig ist, unerträglich. Weil sie die Täter nicht belangen konnte, wollte sie wenigstens mit dem Buch die Öffentlichkeit aufklären. Ausserdem gründete sie eine Stiftung, um Projekte zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu finanzieren. Das erste Projekt war ein Kinderbuch mit dem Titel «Chrigi und Nanama – Dschungelfreunde», das nächste ist die Verfilmung des Buches.

Beim Abschied an ihrer Wohnungstür wird noch einmal klar, dass Christina Krüsi nicht nur ihre Stimme wiedergefunden hat, sondern auch ihr kräftiges, fröhliches Lachen.

Sind nur Katholiken wahre Christen?

Hugo Stamm am Mittwoch den 3. Juli 2013
Bischof Huonder an der Veranstaltung «Miteinander Kirchen bauen», 2. Juni 2013. Keystone/Steffen Schmidt)

Bischof Vitus Huonder an der Veranstaltung «Miteinander Kirchen bauen», 2. Juni 2013. Keystone/Steffen Schmidt)

Was unterscheidet einen Christen von einem anderen Christen? Nichts, sollte man meinen. Ein Christ ist ein Christ. Er glaubt an Gott, an Jesus, seinen Sohn und an die Bibel, die den Rahmen des Glaubens absteckt und die Dogmen vorgibt.

Wenn man aber das Trauerspiel und das ökumenische Abendmahl in der Kirche von Gfenn bei Dübendorf vom vergangenen Wochenende betrachtet, wird klar: Ein Christ ist eben nicht ein Christ. Er ist ein Orthodoxer, ein Katholik, ein Protestant. Dazwischen klaffen Welten.

Konkret: Der erzkonservative Churer Bischof Vitus Huonder verbot zwei katholischen Geistlichen durch die Blume, an der Versöhnung der Christen beim ökumenischen Abendmahl teilzunehmen. Denn für die konservativen Kirchenoberen in Chur und im Vatikan sind nur die Katholiken wahre Christen. Die beiden Katholiken wussten zwar, dass für Huonder ein ökumenisches Abendmahl des Teufels ist, sie wollten aber ein Zeichen zur Versöhnung der christlichen Kirchen setzen. Doch sie knickten schliesslich unter dem Druck von Chur ein und nahmen nicht am gemeinsamen Abendmahl ein.

Die Ökumene ist das wichtigste Instrument zur Verständigung zwischen den christlichen Gemeinschaften. Seit Joseph Ratzinger die Kirchenpolitik prägte, harzt es erst recht bei den ökumenischen Bemühungen. Der deutsche Papst anerkannte die andern Gemeinschaften schlicht nicht als Kirchen an. Damit sät die katholische Kirche Zwietracht und signalisiert, dass sie sich als die einzig legitime oder wahre christliche Kirche versteht.

Wie soll auf der Welt religiöser Friede entstehen, wenn es nicht einmal die zivilisierten Christen in der Schweiz schaffen, gemeinsam das Abendmahl zu feiern? Hier zeigt der Glaube seine hässliche Seite: Es geht um Alleinanspruch auf den vermeintlichen richtigen christlichen Glauben, Macht von oben, egozentrische Ansprüche und Selbstherrlichkeit.

Wenn die katholische Kirche weiterhin einen solchen Absolutheitsanspruch stellt, ein derartiges Machtgebaren an den Tag legt und die Einheit der Christen untergräbt, manövriert sie sich weiter ins Abseits und verliert zusätzlich an Einfluss und Glaubwürdigkeit. Die Freikirchen wird’s freuen. Wenn sich die grossen christlichen Kirchen nicht zu einer gemeinsamen Kultur finden, werden diese auch bei uns ihr Territorium ausweiten. Wie in Afrika und Südamerika.


Was hat Jesus in der Hölle zu suchen?

Hugo Stamm am Freitag den 21. Juni 2013
hs andrea da firenze 1365

Hat Jesus in der Hölle gepredigt? Oben: Fresco von Andrea Da Firenze (1365).

Eine der zentralen Botschaften der Bibel an die Gläubigen lautet: «Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.» (Matthäus 28:19) Bei diesem Missionsauftrag geht es darum, die Bedingungen für die Wiederkunft von Jesus zu erfüllen. Konkret: Der Jüngste Tag kann erst anbrechen, wenn der ganzen Menschheit das Evangelium verkündet worden ist. Das biblische Gebot führte denn auch zur flächendeckenden Missionierung bis in die letzten Winkel dieser Erde. Die Ethnologen und Missionare von Wycliff übersetzen deshalb die Bibel in viele Minderheitssprachen von Papua-Neuguinea bis ins Amazonas-Gebiet.

Laut Bibel muss also eine Person das Evangelium kennen, um am Jüngsten Tag erlöst zu werden. Doch was passiert mit den Buddhisten, Hindus, Moslems, den Vertretern von Minderheits- und Naturreligionen? Und was mit dem auserwählten Volk der Juden, die bekanntlich Jesus nicht als Heiland anerkennen? Darüber streiten Theologen und Geistliche seit langem. Sie klopfen die Bibel nach entsprechenden Botschaften ab oder suchen bei Luther nach Erklärungen. Befriedigende Antworten haben sie bisher nicht gefunden.

Noch schwieriger wird es bei der Frage, was am Jüngsten Tag mit den Menschen passiert, die in vorchristlicher gelebt haben. Sie hatten gar nie die Chance, das Evangelium zu vernehmen. Werden sie in die Hölle verbannt? Hatten sie einfach Pech, zur falschen Zeit geboren worden zu sein? Werden sie dafür bestraft?

Weil die Bibel keine eindeutige Antwort gibt, ist der Spielraum für Interpretationen gross.

Die Frage wird auch beim Glaubensbekenntnis aufgenommen. So beten an Gottesdiensten viele Gläubige Sonntag für Sonntag, Christus sei hinabgestiegen in das Reich des Todes. In einer früheren Version hiess es sogar, er sei niedergefahren zur Hölle. Der Grund ist klar: Er verkündete dort den Toten das Evangelium.

Das wirft aber Fragen auf. Verbrachten und verbringen Ungläubige also Jahrzehnte oder Jahrhunderte «unschuldig» in der Hölle und litten unnötig Qualen? Was ist mit ihnen passiert, nachdem ihnen Christus das Evangelium verkündet hatte? Sind sie ins Fegefeuer oder eine Sphäre der Reinigung aufgestiegen? Das ist aber immer noch nicht der Ort, in dem man ausharren möchte, bis der Jüngste Tag anbricht. Schliesslich klingt Fegefeuer auch nicht nach einem Ort, wo Milch und Honig fliessen.

Für viele Bibelkenner überwiegt im Glaubensbekenntnis die frohe Botschaft: Rettung gibt es auch für die Insassen der Hölle, denn Gottes Arm reicht bis ins Totenreich. Es besteht also auch für jene Hoffnung auf Erlösung, die vor unserer Zeitrechnung lebten oder nie von Christus oder Gott gehört haben.

Trotzdem bleibt ein grundsätzliches Unbehagen. Menschen, die in vorbiblischer Zeit gelebt haben, müssen sich ungerecht behandelt fühlen. Gott schuf eine Zweiklassengesellschaft: Die ahnungslosen und mit der Hölle bestraften Urahnen und die privilegierten Zeitgenossen. Als Unterprivilegierter würde ich mich fragen, ob Gott nicht ein System hätte finden können, bei dem die Menschen aller Zeiten die gleichen Chance gehabt hätten.

Reformator Martin Luther hat die Krux ebenfalls erkannt und in einer Predigt vor Spitzfindigkeiten gewarnt. Sinngemäss sagte er, man soll nicht zu stark darüber grübeln und sich an die Botschaft halten, dass Jesus dem Satan die Macht genommen habe. Dies täuscht aber nicht darüber hinweg, dass wir in einer zentralen Frage der christlichen Heilslehre keine befriedigenden Antworten erhalten.

Der lange Schatten von Ratzinger

Hugo Stamm am Dienstag den 12. Februar 2013
Papst Benedikt XVI. auf seiner Sommerresidenz Castelgandolfo. (Bild: Reuters)

Hinterlässt ein schweres Erbe: Papst Benedikt XVI. auf seiner Sommerresidenz Castelgandolfo. (Bild: Reuters)

Papst Benedikt geht zweifellos in die Geschichte der katholischen Kirche ein. Doch die Nachwelt wird sich kaum an herausragende Leistungen während seines Pontifikats erinnern, sondern an das Ende seiner Amtszeit: Wir werden ihn als Papst in Erinnerung behalten, der zu Lebzeiten das Handtuch geworfen hat. Das hat letztmals ein «Stellvertreter Gottes» vor 700 Jahren geschafft. Deshalb war der Überraschungscoup perfekt: Ausser Kirchenexperten wussten wohl nur wenige, dass ein Papst freiwillig zurücktreten kann. Schliesslich haben wir noch in bester Erinnerung, wie sein Vorgänger Johannes Paul II. geistig und körperlich zerfiel und gegen Ende seiner Amtszeit und seines Lebens kaum mehr fähig war, sein Amt vernünftig auszuüben.

Um dem Kirchenvolk und der Weltöffentlichkeit einen weiteren zerfallenden Greisen im Vatikan zu ersparen, traf der eitle Ästhet Benedikt einen weisen Entscheid. Ausserdem war es auch ein taktisch kluger Entschluss: Er lenkt später einmal in der Rückschau davon ab, dass Benedikt für die katholische Kirche ein Hypothek war. Als dünnhäutiger Schöngeist reagierte er bisweilen pikiert, wenn er angegriffen wurde. Gleichzeitig fehlte ihm die Einsicht für seine Fehltritte, sein Zaudern, seine Weltfremdheit. Da waren die Missbrauchsskandale, die er zögerlich anging. Ja, er war mitschuldig an der jahrelangen Vertuschung der sexuellen Übergriffe seiner Angestellten, die sich weltweit an Kindern vergingen. Weiter zeigte der Vatileaks-Skandal, dass im Innern des Machtzirkels keine klerikale Friedfertigkeit herrscht, sondern Intrigen, Neid, Missgunst den Alltag prägen. Kein schönes Sittenbild vom Hauptsitz des Stellvertreter Gottes.

Ausserdem war der ehemalige Professor ziemlich tolpatschig. Er verärgerte mit seinen Aussagen den Islam und war auch nicht sehr einfühlsam im Umgang mit den Juden. Dafür liebte er es, sich als Purpurträger in Szene zu setzen. Der Vatikan war für ihn die Welt. Was seine Schäfchen draussen im rauen Kampf um die Existenz erlebten, schien ihn wenig zu kümmern. Hauptsache, er konnte die reine katholische Lehre – oder was er dafür hielt – bewahren. Kondom und Pillen waren pfui – auch wenn er Gefahr lief, mit seiner weltfremden Sexualmoral der Aids-Verbreitung Vorschub zu leisten.

Benedikt hinterlässt seiner Nachwelt ein schweres Erbe. Er hat zusammen mit Johannes Paul II. dafür gesorgt, dass die katholische Kirche weiter in ihrer Starre verharrt. Die beiden konservativen Hardliner haben alle rund 120 wählbaren Kardinäle unter 80 Jahren ernannt und somit für eine geistig-religiöse Inzucht gesorgt. Der neue Papst wird also ein Stellvertreter Christi von den Gnaden Wojtylas und Ratzingers sein. Die beiden letzten Päpste werden also Kirchengeschichte über ihren Tod hinaus schreiben.

Somit darf man die Prognose wagen, dass sich die katholische Kirche immer mehr als Volkskirche verabschiedet. Sie ist und bleibt der Hort eines weltfremden Klerus, der sich einen Deut um die Gläubigen schert. Glaube als l’art pour l’art. Als Selbstzweck zur Kultivierung religiöser Riten und Gefühle für eine kleine Elite. Während sich die Welt rasend vorwärts bewegt, schreiten die Herren in ihren scharlachroten Talaren tapfer zurück Richtung Mittelalter. Da die ganze Welt gebannt hinschaut, fühlen sie sich in ihrem Tun noch bestätigt. Nach dem Motto: Lieber in Würde untergehen als die hehren Prinzipien aufzugeben.

Rechtsextremismus im Sektenmilieu

Hugo Stamm am Mittwoch den 16. Januar 2013
Unterschrieb juristische Schriften mit «Heil Hitler»: Die deutsche, mit einem befristeten Berufsverbot belegte Rechtsanwältin und Holocaust-Leugnerin Sylvia Stolz. (20. März 2007) Bild: Keystone

Unterschrieb juristische Schriften mit «Heil Hitler»: Die deutsche, mit einem befristeten Berufsverbot belegte Rechtsanwältin und Holocaust-Leugnerin Sylvia Stolz. (20. März 2007) Bild: Keystone

Sektenhafte Gruppen anerkennen nur Gott oder ihren Guru als glaubwürdige Autorität. Viele misstrauen dem Staat und mächtigen Institutionen, weil sie in ihen säkularisierte Machtgebilde sehen, die gegen ihre Ziele arbeiten. Ausserdem fühlen sich problematische Bewegungen marginalisiert oder gar ausgegrenzt. Das fördert ihr Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Ausserdem sind readikale Gruppen oft traditionsgebunden und halten an überkommenen Traditionen fest. Das führt gern zur Entfremdung. Deshalb überrascht es nicht, dass sektenhafte Gruppen oft im rechten Milieu zu finden sind. Das Beispiel der Anti-Zensur-Koalition von Ivo Sasek verdeutlicht die These.

Ivo Sasek aus Walzenhausen AR, Gründer der christlichen Sekte Organische Christus-Generation, ist ein Freund verfemter Personen mit einem Missionsdrang. Um ihnen ein Podium zu bieten, hat er vor knapp zehn Jahren die umstrittene Organisation Anti-Zensur-Koalition (AZK) gegründet. Seither lädt er jährlich Antisemiten, Sektenführer, Verschwörungstheoretiker und Impfgegner ein, um «Wahrheiten» zu verkünden, welche die Medien unterdrückten.

Beim jüngsten Treffen in der Stadthalle Chur, an dem gegen 2000 Gäste teilnahmen, setzte der 56-jährige Sasek noch einen drauf: Er lud die deutsche Rechtsanwältin und Holocaust-Leugnerin Sylvia Stolz ein, die das Publikum aufforderte, Nazis kennen zu lernen, um sich ein eigenes Bild von diesen für sie offensichtlich wertvollen Menschen zu machen. Der Holocaust könne nicht gerichtlich bewiesen werden, dazu fehlten die Leichen, die Spuren der Täter und die Waffen, sagte Stolz in Chur. Sasek dankte der Referentin mit tränenerstickter Stimme und bezeichnete sie als Frau mit dem Mut eines Löwen.

Veranstaltung geheim gehalten

Speziell war auch die Mobilisierung für die Veranstaltung. Da Sasek bei früheren Treffen ins Visier der Medien geraten war, hielt er diesmal den Veranstaltungsort geheim und lud die Besucher handverlesen ein. In diesen Tagen wurden die Referate ins Internet gestellt, wie die «Südostschweiz» berichtete.

In seiner Begrüssungsansprache betonte Sasek, der von seinen rund 1500 Anhängern in der Schweiz und Deutschland als Prophet Gottes verehrt wird, dass die AZK in Chur ein hohes Ansehen geniesse, und er prangerte eine «Meinungsmanipulation» durch die Medien an. Seine Organisation bezeichnet er als Europas grösste Plattform für unzensurierte Information. Ziel sei es, das Volk zu erwecken, damit es zum Lichtträger und Kampftrupp der Wahrheit werde. «Ich bin stark durch die Wahrheit», rief er und forderte das Publikum auf, den Leitspruch im Sprechchor zu wiederholen.

Rechtsextreme verteidigt

Höhepunkt der Veranstaltung war der Auftritt der Nationalsozialistin Sylvia Stolz. Die 49-jährige Deutsche ist die Lebenspartnerin von Horst Mahler, dem früheren RAF-Anwalt und heutigen Holocaust-Leugner. Stolz verteidigte immer wieder Rechtsextreme, so auch Mahler, der einst wegen Zeigens des Hitlergrusses angeklagt war. Manchmal unterschrieb sie juristische Schriften mit «Heil Hitler», wie verschiedene Quellen besagen.

Bei der Verteidigung des Holocaust-Leugners Ernst Zündel drohte sie den beiden Gerichtsschöffen die Todesstrafe wegen Volksverleumdung und Feindbegünstigung an. Das wäre natürlich erst möglich, wenn die BRD wieder eine «Reichsmacht» würde, wie sie es sich erhofft. In Chur sagte sie dann auch: «Die Zeiten sind vorbei, dass sich das deutsche Volk unterdrücken lässt.» Weil sich Stolz damals gegen die Anordnung des Gerichts widersetzt hatte, trugen Polizisten sie aus dem Gerichtssaal. Später wurde sie wegen Volksverhetzung verurteilt und verlor das Anwaltspatent.

Begeistertes Publikum

Sylvia Stolz genoss den Auftritt in Chur sichtlich, denn in Deutschland ist die Luft für sie dünn geworden. Um das schweizerische Rassismusgesetz zu umschiffen, packte sie ihre politischen Ansichten in ein juristisches Konstrukt. Das Publikum in der Stadthalle bedankte sich schliesslich mit einem enthusiastischen Applaus.

Marcel Alexander Niggli, Professor für Strafrecht an der Uni Freiburg und Experte für Rechtsextremismus, lässt die Ansicht von Stolz nicht gelten. Es gebe mehrere gross angelegte gerichtliche Beweisverfahren, in denen auch forensisch nachgewiesen worden sei, dass der Holocaust stattgefunden habe. Die Vernichtung der Juden zum Beispiel in Auschwitz sei gerichtlich festgestellt.Wer dies infrage stelle, liege falsch und argumentiere wider besseres Wissen. Somit leugne Stolz laut Niggli zumindest indirekt den Holocaust, und es sei der Anfangsverdacht gegeben, dass sie die Rassismusnorm verletzt habe. Seines Erachtens muss die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Stolz und gegebenenfalls den Veranstalter eröffnen.

Zweifelhafte Referenten

Es ist nicht das erste Mal, dass Sasek Referenten aus dem rechten Lager eingeladen hat. Vor zwei Jahren trat der deutsche Publizist Michael Vogt auf und referierte zum Thema «Geheimakte Hess». Dabei versuchte er, die Rolle von Hitler und seinem Stellvertreter Rudolf Hess zu beschönigen. Hess sei 1941 nach England geflogen, um Friedensgespräche zu führen, behauptete Vogt damals. Es gebe Indizien, dass Hitler diese Friedensaktion initiiert habe.

Ein Jahr zuvor hatte Ivo Sasek den Schweizer Holocaust-Leugner Bernhard Schaub nach St. Gallen in die Olma-Halle eingeladen und ihm hinterher zur mutigen Rede, die rechtsextremes Gedankengut enthielt, gratuliert. Schaub war 2007 vom Bezirksgericht Dornach SO wegen Verstosses gegen die Rassismusnorm verurteilt worden. Und 2009 trat Jürg Stettler an der AZK-Konferenz auf. Der Präsident von Scientology Schweiz und Pressesprecher der Sekte in Deutschland geisselte damals vor allem die Medien.

Musizierende Kinder

Offenbar ist es für Ivo Sasek nicht leicht, einen Saal für seine Veranstaltungen zu finden. Frühere Vermieter wollten sich nicht äussern, weil sie befürchten, von AZK-Aktivisten bedrängt oder juristisch belangt zu werden. Von der Stadthalle Chur war am Dienstag niemand erreichbar.

An den Veranstaltungen treten jeweils auch die 11 Kinder von Sasek musizierend auf. Der Sektengründer geriet immer wieder in die Schlagzeilen, weil er in einer Broschüre geschrieben hatte, wer seine Kinder liebe, züchtige sie mit der Rute.

Warum sollte Jesus nicht verheiratet gewesen sein?

Hugo Stamm am Donnerstag den 27. September 2012

Vielleicht war sie seine Angetraute: Maria Magdalena und Jesus (ein Gemälde von Alexander Andreyevich Ivanov, 1835, Tretyakov-Galerie, Moskau).

Wie hielt es Jesus mit den Frauen? Der durchschnittliche Christ, der einzig im Religionsunterricht religiöse sozialisiert worden ist, zuckt wohl mit den Schultern. Einer belesenen Person dürfte allenfalls noch Maria Magdalena in den Sinn kommen, die offenbar eine Vertraute von Jesus war. Dass das Verhältnis ein rein platonisches war, davon geht der Durchschnittsgläubige aus. Sexuelle Bedürfnisse, geschweige denn Begierden, passen nicht zu einem Sohn Gottes.

Doch war Jesus tatsächlich ein asexuelles Wesen? Oder haben die Evangelisten das Thema ausgeklammert, weil es nicht in ihr Bild vom reinen Sohn Gottes passte, der unbefleckt gezeugt worden war? Ist diese Lücke ein politisches Kalkül der urchristlichen Schriftgelehrten, die die kanonischen Schriften selektiv zur Bibel zusammenbauten?

Die Frage beschäftigt Gläubige seit eh. Dan Brown stellt uns in seinem Bestseller «Sakrileg» Jesus als Ehemann von Maria Magdalena und Sarah als seine Tochter vor. Ähnlich wie Martin Scorseses in seinem Film «Die letzte Versuchung Christi».

Für die katholische Kirche wäre die Vorstellung von Jesus als Ehemann und Vater eine Katastrophe. Wieso sollten die Geistlichen zölibatär leben, wenn ihr Sohn Gottes ein Familienleben führte? Und: Wie liessen sich weiterhin Frauen vom Priesteramt ausschliessen, wenn historisch erwiesen wäre, dass Jesus verheiratet war?

Ein neues Dokument nährt nun die Vermutung, dass Jesus tatsächlich verheiratet war. Die Historikerin Karen King von der Harvard-Universität, die auf das frühe Christentum spezialisiert ist, hat einen kleinen verrotteten Papyrus-Fund analysiert. Darauf steht: «Jesus sagte zu ihnen: Meine Frau…» Bei der Frau handelt es sich vermutlich um Maria Magdalena. Damit stützt Karen King die Aussagen im Philippus-Evangelium, in dem berichtet wird, Jesus habe seine Gefährtin Maria geküsst. Nur wird dieses Evangelium von der katholischen Kirche nicht anerkannt.

Es ist tatsächlich auffällig, dass im Neuen Testament die Frage offen bleibt, wie Jesus es mit den Frauen hatte. Ein Hinweis mehr dafür, dass hinter das Neue Testament grosse Fragezeichen gesetzt werden muss: Wurde es aus taktischen Gründen so «frisiert» und zusammengesetzt, dass es den Dogmen der urchristlichen Kirchenväter entsprach? Gilt das auch für die unbefleckte Empfängnis, die Kreuzigung und die Auferstehung? Das alles sind zentrale Ereignisse, die sich historisch nicht nachweisen lassen.

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Religiöse Empfindungen stammen vom Hirn

Hugo Stamm am Montag den 30. Juli 2012

Der folgende Text ist ein Auszug aus einer Buchbesprechung meines Redaktionskollegen Jean-Martin Büttner.

Wenn das Gehirn ein Flugsimulator wäre, wäre der Pilot gleich mitkonstruiert: Skulptur von Jan Fabre. (Keystone)

Wenn das Gehirn ein Flugsimulator wäre, wäre der Pilot gleich mitkonstruiert: Skulptur von Jan Fabre. (Keystone)

Was macht das Bewusstsein aus? Die Erkenntnisse der Hirnforschung legen eine neue, radikale Antwort nahe. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger hat in seinem Buch «Der Ego-Tunnel» (Berlin-Verlag) ein neues Modell des Bewusstseins formuliert. Es kommt ohne Seele und ohne Selbst aus – aber nicht ohne Ethik. Mit seiner Hilfe lässt sich immer genauer messen, welche Hirnregionen für welche Regungen, Gefühle, Reaktionen und Wahrnehmungen zuständig sind. Und wie das Gehirn diese einprasselnden Reize der Innen- und Aussenwelt aufnimmt, filtert und zu Reaktionen bündelt. Wie kommt es, dass wir uns als jemand fühlen, eine Identität von uns selbst haben? Wie entsteht der «unhintergehbare Eindruck hinter den Augen», wie er es einmal nannte?

Wir sind eine Rechenleistung

Die abendländische Philosophie verstand das Selbst oft als Substanz, von den Religionen als Seele beschrieben, die über den Tod des Menschen weiter besteht. Die neuen Bewusstseinsforscher glauben das nicht mehr. Das Bewusstsein, sagt Metzinger, sei ein Prozess, ein Konstrukt, man könnte in Anlehnung an die Computertechnik auch sagen: eine Rechenleistung, eine Art virtuelle Realität. Oder darwinistisch formuliert: Das Selbstbewusstsein entstand als Teil der Benutzeroberfläche eines Gehirns, das sich im Laufe der Evolution dermassen komplex entwickelte, dass es ein virtuelles Zentrum brauchte. Nur auf diese Weise liess sich diese Komplexität so weit vereinfachen, dass der Mensch sich als jemanden wahrnehmen kann: als Selbst.

Nur existiert dieses Selbst nicht, sagt Metzinger, es ist eine subjektive Erscheinung, die der Mensch von sich hat, in seinen Worten: ein «phänomenales Selbstmodell». Diese innere Wirklichkeit kann der Mensch nicht als Modell erleben. Das erst macht es für ihn möglich, als Individuum zu funktionieren. Metzinger nennt diese subjektive Innenwelt den «Ego-Tunnel».

Zur Illusion eines Selbst gehört nicht nur die Wahrnehmung des eigenen Körpers, sondern auch der Aussenwelt. Diese Wahrnehmung wird von den Sinnesorganen als Gesamtbild vermittelt. Doch sind auch diese Bilder nicht real, sondern eine Simulation unseres Gehirns. Was wir zum Beispiel als Farbe erkennen, sind in Wirklichkeit elektromagnetische Wellen. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, entsteht erst in uns selbst. Unser bewusstes Modell der Wirklichkeit, schreibt Metzinger, sei eine Projektion «der unvorstellbar reicheren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt». Deshalb sei das bewusste Erleben «weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit. Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.»

Der virtuelle Pilot im Hirn

Diese Erkenntnis formulierte der Buddhismus schon vor 2500 Jahren. Metzinger fasst sie in die Metapher des Flugsimulators, in dem ein Pilot sitzt, der die Flugbahn und das Rütteln der Flugmaschine für echt hält – und sich für den Piloten. Im Gehirn aber wird der Pilot sozusagen gleich mitkonstruiert, er ist das Bild, das das Flugzeug von seinen eigenen Kontrollvorgängen besitzt, aber nicht als solches erkennt. Nur deshalb kann das Flugzeug gesteuert werden, auch wenn sowohl der Pilot wie der Himmel vor ihm virtuell konstruiert sind.

Metaphern erklären zwar, aber sie belegen nicht. Belege liefern kann nur die Hirnforschung. Um aber wirklich zu verstehen, wie die Virtualität des Bewusstseins funktioniert, müsste sie direkt erfahrbar werden. Dabei helfen psychologische Experimente, die erst heute, dank den neusten Erkenntnissen der Neurowissenschaften, richtig eingeordnet werden können. Berühmt geworden ist das Experiment mit der Gummihand, die vor der Versuchsperson auf dem Tisch liegt, während sie ihren Arm unter dem Tisch hält. Werden sowohl die Hand wie auch die Gummihand im gleichen Rhythmus gestreichelt, nimmt die Versuchsperson nach kurzer Zeit Letztere als Teil ihres Körpers wahr und spürt sogar die Berührung in der Gummihand. Anders gesagt: Das virtuelle Körperbild bestimmt, was als Körper wahrgenommen wird.

Wie ist der Philosoph überhaupt auf den Verdacht gekommen, das Selbst sei ein Konstrukt? Metzinger berichtet von ausserkörperlichen Erfahrungen, die er schon mit jungen Jahren hatte und die von vielen Menschen erfahren werden, etwa bei Nahtod-Erlebnissen, heftigen Stress-Situationen oder beim Aufwachen aus der Narkose. Dabei kommt es zur Erfahrung, dass man seinen eigenen Körper verlässt und ihn von aussen betrachtet. Solche ausserkörperlichen Erfahrungen hätten wohl nichts mit einer Seele zu tun, die den Körper verlässt, schreibt der Philosoph. Sondern der schwebende Körper über dem daliegenden, realen Körper errechne sich «aus reiner Information, die im Gehirn fliesst», sie sei der Stoff, aus dem das Selbstmodell gemacht ist.

Wie die neuere Hirnforschung zeigt, lassen sich sehr ähnliche Erlebnisse auch durch gezielte Aktivierung im Gehirn provozieren. Das Gefühl, jemand zu sein, einen Körper zu haben und sich mit ihm zu identifizieren, lässt sich sogar auf einen virtuellen Körper übertragen, der im Computer erzeugt wird. Selbst quasi-religiöse Gefühle können bereits durch elektrische Stimulationen erzeugt werden. «Gott ist eine Substanz», notierte Gottfried Benn. Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften lassen vermuten: Das religiöse Erleben ist auch ein Zustand im Gehirn.

Aufklärung 2.0

Daraus ergeben sich weitreichende Implikationen, die Metzinger als Gefahr und Chance analysiert. Die Gefahr besteht für ihn darin, dass die Religiosität von einem materialistischen Denken abgelöst werden könnte, das alleine von den Naturwissenschaften bestimmt wird. Die Entzauberung des Selbst könnte die gesellschaftliche Entsolidarisierung oder den religiösen Fundamentalismus verstärken. Viele Menschen klammerten sich an ihre Glaubenssysteme und hätten Angst, «ihre innere Lebenswelt könnte durch die neuen Naturwissenschaften vom menschlichen Geist kolonisiert werden.»

Dennoch plädiert der Philosoph dafür, die neuen Erkenntnisse über das Bewusstsein auszuhalten und einen offenen und kreativen Umgang damit zu suchen. Die Bewusstseinsrevolution, die Metzinger auch als «Aufklärung 2.0» beschreibt, verlange nach einer neuen moralischen Verantwortung. Die Forscher müssten sich mit der Leere auseinandersetzen, die durch ihre Resultate unweigerlich entstehe. Für den Philosophen drängt sich deshalb eine neue Ethik des Bewusstseins auf. Diese hält er schon deshalb für nötig, weil die Forschung es künftig leichter machen wird, unser Bewusstsein anders einzustellen und zu manipulieren.

Maya-Kalender: Die Welt geht nur im Kopf unter

Hugo Stamm am Mittwoch den 30. Mai 2012
Fasziniert die Menschheit seit je: Die Apokalypse. Sie liefert auch einen schier unerschöpflichen Stoff für spektakuläre Filme (im Bild: Ausschnitt aus «2012»). Bild: PD / Sony Pictures

Fasziniert die Menschheit seit je: Die Apokalypse. Sie liefert auch einen schier unerschöpflichen Stoff für spektakuläre Filme (im Bild: Ausschnitt aus «2012»). (Bild: PD / Sony Pictures)

In diesen Tagen erschien mein neues Buch über den Maya-Kalender und andere Endzeitphänomene. Aus diesem Anlass schrieb ich im TA folgenden Artikel:

Am 21. Dezember läuft der Maya-Kalender aus. Apokalyptiker und Esoteriker prophezeien den Weltuntergang. Unser Autor Hugo Stamm – er hat soeben ein Buch zum Thema verfasst – wettet dagegen.

Das Wort Apokalypse hat einen besonderen Klang. Es löst Assoziationen aus, man erinnert sich an schaurige Szenen aus der Bibel, Untergangsbilder und Endzeitfilme. Sie alle haben sich tief in unser Unterbewusstes gebrannt.

Zu diesen Vorstellungen kommen die realen Nachrichten von Naturkatastrophen und Kriegen hinzu. Auch sie sind Sinnbilder für den Weltuntergang, wie er uns in der Johannes-Offenbarung drastisch prophezeit wird.

Dass uns apokalyptische Szenarien gleichzeitig erschaudern und faszinieren, hat aber auch damit zu tun, dass die Endzeit täglich stattfindet – sie ist unser Begleiter. Krankheiten, Unfälle, psychische Einbrüche und der Tod eines nahen Menschen lösen Urängste aus. Der eigene Tod ist die totale Apokalypse.Kein Wunder also wecken Endzeitszenarien breites Interesse. Ihren Propheten ist ein stattliches Publikum gewiss – so auch in diesem Jahr: Nachdem der Welt vor rund 12 Jahren trotz entsprechender Prophezeiungen (Sonnenfinsternis am 11. August 1999, Bedrohung durch die nukleare Saturnsonde Cassini, Jahrtausendwende) die Apokalypse erspart geblieben war, annonciert in diesem Jahr der Maya-Kalender das Ende. Der Kalender läuft am 21. Dezember aus.

«Jedes Leben wird ausgelöscht»

«2012 geht unsere schöne Welt endgültig unter. Jedes Leben wird ausgelöscht.» Mit dramatischer Stimme verkündet der Sprecher im Video «Weltuntergang 21. 12. 2012. Der Maya-Kalender» das Ende der Zeit. Sogar die Nasa erforsche dieses Szenario, verheimliche aber die Ergebnisse, wird behauptet.

Hunderttausende haben sich das Video auf dem Internet angesehen. Auch Hollywood hat die Brisanz des Themas früh erkannt und 2009 einen monumentalen Untergangsfilm mit dem schlichten Titel «2012» in die Kinos gebracht. Mit Erfolg: Der Thriller von Starregisseur Roland Emmerich spielte in wenigen Wochen Hunderte Millionen Dollar ein.

Was aber hat nun der Maya-Kalender mit der drohenden Endzeit zu tun? Das indigene Volk aus Zentralamerika kannte rund 20 verschiedene Kalender. Der für die Zeitmessung wichtigste läuft am 21. Dezember 2012 aus. Das Datum elektrisiert esoterische und apokalyptische Kreise. Sie verehren die Maya-Priester als Seher und spirituelle Meister. Das Maya-Volk lebte von ungefähr 3000 vor bis 900 nach Christus vorwiegend in Guatemala, Mexiko und Belize und war mit mathematischen und astronomischen Phänomenen vertraut.

Bolon Yokte steigt vom Himmel

Um die Maya ranken sich seit je Mythen und Legenden. Als die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert durch die Urwälder der Halbinsel Yucatán streiften, stiessen sie auf mächtige Pyramiden, verfallene Paläste, Tempel und überwucherte Ritualplätze. Dabei entdeckten sie Bücher und auf Steinplatten gravierte Inschriften, deren Bildsprache sie nicht verstanden.

Die Konquistadoren und später die Missionare zerstörten die meisten schriftlichen Zeugnisse der «Heiden». Übrig blieben lediglich vier Bilderhandschriften, sogenannte Codizes, aus Feigenbaumrinde mit nicht einmal 200 Seiten. Die rudimentäre Quellenlage sowie der Status der Maya als sagenhafte und gleichzeitig sehr kundige Kultur lassen erstens viel Raum für Spekulationen – und machen die Maya zweitens zur Projektionsfläche für esoterische Sehnsüchte aller Art.Die Endzeittheoretiker stützen sich neben dem auslaufenden Kalender insbesondere auf eine stark verwitterte Inschrift aus Tortuguero in Mexiko. Diese Inschrift, Monument Six genannt, wurde vor rund 50 Jahren beim Bau einer Autobahn gefunden. Sie erwähnt das Jahr 2012. Und sie enthält den Satz: «Er wird vom Himmel heruntersteigen.» Da die Hieroglypheninschrift an anderer Stelle den Gott Bolon Yokte erwähnt, kombinieren die Apokalyptiker, dass Bolon Yokte am 21. Dezember auf die Erde herabsteigen wird. Gleichzeitig zeigt ein Bild in einem der Maya-Bücher ein Monster, das Wasser auf die Erde speit. Das passt: Ein vom Himmel steigender Gott und eine Sintflut sind die Mutter aller apokalyptischen Metaphern.Obwohl die Daten- und Quellenlage dürftig ist, besteht für die Endzeittheoretiker kein Zweifel, dass die Maya das Ende der Zeit vorausgesagt haben. In Anbetracht ihrer seherischen Gaben hätten die Prophezeiungen der Maya eine andere Qualität als vergangene Weltuntergangszenarien.

Doch deutet der auslaufende Maya-Kalender tatsächlich auf das Weltende hin? Der mexikanische Archäologe Guillermo Bernal erteilt den Apokalyptikern eine Absage: «Die Apokalypse ist ein sehr westliches, christliches Konzept, das auf die Maya projiziert wird.» Auch Maya-Experte David Stuart von der Universität von Texas bestätigt: «Die Maya sprachen nie davon, dass die Welt zu Ende gehen würde, sie sagten nie, dass notwendigerweise irgendetwas Schlimmes geschehen würde. Sie halten auf Monument Six lediglich diesen künftigen Jahrestag fest.» Ethnologen und Archäologen sind einhellig der Meinung, dass die Maya keine Endzeitvorstellungen hatten.

Der Anfang der Zeit

Der 21. Dezember 2012 hatte für die Maya keine besondere spirituelle Bedeutung. Ursprünglich wollten sie den Anfang der Zeit festlegen und rechneten Milliarden von Jahre zurück. Erfolglos mussten sie das Unterfangen aufgeben. Deshalb legten sie den Beginn ihrer Zeitrechnung willkürlich fest und definierten Epochen von rund 400 Jahren. Der jüngste Zyklus läuft am 21. Dezember aus. Danach beginnt eine neue Epoche.

Den Vorgang kennen wir aus unserem eigenen, gregorianischen Kalender: 1999/2000 ging die Welt trotz apokalyptischen Prophezeiungen nicht unter; es begann lediglich ein neues Jahrtausend. Was die Endzeitprognostiker auch übersehen: Der Gott Bolon Yokte, der vom Himmel steigen soll, ist nicht nur der Zerstörer; er ist auch der Gott der Schöpfung.Auffällig ist weiter, dass die Nachfahren der Maya, die heute nach dem gregorianischen Kalender leben, kaum Interesse am ominösen Datum vom 21. Dezember haben. Die meisten leben in ärmlichen Verhältnissen und wissen wenig von ihren Urahnen. José Huchim, Archäologe aus Yucatán, sagt, die Maya-Nachfahren würden den Kopf schütteln, wenn er ihnen von den Endzeit-Spekulationen in der westlichen Welt berichte: «Wir haben derzeit richtige Sorgen, zum Beispiel fehlender Regen.»

Bleibt die Frage, was es mit den kosmischen Endzeitzeichen auf sich hat, die sich im Dezember am Himmel abzeichnen sollen. Das Untergangsszenario der Apokalyptiker besagt, dass Planet Nibiru, auch Planet X genannt, Ende Jahr die Erde tangieren und eine apokalyptische Katastrophe anrichten soll. Nibiru lasse die Erdachse kippen und bewirke einen Polsprung, wird in vielen Büchern und auf Internetplattformen behauptet. Ausserdem würden Flutwellen weite Küstenstriche ausradieren und bis ins Schweizer Mittelland vordringen. Prophezeit werden auch Erdbeben der Stärke 15 auf der Richterskala, die viele Städte dem Erdboden gleichmachten, sowie eine Wolke aus vulkanischem Staub, die den Himmel für Jahrzehnte verdunkle.

Die Katastrophen raffen laut Nancy Lieder 95 Prozent der Menschheit dahin. Die amerikanische Esoterikerin ist die Wortführerin beim Thema Maya-Kalender. Die restlichen fünf Prozent würden sich durch kannibalische Attacken das nachapokalyptische Leben noch schwerer machen.

Zentrum der Milchstrasse

Behauptet wird überdies, die Achse Sonne-Erde zeige am 21. Dezember 2012 genau ins Zentrum der Milchstrasse, was sich nur alle 25 800 Jahre ereigne. Astronomen widersprechen dieser Aussage einhellig. Ausserdem stellt sich die Frage: Was soll eine solche Konstellation mit der Endzeit zu tun haben?

Weiter prophezeien Esoteriker zum Ende dieses Jahres Sonnenstürme mit katastrophalen Auswirkungen. Das Phänomen der Sonnenstürme ist zwar bekannt und ereignet sich regelmässig, doch kann es laut Experten das Leben auf der Erde nicht gefährden.

Am 22. Dezember wird sich die Erde mit all ihren Bewohnern so drehen, wie sie sich bereits am 21. und am 20. und am 19. gedreht hat: so wie immer. Zurück bleiben werden viele Medienberichte und ein metaphysisches Gruseln ihrer Konsumenten. Sowie die Aussicht, dass Apokalyptiker und Seher bestimmt bald nach einem neuen Endzeitdatum Ausschau halten werden.

Eines besteht bereits, geschaffen von jenen Archäologen, die behaupten, bei der Abgleichung des Maya-Kalenders mit unserer Zeitrechnung habe sich ein Fehler eingeschlichen. In Wirklichkeit laufe der Maya-Kalender erst in 200 Jahren aus.

Hugo Stamms neues Buch

In diesen Tagen erscheint ein neues Buch von TA-Redaktor Hugo Stamm. Sein Titel: «Im Bann des Maya-Kalenders – Endzeithysterie in Sekten und Esoterik». Der obige Artikel stützt sich auf die Recherchen zu diesem Buch. Letzteres thematisiert aber nicht nur die Endzeitideen rund um den Maya-Kalender und die Spekulationen esoterischer und apokalyptischer Kreise. Überdies werden im Buch Endzeitgruppen porträtiert, die apokalyptische Ereignisse prophezeit oder gar inszeniert hatten. Dazu gehören die Volkstempler-Sekte des amerikanischen Pastors Jim Jones (über 900 Tote), die japanische Aum-Sekte von Shoko Asahara (12 Tote, über 1000 Verletzte) oder die Sonnentempler des Gurus Jo Di Mambro (74 Tote). (TA)

Hugo Stamm: Im Bann des Maya-Kalenders. Güthersloher Verlagshaus. Ca. 29 Fr.

Zorniger Brief an Gott

Hugo Stamm am Montag den 21. Mai 2012
Dicke Post: Paulus schreibt einen seiner Briefe.

Dicke Post: Paulus schreibt einen seiner Briefe.

Olga Ohlsson, Schülerin des Gymnasiums Eppendorf in Hamburg, hat einen Text verfasst, der im «Hamburger Abendblatt» veröffentlicht wurde und im Internet hohe Wellen geschlagen hat.

Ich gebe ihn hier gekürzt und mit Zwischenbemerkungen versehen wider:

Lieber Herr Gott,

immer soll man Toleranz zeigen, als Atheist. Immer soll man sich anpassen, als Atheist. Immer soll man dir zustimmen, als Atheist. Aber nie werden wir gefragt, was wir wollen, wir Atheisten.

Es brauche Mut, den Satz «Ich glaube nicht an Gott» auszusprechen, schreibt die Schülerin weiter, denn nirgendwo stosse man damit auf Verständnis. Sofort bekomme man von allen Seiten Spott und müsse sich anhören, was für eine Sünde es sei, nicht an Sie, Herr Gott, den Erschaffer der Welt, zu glauben. Das sei ähnlich, als würde man sagen, «ich bin schwul». Man oute sich in den meisten Gesellschaften einfach mit so etwas nicht.

Die zweite Frage ist dann sofort: «Warum glaubst du denn nicht an Gott, den Allmächtigen?» Blöde Frage. Einfache Antwort: Ich glaube nicht an Sie, Herr Gott, weil ich mir mein Leben nicht von jemandem vorschreiben lassen möchte, von dem nicht mal bewiesen ist, dass er überhaupt mal gelebt hat. Ich will der Herr über mein eigenes Leben sein.

Ich möchte nicht fünf Kinder oder Aids bekommen, weil ich mein Leben lang strikt nach den zehn Geboten und dem Papst gelebt habe und deswegen kein Kondom benutzt habe. Ich möchte im Leben Spaß haben und auch mal Unüberlegtes tun. Ich will Sex vor der Ehe, und das nicht nur mit einem Mann. Vielleicht auch mal mit einer Frau? Na und?

Was die Toleranz betreffe, habe sie schliesslich auch kein Problem mit Gläubigen, schreibt Olga Ohlsson weiter. Auch nicht damit, dass gläubige Menschen so verbohrt seien und meinten, dass das, was sie sagten, richtig sei und nichts anderes. Dass sie die einzig Richtigen seien und das einzig Richtige tun würden.

Aber Sie tun nicht das Richtige, Herr Gott. Immer sollen wir als Ungläubige, als Atheisten die Gläubigen um uns herum akzeptieren und tolerieren und ja den Mund halten. Wir akzeptieren die Gläubigen ja auch, aber sie akzeptieren uns nicht.

Sie sollen doch mal darüber nachdenken, wie wir sind und wie wir uns bei ihren Angriffen fühlen, aber das ist ihnen egal. Sie sind egoistisch geworden. Durch Sie, Herr Gott! Sie mögen keine Atheisten. Und deswegen mögen uns Ihre Anhänger auch nicht.

Das Wort Gottes stünde schon in der Bibel, schreibt die Schülerin weiter.

Alle, die mir folgen, werden gesegnet und kommen in den Himmel und haben Glück bis an ihr Lebensende und blablabla. Doch wenn wir die Seite umblättern, dann ist all der Zorn zu finden, den Sie uns entgegenbringen. Uns, die Ihnen nicht Folge leisten.

In der Bibel stünden Dinge wie: Wer mir nicht folgt, der kann sich auf etwas gefasst machen, der wird sein Leben lang nicht mehr glücklich und kommt in die Hölle.

Nicht nett, Herr Gott. Wenn Sie uns nicht mögen, ist das nicht so schlimm. Aber ich habe keine Lust mehr, die Gläubigen zu tolerieren und mich vor ihnen zu rechtfertigen, denn eigentlich müssten sich die Gläubigen vor mir rechtfertigen.

Solange sie jemand beschimpfe, weil sie Atheistin sei, werde sie zurückschimpfen.

Viele Grüsse von einer Atheistin, die es leid ist, von allen unverstanden zu sein, und nur akzeptiert und toleriert werden will.

Die Unvernunft des Glaubens

Hugo Stamm am Samstag den 12. Mai 2012

Der folgende Impulstext stammt von Ruedi Schmid (Optimus). Vielen Dank.

Ein Mann lässt sich in den Phillipinen ans Kreuz nageln. (Keystone)

Die individuelle Wahrheitsvorstellung hat nichts mit Vernunft zu tun: Ein Mann lässt sich in den Phillipinen ans Kreuz nageln. (Keystone)

Die Unvernunft des Glaubens wird meist mit Dummheit begründet, aber wenn gebildete und erfolgreiche Menschen durch den Glauben ihre Vernunft verlieren, entsteht Fassungslosigkeit. Warum zum Beispiel Tom Cruise fanatischer Scientology-Anhänger sein kann oder warum Atta, der ins World Trade Center geflogen ist, trotz Uni-Abschluss zum grausamen Selbstmordattentäter werden konnte, bedarf einer Erklärung, sonst geht der Glaube an die Menschheit verloren.

Glauben bedeutet «etwas für wahr halten» und beruht auf einer Wahrscheinlichkeitsvermutung. Wenn man dabei Überirdisches zulässt, sind der Unvernunft keine Grenzen gesetzt, was Sekten und al-Qaida mehr als deutlich bestätigen. Das Unverständliche dabei ist aber, wie daraus eine derart starke Wahrheitsüberzeugung entstehen kann, so dass der vernünftige Menschenverstand versagt. Da das keine Einzelfälle sind und auch Glaubensauseinandersetzungen darauf begründen, scheint die Ursache eine menschliche Veranlagung zu sein. Diesem Problem geht meist eine religiöse Beeinflussung voraus, die sich zu einer Wahrheitsvorstellung radikalisiert, was die Vernunft beeinträchtigt.

Beeinflussung
Diese ist hauptsächlich Charaktersache und beruht vermutlich auf der Erziehung zum Gehorsam, weil dabei Gedankenlosigkeit belohnt und Hinterfragen bestraft wird. Das ist aber ein Thema für sich und wird hier nur vollständigkeitshalber erwähnt.

Wahrheitsvorstellung
Leben ist nur unter der Vorstellung einer realen Welt möglich, indem man alles, was man fühlt, erlebt und wahrnimmt, als reale Wahrheit empfindet. Auch unser Selbstbewusstsein setzt eine solche reale Wahrheitsvorstellung voraus. Diese reale Wahrheitsvorstellung ist aber nur eingebildet und selbst konstruiert, denn alle Wahrnehmungen, Gefühle und Erlebnisse sind subjektiv und münden in einer individuellen Wahrheitsvorstellung, die sich nach der Beschaffenheit des Anschauungsvermögens richtet.

Reine Vernunft
Kant bezeichnete die Vernunft, welche rein gedanklich ist und nicht auf praktischer (empirischer) Erfahrung beruht, als «reine Vernunft», und sein berühmtes Werk «Kritik der reinen Vernunft» ist eine ausführliche Analyse davon. Dabei kam er zum Schluss, dass reine Vernunft selbstkonstruiert und eingebildet ist und dass jeder Versuch, Wahrheitserkenntnisse durch reine Vernunft zu gewinnen, wie z. B. über Gott, ewiges Leben oder Freiheit, notwendig im transzendentalen Schein endet. Heute weiss man, dass jede Erkenntnis an die Sinneserfahrung gebunden ist und dass im Gehirn keine genetische Quelle vorhanden ist, die Wahrheitserkenntnisse liefern kann. Dadurch ist jede Wahrheitsvorstellung der reinen Vernunft ein eingebildetes Paradoxon, das durch die Verstrickung von Gedanken in einem selbstbezüglichen System entsteht.

Dank diesem eingebildeten Paradoxon gelingt es uns, unsere Umwelt zur Realität zu machen, aber dadurch wird auch Glauben zur Realität gemacht, und je mehr man sich damit gedanklich beschäftigt, desto mehr verstricken sich die Gedanken im selbstbezüglichen System und desto grösser wird die Wahrheitsüberzeugung. Deshalb ist es aussichtslos, mit Gläubigen über Wahrheit zu diskutieren.

Praktische Vernunft
Praktische Vernunft bezieht sich auf eine Handlung, welche sich auf Grund empirischer Erfahrung als praktisch erweist, wie zum Beispiel: Es ist vernünftig, das Glas nicht fallen zu lassen (weil es sonst zerbricht). Das zeigt deutlich, dass sich Vernunft nicht auf eine Wahrheit, sondern immer auf eine Handlung bezieht, die zu einer Wirkung führt, welche man vorhersagen und dementsprechend nach Vernunftkriterien beurteilen kann. Das Beispiel lässt auch erkennen, dass jeder Mensch im Alltag nach der praktischen Vernunft handeln muss, sonst wird sein Leben zum Scherbenhaufen.

Ausserhalb des Alltagsdenkens gewinnt die reine Vernunft des Glaubens an Bedeutung, und für Atta war es vernünftig, ins WTC zu fliegen, weil er sich von Allah dazu berufen fühlte und überzeugt war, dass er dafür mit dem Himmelsparadies belohnt wird. Dass das völlig unvernünftig ist, steht ausser Zweifel, aber was ist denn vernünftig? Was sind die Kriterien dafür? Zunächst fehlt bei Atta der empirische Erfahrungsnachweis bezüglich Allah und Himmelsparadies, und zudem sind die Auswirkungen unmenschlich. Was konkret vernünftig ist, darüber streiten sich die Gelehrten, aber betrachtet man als Kriterium die Verbesserung der Welt zum Wohle aller Menschen, dann gibt es nur noch egoistische Gegenargumente.

Kant hatte sich mit der praktischen Vernunft eingehend auseinandergesetzt, er betrachtete Ethik und Moral als wichtigste Kriterien, und sein berühmtes Werk «Kritik der praktischen Vernunft» basiert auf seiner «praktischen Philosophie», welche gutes Handeln und nicht Wahrheit zum Gegenstand hat, weil sich die Welt nur mit vernünftigem Handeln und nicht mit Wahrheit verbessern lässt. Wie folgendes Beispiel zeigt, kann Wahrheit sehr unvernünftig sein:

Wenn ein Pilot den Passagieren die Wahrheit sagt und damit eine voraussehbare Panik auslöst, die zum Absturz führt, dann ist das vorsätzliche Tötung. Nur was die Sicherheit erhöht und Menschenleben rettet, ist vernünftig. Darum steht in der Fliegerei Sicherheit über der Wahrheit und dem Recht (safety first). Dank dieser praktischen Vernunft konnte aus dem risikoreichsten Transportmittel das Sicherste gemacht werden, was zum Vorteil aller Menschen und darum vernünftig ist.

Um die Welt zu verbessern müsste man einfach vom Wahrheitsdenken auf praktisches Vernunftdenken umstellen. Das ist aber wegen der Gewohnheit kaum möglich und müsste bei der Erziehung beginnen, indem man den Kindern anstatt Gehorsam und Religionswahrheiten, praktische Vernunft beibringt. Als Erziehungsmethode wäre das auch vorteilhafter, denn praktische Vernunft führt durch Einsicht zum guten Charakter, weil gutes Tun zufriedener macht als schlechtes. Wenn das auch nur ein Hoffnungsschimmer sein mag, so hilft diese Lösungsidee wenigstens, den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren.